17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

Hans Natonek – Ein fast Vergessener

von Manfred Orlick

Der Leipziger Lehmstedt Verlag hat mit zwei Neuerscheinungen einen längst vergessenen Schriftsteller wieder ins Bewusstsein gerückt: Hans Natonek (1892-1963) war einer der bekanntesten Journalisten der Weimarer Republik, unter anderem von 1917 bis 1933 Redakteur und Feuilletonchef der Leipziger Zeitung und der Neuen Leipziger Zeitung (NLZ). Auch in anderen renommierten Zeitungen und Zeitschriften wie der Weltbühne oder dem Berliner Tageblatt publizierte er regelmäßig. In mehr als 2.000 Zeitungsartikeln hat Natonek dabei ein vielschichtiges Bild des politischen und kulturellen Lebens der Weimarer Republik gezeichnet. Darüber hinaus veröffentlichte er noch einige erfolgreiche Romane.
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 wurde Natonek aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht nur aus der Redaktion der NLZ entlassen sondern auch mit Berufsverbot belegt. 1934 emigrierte der Schriftsteller zunächst nach Prag, später nach Paris und dann 1940/41 über Marseille und Lissabon in die USA, wo er 1963 in Tucson, Arizona, starb.
Der Lehmstedt Verlag hatte bereits 2006 unter dem Titel „Im Geräusch der Zeit“ Natoneks gesammelte Publizistik der Weimarer Republik herausgebracht. Nun folgt mit „Letzter Tag in Europa“ der zweite Band, in dem der Emigrant Natonek zu Wort kommt. Reichlich hundert Texte versammelt die Auswahl 1933-1963, die sich vor allem auf politisch aktuelle Äußerungen aus dieser Zeit beschränkt. Novellen, Kurzgeschichten und Glossen hat Natonek in der Emigration ebenfalls geschrieben, die aber oft dem literarischen Geschmack des damaligen Lesepublikums geschuldet waren. Deshalb wurden aus dieser Kategorie nur die anspruchsvollsten Texte ausgewählt.
Mit einer für ihn typischen Mischung aus satirischem Spott, kritischer Schärfe, politischer Attacke und doch einfühlsamen Betrachten hat Natonek seine Zeit analysiert. Die Wiederentdeckung dieser Fundgrube bester und unterhaltsamer Publizistik, die es heute nur noch selten gibt, ist das große Verdienst der Leipziger Autorin Steffi Böttger. Zu dieser Edition wollte die Herausgeberin ein kurzes Vorwort schreiben, doch dann ergab sich die Notwendigkeit, das reichhaltige Material, das sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte, zu einer Biografie zu erweitern. Diese außergewöhnliche Lebensrekonstruktion „Für immer fremd“ verfolgt in zwölf Kapiteln Natoneks Leben von der Kindheit und Schulzeit in Prag bis zu seinen letzten Lebensjahren in Arizona.
Faktenreich beschreibt Böttger die einzelnen Lebensstationen, wobei sie bestimmte Aspekte besonders beleuchtet, so die „Tragödie der Familie“, als Natoneks Sohn Wolfgang aus erster Ehe, Wolfgang, in der SBZ verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, während der Vater aus der Ferne für die Freilassung seines Sohnes nur wenig tun konnte.
Neben den neuen Erkenntnissen, die Böttger zu Tage gefördert hat und die nachhaltig beeindrucken, ist es auch ihre Fähigkeit, das Faktenmaterial auf knapp zweihundert Seiten zu konzentrieren. Noch mehr erstaunt es aber, wie viel sich über einen Menschen erfahren lässt, der jahrzehntelang als vergessener, ja verschwundener Schriftsteller galt. Mit der Biografie, den beiden Publizistikbänden und dem bereits 2008 erschienenen Briefwechsel (1946-1962) zwischen Hans Natonek und seinem Sohn wird nun ein Autor aus dem Dunkel geholt, der schon mit seiner Emigration in Vergessenheit geriet.

Hans Natonek: Letzter Tag in Europa, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2013, 372 Seiten, 24,90 Euro.
Steffi Böttger: Für immer fremd – Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2013, 246 Seiten, 19,90 Euro.