von Edgar Benkwitz
Alle fünf Jahre steht Indien vor einer riesigen organisatorischen Herausforderung, den Wahlen zur Lok Sabha, dem indischen Unterhaus. Für die in wenigen Wochen stattfindende Wahl sind 814,5 Millionen Stimmberechtigte registriert, das dürfte die größte Wählerschaft in einem Land dieser Erde sein. Verglichen damit nimmt sich die Europawahl mit 375 Millionen Berechtigten aus 28 Staaten eher bescheiden aus. In einer Zeitspanne von 36 Tagen, vom 7.4. bis 12.5.2014 gibt es insgesamt neun Wahltage, die Endauszählung erfolgt dann am 16. Mai.
In Indien gilt das Mehrheitswahlrecht. Gewählt werden 543 Abgeordnete, dementsprechend ist das Land in ebenso viele Wahlbezirke aufgeteilt. Hier treten die Kandidaten gegeneinander an, wer die meisten Stimmen erhält, zieht ins Parlament ein. Mit diesem von Großbritannien übernommenen System ist Indien bisher recht gut gefahren. Denn anders als dort hat es nicht zu einer Zweiparteienlandschaft geführt, im jetzigen Parlament sind 38 Parteien vertreten.
Für den reibungslosen Ablauf der Wahlen sorgen 11 Millionen Offizielle, dazu kommen 1,5 Millionen Sicherheitskräfte, vor allem für den Einsatz in als gefährdet eingestuften Distrikten. Seit 2004 wird elektronisch gewählt, alle 930.000 Wahllokale sind mit Wahlcomputern ausgestattet. Damit wird bei Stimmabgabe und Auszählung viel Zeit gespart, enorme Mengen Papier sowie Wahlurnen werden nicht gebraucht. Allerdings kamen die „Wahlmaschinen“ wegen angeblicher Sicherheitsprobleme ins Gerede, das Oberste Gericht musste sich damit befassen. Jetzt ist ein neues System im Einsatz, mit dem bei vorliegender Notwendigkeit jede einzelne Stimmabgabe konkret verfolgt werden kann.
Im Verlauf des Wahlkampfes spielte Geld eine große Rolle. Nach seriösen Untersuchungen fließen in diesem Jahr fünf Milliarden Dollar in die Wahlkampagne, dreimal so viel, wie bei den letzten Wahlen. Nur die USA gaben bei den Präsidentschaftswahlen 2012 mehr aus. Trotz des vielen Geldes wirkte der Wahlkampf aber bisher kraft- und farblos. Vielen dauert er zu lange, denn seit September des vergangen Jahres wurde zunächst um Landtagsmandate gekämpft, ab Jahresende schloss sich dann nahtlos die gesamtindische Wahlkampagne an. Auch der schon scheinbar feststehende Wahlausgang dämpft die Spannung. Denn es wird ein deutlicher Wahlsieg der hindunationalistischen Indischen Volkspartei(BJP) erwartet, großer Wahlverlierer wäre die regierende Kongresspartei. Schärfe könnte der Wahlkampf durch die Bildung der sogenannten Dritten Front – ein Zusammengehen der linken mit einigen regionalen Parteien – bekommen, doch hier gibt es Probleme. Die so wichtige Einigung der kleineren Parteien auf gemeinsame Kandidaten in den Wahlbezirken läuft erst jetzt mit Mühe an. Und was macht der politische Senkrechtstarter, die Aam Admi Partei unter Arvind Kejriwal? Dieser konnte bekanntlich mit seiner neuen Partei im Dezember in Delhi die Regierung bilden und den Ministerpräsidenten stellen. Er wurde umschwärmt – sogar Bundespräsident Gauck war bei seinem Indienbesuch im Februar auf ein Treffen mit ihm erpicht – und steckte eine Menge Vorschusslorbeeren ein. Doch Kejriwal schmiss sein Amt in Delhi nach genau 49 Tagen hin, bevor er seine großspurigen Versprechungen auch nur in Angriff nahm. Er erwies sich als rechthaberisch, streitsüchtig und nicht fähig zu Kompromissen. Anstelle eines konstruktiven Programms setzte er auf Störmanöver und Populismus und hat damit einen Teil seiner Anhänger- und Wählerschaft verprellt. Bleiben die großen Regionalparteien in den bevölkerungsreichen Unionsstaaten, die sich ihrer Stärke bewusst sind. Sie warten auf die Koalitionsgespräche nach den Wahlen, um eventuell an der Regierungsbildung beteiligt zu sein.
Und mit Sicherheit wird es wieder zu einer Koalitionsregierung in Neu Delhi kommen. Darauf weisen alle Meinungsumfragen und Kommentatoren hin. So errechnete der bekannte Publizist und Unternehmer Minhaz Merchant in der Times of India, dass die BJP 230 Mandate erringen wird, das wäre zwar der Wahlsieg, bliebe aber unterhalb der absoluten Mehrheit von 272. Mit bewährten Verbündeten käme sie aber auf 284 Mandate, was zur Regierungsbildung reichen würde. Die bisher regierende Kongresspartei käme hingegen nur noch auf 75 Abgeordnete, mit ihren Koalitionären auch nur auf 104. Die Dritte Front bekäme nach Merchants Rechnung 58 Mandate, alle anderen verbliebenen Parteien 72. Darunter auch Kejriwals Aam Admi Partei, für die er 10 Parlamentssitze voraussagt.
Trifft das auch nur annähernd zu – und vieles spricht dafür – , dann steht Indien ab Ende Mai vor einem Regierungswechsel. Die seit acht Jahren regierende Koalition unter Führung der Kongresspartei würde durch eine von der BJP geführte Koalition abgelöst. Diese Entwicklung wäre das Ergebnis vor allem von zwei Faktoren. Zum einen die Schwäche der Kongresspartei, deren Regierungspolitik den Problemen des Landes und den Erwartungen der Menschen nicht mehr gewachsen ist. Die Partei hat es auch nicht verstanden, sich zu reformieren. Vielmehr wird an der dynastischen Führung mit der Nehru-Gandhi-Familie an der Spitze festgehalten. Doch Rahul Gandhi als letztem verwendbarem Spross dieser Dynastie fehlt es an Führungsqualitäten, auch bei seinen Wahlauftritten überzeugte er nicht. Den politischen Gegner aufs primitivste zu diffamieren(so wurde Modi mehrfach mit Hitler verglichen), oder sich in arroganter Weise über die Herkunft Modis aus ärmlichen Verhältnissen lustig zu machen, ist nicht nur schlechter Stil, sondern auch Ausdruck der Frustration vor dem Wahlausgang.
Die Kongresspartei steckt in einer tiefen Krise, wahrscheinlich wird in Zukunft der Nehru-Gandhi-Clan fähigeren Politikern Platz machen müssen. Zum anderen ist mit der BJP eine gut organisierte Kraft mit dem Willen zum Wahlsieg angetreten. Innerparteiliche Probleme wurden im Vorfeld bereinigt und mit Narendra Modi schon frühzeitig der Kandidat für den Posten des Premierministers bestimmt (die Kongresspartei hat bis heute eine offizielle Nominierung ihres Kandidaten vermieden). Modi versteht es, bei seinem Auftreten die Massen zu begeistern, und er bringt Erfahrungen aus seiner über zehn Jahre währenden Amtszeit als Ministerpräsident von Gujarat mit. Doch die entscheidende Frage ist, ob der Regierungswechsel mit einer Richtungsänderung der indischen Politik verbunden sein wird. Immerhin ist die BJP mit ihren Zweigorganisationen hindunationalistisch, teilweise sogar hinduchauvinistisch ausgerichtet. Wird sich das in der Regierungspolitik bemerkbar machen? Politischen Beobachtern zufolge kann es sich Modi nicht leisten zu polarisieren. Er wird vielmehr versuchen, die Kräfte des Landes zu bündeln. Während des Wahlkampfes ließ er klugerweise das ideologische Gepäck seiner Partei unbeachtet und bemühte sich demonstrativ um Minderheiten und religiös Andersdenkende. Narendra Modi ist der Mann der indischen Großunternehmer, zugleich knüpft aber auch der gesamte Mittelstand bis hin zum kleinen Händler große Hoffnungen an ihn. So wird erwartet, dass die wirtschaftliche Entwicklung Vorrang vor allen anderen Fragen hat. Das bisher enge nationalistische Herangehen an viele Fragen müsste dann allerdings einem breiteren Verständnis weichen. Das hat Indien übrigens schon einmal erlebt, von 1998 bis 2004, als eben diese BJP mit Atal Bihari Vajpayee die Wahlen gewann und den Premierminister stellte. Er war maßgeblich mit daran beteiligt, dass sich Indien als Schwellenland etablierte und Mitglied der G20 wurde. Mit spektakulären Aktionen wie der atomaren Testserie 1998, dem militärischen Sieg im aufgezwungenen Hochgebirgskrieg um Kargil, aber auch den Initiativen zu Entspannungsperioden mit Pakistan geht er schon heute in die indischen Geschichtsbücher ein. Narendra Modi – wenn er denn das mächtigste Amt im Lande bekleiden sollte – könnte in den Fußstapfen seines Vorgängers wandeln. Doch dazu muss er sich dessen allseits anerkannten nationalen Status erarbeiten.
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