17. Jahrgang | Nummer 7 | 31. März 2014

Mein Lichtenberg-Report

von Andreas Dahms

Ich wohne seit 1999 in Berlin-Lichtenberg. Meine Freunde rollen die Augen, wenn sie dies hören: „Du könntest doch auch in der Zivilisation leben.“
Die Wohnhäuser meiner Wohnungsgenossenschaft „Vorwärts“ liegen zwischen dem ehemaligen „Ministerium für Staatssicherheit“ und der – immer noch – „Gedenkstätte der Sozialisten“. So gesehen könnte meine Wohnungsgenossenschaft gar nicht anders heißen. Auch geografische Lage verpflichtet. Viele junge Offiziersfamilien des „Ministeriums für Staatsicherheit“ sind Anfang der Sechziger hierher gezogen, den Arbeitsweg konnte man sehr gut zu Fuß bewältigen. Und „Körperertüchtigung“ spielte auch damals eine große Rolle im Klassenkampf; heute gibt es Jogging.
Ich mag „Spazieren“ als Betätigung. Es gibt meine „Kiezstandardrunde“, vor dem Haus links weg und dann Richtung Gedenkstätte. Gestaltet nach den Plänen des damaligen Berliner Stadtgartendirektors Hermann Mächtig wurde dieser Parkfriedhof am 21. Mai 1881 eingeweiht. Hier sind nicht nur die Gräber der ehemaligen SED-Führungsschicht. Liest man die Namen auf diesen Grabsteinen, ist es wie eine Reise durch vierzig Jahre DDR. Man findet aber auch Verweise auf wirklich bemerkenswerte Persönlichkeiten, wenn man aufmerksam durch die Grabreihen schlendert. Sind hier doch unter anderem die Grabmäler von Käthe Kollwitz (1867-1945), Otto Nagel (1894-1967), F.C. Weiskopf (1900-1955) und Konrad Wolf (1925-1982) samt Bruder Markus und Vater Friedrich.
Jeden zweiten Sonntag im Januar findet die „Karl-und-Rosa“-Demonstration statt. Seit ich nebenan wohne und die Demo mich bequem erreicht, bin ich treuer Besucher dieses traditionsreichen Aufzugs. Seit Jahren defiliert auch mein Lieblingstransparent an meinem Glühweinstand mit Stehtisch vorbei. Fünf Köpfe sind darauf zu sehen, von links nach rechts: Engels, Marx, Lenin, Stalin und Mao. So finde ich es fast skurril, dass in den letzten drei Jahren, nur eine Reihe im Demozug dahinter, eine Fahne mit Trotzki zu sehen ist, Zeitgenosse und Gegenspieler von Stalin. Trotzki wurde am 20. August 1940, im Auftrag von Stalin, in seinem Haus im Stadtteil Coyoacan von Mexico City durch Ramon Mercader mit einem Eispickel erschlagen. Bei dieser Demonstration sind sie gemeinsam wieder auferstanden.
Irgendwie wirken die politischen Parolen dieser Demonstration unsortiert, was auch ein Zeichen demokratischer Freiheit sein kann. Eine Momentaufnahme, als ich vor der Schalmeinkapelle anhalte: Sie steht auf dem freien Rundplatz in Rotfrontkämpferbunduniformen. Die Mitspieler versuchen es laut, wenngleich nicht fehlerfrei. Aber auch hier zählt die gute Absicht, Symbolik genannt. Im Hintergrund ihres Standortes die Gleise zwischen den Bahnhöfen Lichtenberg und Friedrichsfelde. Es steht ein Güterzug da. Ich schaue so hin, und just in diesem Moment, ruckt der Zug an und da denke ich: „Der Zug ist abgefahren“. Ich beschließe, mir auf diesen symbolträchtigen Gedanken hin noch einen Glühwein zu gönnen.
Ich flaniere auf meinem Rundkurs dann stadteinwärts. Es ist nicht mehr weit bis zum Gelände des ehemaligen Stasiministeriums. Ironischerweise befinden sich heute auf diesem Gelände das Arbeitsamt und eine große Außenstelle des Bundesvermögensamtes. Ich finde die jetzige Nutzung des Geländes in Anbetracht der Vergangenheit trefflich, eins greift ins andere. Geschichte, jedenfalls das Geschehene, hat manchmal auch logischen Verlauf. „Oben und Unten“ sind nicht in Frage gestellt. Diese Konstellation manifestiert sich in Stahl, Beton und Glas, wobei das Arbeitsamt futuristischer wirkt als das Bundesverwaltungsgebäude.
Neue Bilder vom letzten Wochenende gehen mir wie per Wechselrahmen durch den Kopf: Ich war mit dem Fahrrad in Berlin-Mitte unterwegs, auch in der Chausseestraße, Ecke Habersaathstraße. Das „Stadion der Weltjugend“ ist abhanden gekommen, jetzt ist das Gelände für den Bundesnachrichtendienst bebaut, eine gewaltige Anlage; dagegen wirkt das ehemalige Lichtenberger Sicherheitsgelände wie eine Puppenstube von Käthe Kruse. Wenn man so die Gebäude des BND betrachtet, vermutet man da so viele Arbeitsplätze wie das Vorgängerstadion seinerzeit Fassungsvermögen aufwies. Im Zeitalter von NSA haben wir an dieser Stelle somit eine sehr ehrliche Gestaltung unseres Lebens durch Architektur, die wiederum bedingt durch „Was ihr wollt“…
Damit zurück vom Areal des „Mitte-Establishments“ hin zur nächsten Laborstelle, der Gentrifizierung – also zurück ins vertraute Lichtenberg. Da ist es zuvor naheliegend, bei „Wikipedia“ nachzuschauen, was unter dem Begriff dazu so drinsteht: „… ist ein in der Stadtgeographie angewandter Begriff, der einen sozialen Umstrukturierungsprozess eines Stadtteiles beschreibt. Dabei handelt es sich um Veredelung des Wohnumfelds, sowohl durch Veränderung der Bevölkerung, wie in aller Regel auch durch Restaurierungs- und Umbautätigkeit.“ Das liest sich doch sehr schön. Es klingt nach Sonne und Weiterentwicklung zum Besseren. Ich aber kenne die großen Schatten dieser Prozesse. Ich kann sie jeden Tag bei mir im Kiez verfolgen und bin letztendlich nur ganz egoistisch froh, dass es mich (bisher?) nicht betrifft. So habe ich während meines Spaziergangs fast depressive Gedanken – Ängste vor möglichen sozialen Absturz. Was kann man dagegen nur tun? Ich weiß, es ist nicht gut für den Körper, aber jetzt so, in diesem Augenblick, für die Seele – also ab in die Stammkneipe, die kürzeste Verbindung zwischen dem eigenen Bett und dem Bierhahn, in umgekehrter Reihenfolge.
Seit ich hier lebe, verkehre ich in dieser Kneipe, die sich um politische Systeme nicht zu scheren scheint. Der Wirt hat seine Maxime: Investiere nichts und überlebe, solange Du kannst! Er spürt das vorerst sanfte Beben, und weiß genau, was die Gegend vor jeglichem Umbruch noch braucht: Fassbier, 0,3 Liter für 1,40 Euro. Das reicht.
Und sie kommen alle aus dieser Gegend: die der Einsamkeit Entfliehenden, die Ausgestoßenen, die Chancenlosen – die große Mannschaft der Hartz-IV-Empfänger (nicht alle!), der Schichtarbeiter, der pensionierte zierliche Physiker mit seinem Rollator, das clevere Bürschchen vom Schlüsseldienst, die alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Sie ist über 50. Die Kinder sind aus dem Haus, und nun sitzt sie hier mit ihrer neuen Freiheit; der ehemalige Binnenschiffer, dessen Haar auch mit Mitte 60 einfach nicht ergrauen will (er hat damit meinen ganzen Neid) und die „Anderen“. Ein anderes Schicksal als das der „Anderen“ im belobigten Film. Eine gute Mischung, es wird hier nicht nur gesoffen, sondern noch mehr auch geredet. Gerade hier habe ich was vom wahren Leben erlernt, auch Dankbarkeit dafür, dass es mir gut geht. Mein Interesse an Menschen scheint mir größer geworden, ich nehme mehr Anteil an den Schicksalsschlägen der „Anderen“. Meine Frau will nicht, dass ich mich in dieser Art dem Leben stelle; für sie ist dieses „Sozialisation Alibi“ für unstillbaren Durst. Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt, ich versuche, sie zu verstehen. Aber, so denke ich mal, das ist völlig falsch, aber doch. Und so rufe ich nach einem weiteren Bier, und da fällt mir doch der Titel einer Broschüre von Lenin ein, geschrieben 1902. Darin betrachtet er das mögliche Zusammengehen von Bildungsbürgertum und Arbeiterklasse in sozialistischen Parteien. Die Vision seiner „Avantgarde des Proletariats“ ist wohl hinfällig. Aber am Titel, da gibt’s nichts zu tippen – aktuell und auch ganz individuell für mich: „Was tun?“ Und dem folgt dann noch ein Bier, und da dämmert mir, es hat auch Vorzüge, nicht danach zu fragen.