von Alfred Askanius
Beim Landeanflug präsentiert sich Istanbul als urbaner Moloch: In der Nord-Süd-Ausdehnung entlang der Küste des Marmarameeres, vom Bosporus in einen europäischen und einen ungleich länger gestreckten asiatischen Teil getrennt, misst die Stadt über 100 Kilometer in der Breite bei einer Tiefe bis zu 50 Kilometer. Der dominierende Anblick zeigt eine Unzahl von Hochhaussiedlungen – den Eindruck bestätigt die Vedute des europäischen Teils vom asiatischen Festland aus. Man meint, die Metropole am Bosporus versucht, mit ihrer Skyline Shanghai zu toppen. Die etwa 24 Kilometer Fahrtstrecke vom Atatürk-Airport bis in das Zentrum verlaufen allerdings links und rechts der Fahrbahn, wie im gesamten Stadtgebiet überhaupt, entlang eines Blumenmeeres, für das die Stadt alljährlich eine dreistellige Millionensumme ausgibt.
Die Stadtväter präsentieren die Schönheiten ihrer Stadt mit berechtigtem Stolz gern und durchaus exzessiv: Im April 2014 fand zum neunten Mal das Internationale Tulpenfestival statt. Für jeden Einwohner wurde eine Tulpe gesteckt (übrigens 270 Sorten!). Genau 14 Millionen Pflanzen. Es hätten auch 16 oder gar 18 Millionen sein können – niemand kennt die genaue Einwohnerzahl der größten Stadt der türkischen Republik. Die Verkehrsplaner gehen momentan von 13,85 Millionen Einwohnern aus. Die Stadtregierung selbst nennt die Zahl 14.160.467. Sicher scheint nur zu sein, dass es sich inzwischen um die viertgrößte Metropole der Erde handelt.
Mit den üblichen westeuropäischen, erst recht nicht mit unseren vergleichsweise provinziellen deutschen Maßstäben lassen sich Istanbul und seine Probleme nicht messen. Das betrifft das äußere Antlitz der Stadt, das trifft auf alle anderen Faktoren zu, an denen urbanes Leben zu messen ist. „Wir haben den Wunsch, dass unsere Leistungen objektiv vom Westen betrachtet werden“, erklärte denn auch der Stellvertretende Oberbürgermeister Ahmet Selamet (AKP) am 11. Juni einer Delegation des Präsidiums des Berliners Abgeordnetenhauses, die anlässlich des 25. Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Istanbul dort weilte. Dieser wurde dann konsequenterweise im „Investment and Services Information Center“ der Stadtverwaltung am Ufer des Goldenen Horns ein beeindruckendes Resultat einer zehnjährigen Bürgermeisterschaft des AKP-Politikers Kadir Topbaş präsentiert – mit einem Ausblick auf die nächsten zehn Jahre bis zur Einhundertjahrfeier der Gründung der Republik Türkei 2023. Mit Topbaş, der am 30. März 2014 zum dritten Mal in Folge – ein in der Geschichte Istanbuls bislang einmaliger Vorgang – gewählt wurde, regieren die Islamisch-Konservativen Recep Tayyip Erdoğans (seit 2001 in Gestalt der AKP, Adalet ve Kalkınma Partisi – „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) die modernste Stadt der Türkei jetzt 20 Jahre. Erdoğans zweite Amtszeit als Ministerpräsident endet in diesem Jahr. Er wird im Herbst 2014 wohl zu den Präsidentschaftswahlen antreten.
Der Wahlausgang dürfte kaum Überraschungen bieten. Es gibt keine nennenswerte politische Konkurrenz im Lande. Die größte Oppositionspartei, die CHP (Cumhuriyet Halk Partisi – „Republikanische Volkspartei“, 1932 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet) gilt zwar außerhalb der Türkei als sozialdemokratisch, sie ist Mitglied der Sozialistischen Internationale – allerdings ist die CHP alles andere als eine linke Partei. Sie hat derzeit noch nicht einmal ein akzeptiertes Programm und bedient eher, wie Kenner einschätzen, eine türkische „Grund-Xenophobie“. Eine Alternative zur AKP vermag sie mithin nicht zu bieten. Bei den erwähnten Kommunalwahlen vermochte es die AKP, die großen Städte, anderswo per se „Links-Hochburgen“, zu halten.
„Zwar verbinden viele Türken die AKP mit Korruption und Selbstherrlichkeit, aber eben auch mit neuen Straßen, einer funktionierenden Müllabfuhr und wirtschaftlichem Aufschwung. Die Oppositionsparteien werden ebenfalls mit Korruption assoziiert – aber ohne neue Straßen und wirtschaftlichen Aufschwung.“ So beschrieb Michael Martens in der F.A.Z. treffend die Entscheidungssituation, vor der sich im Frühjahr auch die Istanbuler Wählerinnen und Wähler befanden. Im Ergebnis gingen neben dem Posten des Oberbürgermeisters 37 von 39 Bezirksbürgermeisterstühlen an die AKP. Das alles als „Putsch in Zeitlupe“ zu charakterisieren (Yavuz Baydar in Das Blättchen 6/2014) geht eher an den Realitäten vorbei. Das setzte voraus, dass es in der Türkei zuvor demokratische Strukturen nach westeuropäischem Muster gegeben hätte. Die gab es nie, hier tickten und ticken die politischen Uhren anders.
Recep Tayyip Erdoğan begann seinen politischen Aufstieg – geboren wurde er 1954 im Hafenviertel Kasımpaşa, einem der ärmsten Quartiere des Stadtteils Beyoğlu – als Istanbuler Kommunalpolitiker. Neben diversen konservativ-islamischen Maßnahmen (das von ihm verhängte Alkoholverbot in kommunalen Gaststätten hält sich bis auf den heutigen Tag) leitete er die Reorganisierung der Strom- und Wasserversorgung und der diversen Entsorgungsstrukturen ein. Kadir Topbaş startete 1999 ebenfalls als Kommunalpolitiker: in Beyoğlu. Ihm wird zugeschrieben, dort erstmals für eine funktionierende Müllabfuhr gesorgt zu haben. Wer durch die steilen und engen Gassen des Bezirkes abseits der noblen Istiklal Caddesi streift ahnt, welch Zivilisationssprung dies bedeutet haben musste.
Topbaş und seine Verwaltung gelten seither als „Macher“ und setzen gleichsam als vollziehende Kräfte des Geistes des Ministerpräsidenten auf eine äußere Modernisierung der Stadt, die sich im Auflegen immer ambitionierterer Infrastrukturprojekte äußert. Bisheriger (ingenieurtechnischer) Höhepunkt dürfte die etwa 1,4 Kilometer lange Untertunnelung des Marmarameeres im Rahmen des auf 75 Kilometer Gesamtlänge angelegten U-Bahn-Marmaray-Projektes sein. Nach der für 2017 geplanten Fertigstellung soll das „Marmaray“ täglich (!) 1,2 Millionen Passagiere teilweise im Zweiminutentakt befördern. Die Betreibergesellschaft gibt Baukosten in Höhe von zirka fünf Milliarden US-$ an. Das dürfte deutlich untertrieben sein. Von den geplanten 42 Stationen sind erst fünf fertig gestellt.
In Beyoğlu selbst wird derzeit das offensichtliche Pilotprojekt einer alles andere als „behutsam“ zu nennenden Stadterneuerung angegangen: das „Projekt Tarlabaşı“. Die Welt am Sonntag bezeichnete den Stadtteil einmal als „Istanbuls Räuberhöhle“. Das Viertel war noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von der „Levante“ bevölkert. So nennt man in Istanbul Griechen, Armenier, Juden und andere nicht-osmanische Bevölkerungsteile. Vereinzelt findet man im Viertel sogar Reste deutschsprachiger Mauerinschriften. „Später haben die sich entfernt“, hört man aus offiziellem Munde. Damit werden die diversen Pogrome und ethnischen Vertreibungen des 20. Jahrhunderts umschrieben, vor denen auch der Schmelztiegel der Völker Istanbul nicht verschont blieb. In die leeren Quartiere zogen arme Zuwandererfamilien hauptsächlich aus Anatolien nach, die in der für sie zunächst vollkommen fremden städtischen Umwelt verzweifelt um ihr Überleben rangen (und ringen) – neben dem fortschreitenden baulichen Verfall resultiert daraus der von der WamS zitierte schlechte Ruf des Viertels: „Tarlabasi ist nicht gerade der Stadtteil von Istanbul, in den man gern geht oder überhaupt jemals geht. Es sei denn, man stammt von dort und die Leute kennen einen und man hat nichts zu befürchten.“
Damit will die Stadtverwaltung nun endgültig Schluss machen. Nördlich des Tarlabaşı Boulevards – einer sechsspurigen, Mitte der 1980er Jahre barbarisch in die Stadt geschlagenen Schneise, die den Taksim-Platz mit der Altstadt westlich des Goldenen Horns über die Atatürk-Brücke verbindet – sollen auf neun „Inseln“ mit insgesamt 20.000 Quadratmetern Gesamtfläche die modernen Zeiten Einzug halten. Erdbebensicher – in Istanbul ist das immer Argument für Kahlschlagsanierung –, mit höchstens fünf Stockwerken aber dafür 1.200 Tiefgaragenplätzen, die man bis zu 20 Meter tief in die Erde buddelt. Natürlich spielt der Denkmalschutz eine Rolle: Einige ausgewählte Fassaden werden erhalten und wie auch in Berlin üblich an die neuen Betonformen angeklatscht. Das Ganze dürfte dann nach Fertigstellung in etwa denselben urbanen Charme ausstrahlen wie die postmodernen Quartiere an der Berliner Friedrichstraße. Nur etwas beengter. Bauherr des Tarlabaşı Urban Renovation Project ist übrigens Gap İnşaat, eine Tochter der Çalık Holding.Der Jahresbericht 2012 des Mischkonzerns weist eine Revenue von 2,77 Milliarden US-$ aus. Der CEO (der geschäftsführende Vorstand) heißt Berat Albayrak. Der Herr ist Schwiegersohn des Ministerpräsidenten. Das sind gemeinsam mit der Stadtverwaltung die Verantwortungsträger des „important social responsibility project“. Letztere sorgte dafür, dass von 523 betroffenen Hauseigentümern 217 Verträge mit der Stadtverwaltung unterschrieben. Diese sehen vor, dass die Unterzeichneten nach Abschluss der Bauarbeiten 42 Prozent ihres ursprünglichen Quadratmetereigentums zurückbekommen. Den „Rest“ streicht Çalık ein. Wer sich nicht auf diesen Deal einlassen wollte, bekam Miet- oder Eigentumswohnungen in einem Neubauviertel am Stadtrand Istanbuls angeboten. 90 Prozent der in den betroffenen Häusern Wohnenden – die meisten sind inzwischen abgerissen – galten nach offiziellem Verständnis als „Besetzer“ und wurden ihrem Schicksal überlassen. „Vor fünf Jahren gab es in Istanbul das Problem der Obdachlosigkeit fast nicht … Doch mit der Abrisspolitik der Stadtverwaltung landen immer mehr Menschen einfach auf der Straße“, erklärte Mücella Yapici, die Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer, Constanze Letsch für perlentaucher.de. Das war 2009. Am 12. Juni 2014 stand Yapici wegen der Gezi-Park-Proteste 2013 mit 25 Mitangeklagten vor den Schranken des Istanbuler Gerichtes. Wie das alles miteinander zusammenhängt, darüber wird noch zu berichten sein.
(wird fortgesetzt)
Schlagwörter: AKP, Alfred Askanius, Istanbul, Recep Tayyip Erdoğan, Tarlabaşı, Türkei