von Heinz Jakubowski
Demokratie ist ein Verfahren, das garantiert,
dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.
George Bernard Shaw
Roger Willemsens „Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament“ ist ein wichtiges Buch – und brillant geschrieben dazu. Wobei: Wer sich hierzulande für das Politische – und damit doch eigentlich für sich selbst interessiert – und diesem Bedürfnis zumindest gelegentlich per TV-Übertragungen von Bundestagsdebatten folgt, dem wird an dem neuen Buch wohl nur die dokumentarische Akribie imponieren, mit der der (so völlig zu Recht im Klappentext apostrophiert) „leidenschaftliche Zeitgenosse“ ein Jahr lang sämtliche Plenartagungen des Hohen Hauses verfolgt hat, diese referiert und auch kommentiert. Denn was der verdienstvolle Publizist auf diese Weise erläutert und zugleich bündelt, birgt eigentlich kaum Überraschendes: Er beschreibt – mit literarischem Anspruch und repräsentativ – die parlamentarische Kultur (Kultur?) unserer Tage. TV-Konsumenten des Parlamentsfernsehens dürften zumindest geahnt haben, was Willemsens masochistischem Entschluss zugrunde lag.
„Im Arsenal der rhetorischen Mittel stecken die immer gleichen Werkzeuge: Zitate aus der Vergangenheit, der Vorwurf mangelnden Sachverstandes, des Selbstwiderspruchs, der Weltfremdheit, der Heuchelei, der Inkonsequenz, der Unredlichkeit, des Opportunismus; der Missachtung des Stils des Parlaments, ganz Europas; das Zitieren von Gerichtsbeschlüssen, Leitartikeln, Talkshows; der Vorwurf der Amoral, der niederen Beweggründe, der Vetternwirtschaft, des Verharrens im ewig Gestrigen, der Missachtung der Gesetze, der Blockade im Bundesrat, des Widerspruchs um jeden Preis, des Wankelmuts. Als Bindemittel wird Volksnähe simuliert, Zitate aus der Geistesgeschichte werden als Furnier verklebt, und das alles wird schließlich wie im Eiskunstlaufen nach Kür und Pflicht absolviert und mit Haltungsnoten belohnt.“
„Man hört sie und denkt unwillkürlich an die Geschichte derer, die auf den Schiffsschnabel, die Barrikaden, die Kanzel, auf Apfelsinenkisten gestiegen sind, um dem Ideal der freien Rede zu huldigen – und dann das: Die Idee ist eine hohe und scheint doch nicht blamierbar. Keine Unterstellung ist zu niedrig, kein Vorwurf zu drastisch, kein Nachweis zu entlarvend, kein Anwurf zu ehrenrührig. Gerade im Parlament, wo die Fallhöhe am empfindlichsten ist, existiert sie kaum.“
„Manchmal“, so konzentriert Roger Willemsen seine Erfahrung im Deutschen Bundestag, „ist das Parlament das Haus, in dem die Kultur sprunghaft revidiert wird.“ (Als ein Primus inter Pares darf dabei, man lese das Buch, CDU-Fraktionschef Volker Kauder als regelrecht begnadeter Kulturrevisionist gelten…)
Vielleicht liegt der größte Wert dieses Selbstversuches ja in einer Frage, die Roger Willemsen häufig impliziert und gelegentlich auch formuliert, obwohl sie nicht der Gegenstand dieses Buches sein sollte: Dass ein solcher Parlamentarismus nur möglich ist dank der Passivität, des Desinteresses, des Unwillens oder der Unfähigkeit, sich Kenntnisse anzueignen durch jenen „Souverän“, der, wählt er nur die jeweilig siegreiche Partei, allzu gern und verehrungsvoll als „mündig“ geadelt wird. Womit eine noch gravierendere Frage als die der Kultur des Parlamentarismus aufgeworfen ist – was ich diesem Buch unbedingt als intendierten Wert zueigne: Kann, so mag sie etwa lauten, Demokratie in Anbetracht der Komplexität und Kompliziertheit der meisten gesellschaftspolitischen Vorgänge überhaupt, mindestens aber mehrheitlich, mit einem Wähler rechnen, der wirklich weiß, warum er sich wofür entscheidet – so er dies denn überhaupt tut? Ist dem Gros der Wahlbürger nicht eher lieb, Verantwortung auf Volksvertreter zu delegieren – wie parlamentarische Demokratie nun mal funktioniert – und diese damit „loszuwerden“? Nur um besagte Verantwortung dann bei Bedarf erbittert als Versagen der Demokratie einzuklagen. Will es ernsthaft teilhaben an der Entscheidungsfindung über unser gesellschaftliches Wohl und Wehe, die doch erhebliche Mühe kosten würde? Genügt ihm nicht genau das, was lauthals kritisiert wird, wenn es die Interessen anderer präferiert: Klientelpolitik, also egoistisches oder gruppenegoistisches und sehr viel weniger gesamtgesellschaftliches Kalkül?
„Die Demokratie setzt die Vernunft des Volkes voraus, die sie erst hervorbringen soll“ hat Karl Jaspers einmal festgestellt. Das ist ein sehr kluger Satz. Und wer auch nur ein wenig von den Verhaltensmustern der Mehrheitsmenschen begriffen hat, weiß, dass ein Prozess der „demokratischen Reife“ nur ein sehr, sehr langandauernder sein kann. Aber solange sich auf diesem Weg so wenig tut wie hierzulande und solange die Volksvertreter in der von Roger Willemsen beschriebenen Weise diesem Reifeprozess eher entgegenwirken, ist Hoffnung auf eine tiefverwurzelte Demokratie rar. So lange zudem Massenmedien dieses hehre Ziel beinahe täglich konterkarieren, indem sie das Politische auf das Instinktive reduzieren oder in Talkshows zerreden, in denen es längst zugeht wie in den von Willemsen beschriebenen Bundestagsdebatten (abgesehen davon, dass in letzteren jeder Redner immerhin eine ihm zustehende Redezeit hat), bleibt sie eine schillernde Seifenblase.
Zur Disposition steht bei alledem eine Demokratie, die der Westen dem Rest der Welt allzeit lauthals anpreist und zum Maß der Dinge macht. Und mit der er ganze Völker – wie seinerzeit den Irak – in blutigem Feldzug zu beglücken sucht. Solange das so ist, wird im Parlamentarismus nicht viel anderes zu erreichen sein als das, was Roger Willemsen so hellsichtig dokumentiert und seziert hat. Wenn der mündige Bürger doch daraus nur Konsequenzen ziehen wollte, denn letztlich haben wir wohl die parlamentarische Kultur, die wir verdienen. Und nicht nur die parlamentarische, wenn man sich anschaut, wie man mit jemandem umgeht, der nicht grade zum engen Bekanntenkreis gehört oder dem man anderweitig verpflichtet ist. Parlamentarismus ist letztlich nichts anderes als ein Spiegel für das Niveau des allgemeinen Sozialverhaltens.
Roger Willemsen: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 397 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: Deutscher Bundestag, Parlamentarische Kultur, Roger Willemsen