17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Bemerkungen

Kron(e)juwelen

Sale
Ein Kairoer Gericht hat kürzlich auf einen Ritt 529 Muslimbrüder zum Tode verurteilt. Westliche Politiker, ehe sie sich darüber aufregen, sollten bedenken, dass diese Art der Hinrichtung wesentlich kostengünstiger ist als die Human-Elimi­nierung durch Drohnen.

Stinkig
Unter der Überschrift „Russlandschelte des US-Präsidenten“ nennt es Spiegel Online einen „verbalen Stinkefinger“, dass Obama Russland als „Regionalmacht“ verspottet hat, die „aus Schwäche“ handle. Der Präsident scheint Regionalmächte nicht recht ernst zu nehmen. Die Bundesrepublik ist auch eine.

Krankenkassierer
Die AOK Plus will in Sachsen ein neues System ausprobieren. Danach soll der Arzt nicht mehr das Medikament verschreiben, sondern nur noch den Wirk­stoff. Der Apotheker soll dann unter mehreren Medikamenten, die diesen Wirkstoff enthalten, eines auswählen. Natürlich, so wird das nicht ausgedrückt, aber so ist es, das billigste. Aus der Vergangenheit lernen, heißt die Zukunft gestal­ten, wird ja immer gesagt. Aus ökonomischen Gründen sollte man sich deshalb erinnern, dass in früheren Zeiten der Bader Friseur und Heilgehilfe war. Diese Kombination wieder einzuführen, könnte zu weiterer Verbilligung der Krankenbehandlung führen.

Günter Krone

Aus anderen Quellen

„Russlandversteher“ ist im Westen derzeit als Schimpfwort für all jene en vogue, die dem grassierenden Russland-Bashing mit differenzierteren Sichtweisen begegnen. Solche sind allerdings zur unterstützenden Flankierung einer Politik des Porzellanzerschlagens, die das G 8-Format sowie die zivile und militärische Zusammenarbeit der NATO mit Russland aufgekündigt hat, um Moskau zu zeigen, wo der Hammer hängt, nicht zu gebrauchen. Umso mehr jedoch dafür, konstruktive Ansätze für Wege aus der Krise und nach der Krise zu finden. Ingo Schulze schreibt dazu: „Es ist kein gutes Zeichen, wenn das Wort ‚verstehen‘ negativ besetzt wird. Der Versuch, jemanden oder etwas zu verstehen, ist eine unabdingbare Voraussetzung, wenn man selbst agieren will. Nur wer etwas versteht, kann sich angemessen dazu verhalten und zwischen Zustimmung und Widerspruch abwägen.
Ingo Schulze: Diffamiert als ‚Russlandversteher‘, Süddeutsche Zeitung, 31.03.2014. Zum Volltext hier klicken.
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„Schon lange waren sich Machthaber und Medien im Westen nicht mehr so einig wie in der Krim-Krise: Der irre Iwan bricht das Völkerrecht, und wir müssen alle fest zusammenstehen“, schreibt Jakob Augstein. Zu viele Journalisten hätten „sich ohne Not auf einen ‚Anti-Putin-Populismus‘ festgelegt“. Und: „Im Angesicht eines angenommenen Feindes lernen wir gerade den Unterschied zwischen einem freien und einem unfreien Pressewesen: In Russland werden die Medien von der Regierung gleichgeschaltet, bei uns übernehmen sie das gerne auch mal selbst.“
Jakob Augstein: Die Mär vom irren Iwan, Spiegel Online, 31.03.2014. Zum Volltext hier klicken.
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Holger Schmale erinnert an die Rede Wladimir Putins im Plenum des Bundestages am 25. September 2001: „Putin hat darum gebeten, hier sprechen zu können. Es ist eine Ehre, die nur wenigen ausländischen Politikern gewährt wird […]. Als solcher ist Putin gekommen, als guter Freund der Deutschen. Heute, mit dem Abstand von 13 Jahren und mitten in einer schweren Vertrauenskrise zwischen Deutschland, dem Westen überhaupt, und Russland, stellt sich die Frage, ob damals alle die historische Dimension dieses Auftritts erkannt haben, die Möglichkeiten, die er eröffnete – und welche Fehler seither gemacht wurden.“
Holger Schmale: Enttäuschte Liebe, Berliner Zeitung, 04.04.2014. Zum Volltext hier klicken.
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Der Siemens-Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser hatte es trotz Zuspitzung im Verhältnis des Westens zu Russland gewagt, eine länger geplante Visite dorthin nicht sausen zu lassen und dann auch noch ein Gespräch mit Putin zu führen. ZDF-Anchorman Claus Kleber gab daraufhin im heute journal ebenso oberflächlich wie selbstherrlich und dümmlich den Großinquisitor („Was haben Sie sich bei Ihrem Freundschaftsbesuch gedacht?“). Frank Schirrmacher kommentiert: „Diese Inquisition, die auch in ihrem nur dem Remmidemmi verpflichteten Desinteresse daran, was Kaeser von Putin denn gehört haben könnte, alles in den Schatten stellt, was man an Vaterlandsverratsrhetorik aus dem wirklichen Kalten Krieg kannte, ist überhaupt nur als Symptom journalistischen Übermenschentums diskutierbar und wird dadurch allerdings auch über den peinlichen Anlass hinaus interessant. Beharren auf einer normativen Deutung dessen, was die westlichen Sanktionen angeblich bedeuten, verwandelt Journalismus in Politik und das Fernsehstudio in einen Ort, wo der Interviewer plötzlich außenpolitische Bulletins abgibt: Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf. […] Die Deutschen sollten nicht erfahren, was Joe Kaeser in Moskau tat, sondern, wie Claus Kleber darüber denkt […].“
Frank Schirrmacher: Echtzeitjournalismus. Dr. Seltsam ist heute online, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.03.2014. Zum Volltext hier klicken.
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Im 13. Jahr der Anti-Terror-Hysterie des Westens im Hinblick auf die islamische Welt trifft Jürgen Todenhöfer, der seit langem gegen diese Hysterie agiert und argumentiert, die Feststellung: „Niemand darf das barbarische Unrecht von 9/11 relativieren. Das Gleiche gilt auch für das mehr als hundertfache Unrecht, das der Westen Zivilisten in Afghanistan und dem Irak angetan hat. Bushs ‚Antiterrorkrieg‘ war ein alles in den Schatten stellender Terroranschlag auf die muslimische Welt.“ Hinzu kommt: „Die Statistiken von Global Terrorism Database enthüllen darüber hinaus die Peinlichkeit, dass die maßlosen Antiterrorstrategien des Westens keinerlei positive Ergebnisse brachten. Das übliche Argument, man habe durch die massive Verschärfung des Antiterrorkampfes eine Explosion muslimischer Terroranschläge verhindert, ist nachweisbar falsch. […] Es ist Zeit, den großen Bluff eines bevorstehenden terroristischen Weltuntergangs zu beenden.“
Jürgen Todenhöfer: Der große Bluff – was der Krieg der USA gegen den Terror gebracht hat, Berliner Zeitung, 03.04.2914. Zum Volltext hier klicken.
An anderer Stelle äußerte Todenhöfer zu Obamas kürzlicher Rede in Brüssel, sie sei die zynischste gewesen, die er jemals von einem amerikanischen Präsidenten gehört habe: „Er behauptete, der Krieg gegen den Irak sei weniger schlimm gewesen als die Annexion der Krim durch Rußland. Schließlich hätten die USA den Irak ja wieder zurückgegeben. Obama hat dabei unterschlagen, daß im Irak mehr als eine halbe Million Iraker getötet wurden und das Land seither traumatisiert ist. Zynischer geht es nicht mehr.“
„Rußland ist der geborene Partner“. Interview mit Jürgen Todenhöfer, Handelsblatt, 03.04.2014. Zu ausführlichen Auszügen hier klicken.
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In der vorangegangenen Ausgabe befasste sich der Beitrag „Wofür Raketenabwehr da ist“ mit der Frage, warum Russland amerikanische Projekte, in und um Europa Raketenabwehrsysteme zu installieren, strikt ablehnt. Die russische Auffassung, dass mit solchen Systemen im Kriegsfall russische Vergeltungskapazitäten am Gegenschlag gehindert werden könnten, wird dabei auch durch Untersuchungen von Keir A. Lieber und Daryl G. Press gestützt, die bereits vor einigen Jahren in den renommierten Politikzeitschriften Foreign Affairs und International Security veröffentlicht worden sind. Die amerikanischen Experten hatten festgestellt, dass „sich die nuklear-strategische Balance seit Ende des Kalten Krieges dramatisch verschoben“ habe und dass die USA jetzt „an der Schwelle zu nuklearer Vorherrschaft“ ständen. Die Balanceverschiebung hätte „zwei primäre Quellen: den Niedergang des russischen Nukleararsenals und das stetige Wachstum der nuklearen Einsatzmöglichkeiten der USA“. Liebers und Press‘ Fazit lautete, „dass
russische (und chinesische) Führer nicht länger darauf zählen können, über überlebensfähige nukleare Abschreckungsmittel zu verfügen“.
Keir A. Lieber / Daryl G. Press: The End of MAD? The Nuclear Dimension of U.S. Primacy, International Security, No. 4 (Spring 2006). Zum Volltext hier klicken.
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Dass die Rüstungsbeschaffung der Bundeswehr bei Großwaffensystemen auf einem Kompetenz- und demzufolge auch Erfolgsniveau abläuft, das die Ohlen-Bande kaum zu toppen in der Lage wäre, weiß, wer regelmäßig Das Blättchen liest. Jetzt macht sich die Verteidigungsministerin anheischig, das Beschaffungswesen radikal umzukrempeln, um „ein transparentes, risikoorientiertes und professionelles Projektmanagement einzusetzen“. Hans Rühle, von 1982 bis 1988 Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium, bescheinigt der Ministerin, von vornherein auf verlorenem Posten zu stehen: „[…] nichts von dem vollmundig Avisierten wird sich realisieren lassen. Die Gründe hierfür sind seit Jahrzehnten jedem Insider bekannt: Die wichtigsten Großvorhaben im Bereich des Verteidigungsministeriums sind politische Programme, die, in jedem Einzelfall anders, sich außerhalb vorgegebener Strukturen bewegen.“
Hans Rühle: Ministerin von der Leyens „management by terror“, Die Welt, 28.03.2014. Zum Volltext hier klicken.

 

Blätter aktuell

Mit der Loslösung der Krim droht die Krise in der Ukraine weiter zu eskalieren. Doch während die politischen Akteure um eine pro-westliche oder pro-russische Ausrichtung des Landes ringen, entwirrt der Geschichtswissenschaftler Andreas Kappeler Mythen und Fakten um dessen Zugehörigkeit. Sein Fazit: Auch wenn die Ukraine stets zu Europa gehörte, resultiert daraus keine zwingende Zugehörigkeit zur Europäischen Union oder gar dem Westen.
In diesem Monat jährt sich zum 20. Mal der Beginn eines Völkermords, der in wenigen Monaten bis zu einer Million Menschen das Leben kostete – der schnellste Genozid der Geschichte. Wie konnte auf derart effiziente Weise gemordet werden, fragt der Sozialwissenschaftler Nando Belardi. Inwiefern wurden die Massaker geplant und vorbereitet und welche Rolle spielte dabei die internationale Gemeinschaft?
Bereits seit Jahren sprechen Geowissenschaftler vom „Anthropozän“ als dem „vom Menschen gemachten Erdzeitalter“. Doch erst seit 2013 veränderte Edward Snowden unser Wissen um den Einfluss der Geheimdienste. Der Politologe Elmar Altvater verknüpft die Themenkomplexe Datenspeicherung und Ressourcenausbeutung und kommt zu einer dramatischen Diagnose: Das kapitalistische System leidet an einer globalen Kontrollphantasie, um die Zukunft des Menschen wie des Planeten zu beherrschen.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Europa, China, Arabellion: Die Zukunft der Zivilisierung“, „Governance in Europa: Auf dem Weg in die Postdemokratie?“ sowie „Japan: Mit Nationalismus in die Isolation“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, April 2014, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Bis nach dem Tod

Soweit ich mich erinnern kann, benötigten Schwule und Lesben viele viele Jahre, um zu jener gesellschaftlichen Akzeptanz zu gelangen, wie sie heute – jedenfalls weitgehend – hierzulande Praxis ist: Gleichberechtigung statt Ausgrenzung. Umso bemerkenswerter ist nun, dass, in diesem Falle Lesben, ihrerseits die eigene Ab- und Ausgrenzung betreiben. Und zwar eine, die nicht nur für ein Leben, sondern auch für „ein Leben nach dem Tode“ währen soll: In Berlins Mitte wird jetzt der erste Lesbenfriedhof eingerichtet, Heteros haben da draußen zu bleiben. Keine Ahnung, ob die Initiative etwas damit zu tun hat, dass sie aus Hannover kommt, dämlich – weil kontraproduktiv zum berechtigten Anliegen der Anerkennung als gesellschaftlich gleichberechtigt Zugehöriges – ist sie allemal. Es würde mich nicht überraschen, wenn besagter Berliner Gottesacker in Bälde als FriehofIn firmieren würde.

Hella Jülich

Kultursoziologie aktuell

Kulturkreistheorien und ihre Urheber stehen im Zentrum der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kultursoziologie. Wolfgang Geier bietet einen profunden Überblick über die Jahrhunderte währende Ideengeschichte der Theorien und ihrer Autoren, von Vico über Rückert bis Danilevskij, um abschließend auf ihr Ende hinzuweisen, dass sich mit Sorokins Fundamentalkritik bestimmen lässt. Zwei Ansätze, die im 20. Jahrhundert Aufsehen erregten, werden in den Beiträgen von Chris­toph Sebastian Widdau und Erhard Crome unter die Lupe genommen: die wirkungsmächtigen Theorien von Oswald Spengler („Der Untergang des Abendlandes“) und Arnold J. Toynbee („Der Gang der Weltgeschichte“).‘
Im Forum begibt sich Cornelia Pechota auf Lou Andreas-Salomes Spuren „zwischen Königsberg und Kaliningrad“. Den sozialen Wan­del in Südosteuropa und das Problem der Identitätsgewinnung anal­ysiert Anton Sterbling. Das ukrainisch-polnische Gebiet Galizien als kulturell-zivilisatorisches und politisches Phänomen ist Thema des Beitrages von Sergej Birukov und Andre] Kovalenko. Erstmals in der „Kultursoziologie“ enthalten ist die Rubrik Wiedergelesenes, in der Klassiker des Fachs in Textauszügen vorgestellt und kommentiert werden. Den Anfang macht Thomas Bitterlich mit einer Rezension von Arthur Moeller-Brucks „Das Varieté“.

hpg

Kultursoziologie Nr. 1/14 (Thema: Kultrurkreise), Verlag WeltTrends Potsdam, 110 Seiten, 12,00 Euro. Bestellung über: www.welttrends.de/kultursoziologie

Zivilcourage

Gesellschaftliche Institutionen, die sich hierzulande politisch positionieren, sind rar. Allzu sehr obwaltet ein aufgezwungenes oder aber selbstauferlegtes Neutralitätsverhalten. Öffentlich zu relevanten und gar strittigen Vorgängen Stellung zu nehmen, birgt Ärger in sich. Wo man Zivilcourage vermeiden kann, tut man‘s halt lieber.
Anders nun – und allein damit aller Achtung wert – ist der Beschluss der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock, ein Verfahren zu eröffnen, dessen Ziel es ist, dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Snowden, so das Verständnis der Rostocker Philosophen, habe mit der Veröffentlichung schwerwiegender und die Weltöffentlichkeit betreffender Unterlagen des US-Geheimdienstes NSA die Funktion eines klassischen Aufklärers erfüllt, er sei somit so etwas wie der „Kolumbus des Digitalzeitalters“.
Nun muss sich eine deutsche Uni freilich erheblich weniger Sorgen über möglicherweise beziehungsbelastende Reaktionen seitens der Obama-Regierung machen als etwa das Berliner Parlament und Kabinett, das gehört gewiss angemerkt. Dessen nun schon monatelanges Herumgeeiere in Sachen Snowden, wobei es zunächst lediglich um die Frage von dessen möglicher Einvernahme geht, ein Asylangebot traut sich Berlin ohnehin nicht, ist beschämend. Nicht zuletzt deshalb, weil kein Berliner Spitzenpolitiker – von den Beißhunden der parteipolitisch zweiten Reihen ganz abgesehen – irgendeine Gelegenheit auslässt, um missliebigen Staaten Lektionen über Demokratie und Menschenrechte zu erteilen.

Helge Jürgs