17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Zeugen und Erzeugen

Ein Blick in die Zukunft der menschlichen Reproduzierbarkeit

von Jacques Testart

Seit der Geburt des ersten „Retortenbabys“ im Jahr 1978 in Großbritannien sind fünf Millionen Kinder durch künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) zur Welt gekommen. In den Industrieländern werden heute drei Prozent aller Kinder auf diese Weise gezeugt. Die technische Entwicklung schreitet immer weiter voran, während die bioethische Gesetzgebung stets hinterherhinkt beziehungsweise angepasst wird. Irgendwann wird die Reproduktionsmedizin möglicherweise dazu dienen, den Menschen tatsächlich zu „optimieren“. Klonen oder universeller Erzeuger – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Zwei nur scheinbar entgegengesetzte Methoden stehen dabei für ein spezielles Verständnis von Alterität, in dem der andere praktisch keine Rolle mehr spielt: die sogenannte autonome Fortpflanzung oder die Zeugung mit Hilfe eines anonymen Partners. Tatsächlich ist aber die sogenannte Autoreplikation, bei der sich Menschen vollkommen identisch reproduzieren, ohne ihr eigenes Genom mit dem eines Partners zu „verunreinigen“, in der biologischen Realität unmöglich. Echtes Klonen setzt voraus, dass die Gesamtheit aller biologischen Bestandteile identisch reproduziert wird, und das geschieht nur, wenn der Embryo sich teilt, um eineiige Zwillinge hervorzubringen.
Bei der anderen Variante, also der Reproduktion mit Hilfe eines anonymen Erzeugers, hätten einzelne Männer dank ihrer seltenen – möglicherweise durch Genmanipulation (Transgenese) erlangten – Qualitäten die Aufgabe, die nachfolgenden Generationen zu zeugen. Das ist technisch möglich, wie die industrielle Selektion von Zuchttieren zeigt: Nur fünf Stiere sind die Väter von Millionen über die ganze Welt verteilten Holsteiner Kühen. Eine solche Eugenik ließe sich auch in dem System, das wir als Demokratie bezeichnen, umsetzen. Für ein effizientes Funktionieren wären allerdings Kontroll- und Zwangsmechanismen nötig. Mit anderen Worten, autoritäre Maßnahmen, die selbst die Fans einer solchen Eugenik nicht gutheißen dürften.
Dabei werden sogenannte weiche eugenische Methoden bereits angewandt, zum Beispiel in Fertilitätskliniken, die in ihren Karteien nach genetisch passenden Samenspendern suchen oder Embryonen mittels einer – aus medizinischer Sicht nicht immer erforderlichen – Genomanalyse, der Präimplantationsdiagnostik (PID), selektieren. Was sich als Einsatz der technischen Möglichkeiten mit Zustimmung aller Beteiligten – ein trauriger Aufguss von Freiheit also – bezeichnen ließe, könnte unmerklich zu einer Biopolitik wie in Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ führen, in dem programmierte Individuen im Labor gezeugt werden.
Wir brauchen die Fiktion, die weit weg in einer diktatorisch regierten Welt spielt, gar nicht, weder für die Gegenwart noch für die Zukunft. Uns reicht schon die Ausweitung der künstlichen Befruchtung aus „gesellschaftlichen Gründen“. Solche Gründe sind zu hinterfragen: Was bedeutet es, das Recht auf ein – mit medizinischer Unterstützung gezeugtes – Kind einzufordern, vor allem, wenn gar nicht die Unfruchtbarkeit der Eltern der Anlass dafür ist? Statt auf vergleichsweise natürliche Methoden zurückzugreifen, wie etwa die Samenübertragung (Insemination), wird gleich nach dem ganzen biomedizinischen Apparat verlangt, als halte er die einzige Lösung bereit. Möglicherweise lässt sich der in den reichen Industrieländern fast schon obligatorische Kinderwunsch mit dem für unsere Epoche bezeichnenden Konsumdrang nach allen möglichen Objekten vergleichen.
Die gewinnorientierte Gesellschaft hat sich, im Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht ihrer Bürger, in eine Maschinerie zur Bedürfniserzeugung verwandelt, vom alterslosen Körper bis zum idealen Kind. Wenn man Elternschaft für alle fordert und zu diesem Zweck Leihmutterschaft oder künstliche Befruchtung zulässt, könnte man dieses egalitäre Argument auch einen Schritt weitertreiben und damit den Anspruch auf ein „passendes“ Kind begründen. Das zöge wiederum eine Kontrolle erwünschter Geburten und die Überwachung erwünschter Verhaltensweisen nach sich.
Eine solche Revolution des menschlichen Verhaltens ist nur im digitalen Zeitalter denkbar. Wie alle anderen Ereignisse wird auch die Zeugung künftig von Algorithmen gesteuert, um das Ei von Beginn an zu untersuchen und zu bewerten, und auf diese erste Vorsichtsmaßnahme werden alle weiteren folgen. Was passiert, wenn neue Techniken auf den Markt kommen, die heute schon an Tieren erforscht werden, wie etwa die Fortpflanzung zweier Lebewesen des gleichen Geschlechts oder die Herstellung einer beliebigen Anzahl weiblicher Keimzellen – und damit Embryonen – aus einfachen, „reprogrammierten“ Zellen?
Eine Selektion (mittels PID) unter den so gewonnenen zahllosen Embryonen wäre dann generell erforderlich, zumal man den Wunscheltern damit die bei der künstlichen Befruchtung bislang nötigen Mehrfachversuche ersparen könnte. Sofern nichts Unvorhergesehenes passiert, würden bis Ende dieses Jahrhunderts alle Kinder in den Reagenzgläsern der Genetiker ausgewählt werden, auch wenn der Anspruch auf ein „normales“ Kind noch unvereinbar zu sein scheint mit dem, was den Menschen als Menschen ausmacht. Damit könnte sich jede und jeder fortan alle Verhütungsmaßnahmen sparen und sich gleich sterilisieren lassen, weil ihre oder seine Keimzellen entweder unnütz wären oder in der Samenbank aufbewahrt würden.
Durch den Einfluss von Ärzten, privaten Interessengruppen und industriellen Lobbys setzen sich nach und nach neue Praktiken durch. Und die treffen, wie im Fall der Präimplantationsdiagnostik, auf die Anliegen von Versicherungen, Gesundheitspolitikern und Anhängern des freien Wettbewerbs. Das neoliberale System ist in der Lage, alle notwendigen ethischen Zugeständnisse zu machen, auf dass jeder der Meister seines Vergnügens und seiner Wünsche sei. Da auch hier der Wettbewerb im Vordergrund steht, muss die Qualität des Produkts Kind von öffentlichen Einrichtungen kontrolliert werden. Deshalb ist eine Definition der Menschenrechte so dringend nötig, die die Gesamtheit aller menschlichen Wesen einschließt, um deutlich zu machen, dass unsere Entscheidungen Folgen für die gesamte Gattung haben werden. Vielleicht kann die Bioethik hier einen sinnvollen Beitrag leisten.
Im Bereich der künstlichen Befruchtung, die dank der Präimplantationsdiagnostik mit der Analyse genetischer Merkmale möglich wurde, ist es nicht gelungen, international verbindliche Regeln zu verabreden, wie beispielsweise der zunehmende Medizintourismus zeigt. Inzwischen ist sie längst zu einem ökonomischen und ideologischen Faktor geworden. Die künstliche Befruchtung dient heute nicht mehr nur dazu, ein Handicap wie Unfruchtbarkeit auszugleichen, sondern sie verwandelt sich in ein Instrument, um bestimmte Eigenschaften unserer Spezies zu überwinden, von der sexuellen Differenz bis zum Altern. Am Ende wird sie eine allgemein verfügbare Alternative zur natürlichen, seit jeher vom Zufall abhängigen Zeugung darstellen.
So erscheint die künstliche Befruchtung immer mehr wie ein Bestandteil des Transhumanismus, nach dessen Lehre der „erweiterte“ Mensch mit intelligenten Maschinen zu Mensch-Maschine-Kombinationen verschmilzt, die von Gewalt und Sex befreit und in der Lage sein werden, sich selbst zu reproduzieren. Dieser erweiterte Mensch wird notwendigerweise das Geschöpf eines Polizeistaats sein, in dem wir mit den heute schon bekannten Methoden, wie dem genetischen Fingerabdruck, den allgegenwärtigen Überwachungskameras oder der automatischen Identifikation per RFID (Radio Frequency Identification) unter Kontrolle gehalten werden. Wie sehr werden wir uns bis dahin verbogen haben, um nach dem empfohlenen Profil einer empathischen, aber alles beherrschenden Biomedizin Kinder zu produzieren und uns auf die gefügige Verwaltung unserer Körper und der etikettierten DNA einzulassen!
Am 28. Januar 2013 demonstrierten Schafzüchter im französischen Departement Drôme gegen die neuerdings in Europa vorgeschriebenen RFID-Chips anstelle der bislang üblichen Plastikkennzeichnungen für ihre Tiere. Kurz zuvor war eine andere Neuregelung in Kraft getreten, die sie verpflichtete, ihre Tiere gegen die Blauzungenkrankheit zu impfen, obgleich sie diese Krankheit im Griff haben und keine Ansteckungsgefahr für den Menschen besteht. Kurz darauf stand eine weitere neue Vorschrift ins Haus, nach der sie nicht mehr ihre eigenen Zuchtböcke einsetzen durften, sondern die Samen von genetisch ausgewählten Schafböcken benutzen mussten.
Von solchen Vorgaben profitieren nur die Elektronik-, Impfstoff- und Spermahersteller. Der Verfechter einer Wachstumsrücknahme, Serge Latouche, hat diesen Fortschritt einmal als „Megamaschine“ bezeichnet. Was wir den Tieren antun, werden wir bald auch den Menschen antun. Es ist kein Zufall, dass auch der Tod zunehmend medikalisiert wird. Zeugung, Orgasmus und Tod könnten sich den zwischenmenschlichen Vereinbarungen entziehen und sind deshalb von der alles normierenden und verrechtlichenden Maschine gefürchtet.
Es ist anzunehmen, dass nicht bioethische Gesetze dieser Hybris von der „Überwindung des Menschlichen“ ein Ende setzen werden, sondern der Rückgang des Wirtschaftswachstums. Doch der Funke klaren Verstandes, der irgendwann den festen Willen, zu handeln, hervorbringt, wird vielleicht erst überspringen, wenn sich die materiellen und sozialen Bedingungen dramatisch verschlechtert und wir deshalb alle Regeln menschlicher Gemeinwesen aufgegeben haben. Sollte das Bewusstsein für die tragische Sackgasse, in der wir uns befinden, zu spät erwachen, wird die Zeit für Aufstände günstig sein, aber die werden nur winzig kleinen Gruppen etwas nützen.

Aus Le Monde diplomatique Nr. 10384 vom 11.4.2014 mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski.
Jacques Testart ist Biologe, Pionier der In-vitro-Fertilisation sowie Honorar-Forschungsdirektor am französischen Nationalinstitut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm). Zuletzt erschien von ihm „Faire des enfants demain“, Paris (Seuil) 2014.