17. Jahrgang | Nummer 5 | 3. März 2014

Tod des Lehrers

von Margit van Ham

Da sagt ein Mann zu sich, dass er ein unbrauchbarer Mensch sei. Er hat beschlossen, am Ende des Tages tot zu sein und irgendwie genießt er sogar dieses Loslassen von allem. Er sitzt am Zeller See mit Blick auf eine schöne Landschaft und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Eckhard Mieder, Schriftsteller und Filmemacher, Blättchen-Lesern durch zahlreiche Satiren bekannt, hat F., den Helden seiner Novelle „Tod des Lehrers“, über sein Leben nachdenken lassen und verknüpft dieses Nachdenken mit Begegnungen einer besonderen Art. Das erfolgt fließend, ist ein Spiel gekonnter Assoziationsketten und vieler schöner Bilder. Der Autor hat eines jener Bücher geschrieben, die fesseln, obwohl äußerlich nicht viel passiert und der Held auf Distanz zum Leser bleibt.
F., 53 Jahre alt, sieht sich selbst „preußisch, pflichtbewusst, phantasielos“. Er ist ein Faktenmensch. Ein Misanthrop, der sich mit seinen Zweifeln an Nietzsche festhält. Er war Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer in der DDR, unterrichtet – nach einer mehrjährigen Phase des Absturzes – nun an einer Privatschule im Rheingau. Irgendwie schafft er es, sich dem neuen Leben im Westen anzupassen, nach außen zu funktionieren, aber er leidet an „Heimatweh“. Sein Land ist ihm abhanden gekommen, ja sein ganzes Koordinatensystem. „Gestrandet im Nirgendwo“ wie es im Kurztext zum Buch heißt.
F.‘s rationale Selbstwahrnehmung wird ergänzt, ja konterkariert durch sehr emotionale Reaktionen. So sein totaler Rückzug nach der Wende (für ihn die Konterrevolution), der seine Ehe in ernste Gefahr bringt, das Verhältnis zu den Töchtern zerstört. Das passt eigentlich nicht zu dem sachlichen Historiker, der stolz darauf ist, in großen Kategorien zu denken (die kleineren sind nichts für ihn), der sich an Nietzsche orientiert, sich fragt, ob er Zyniker sei.
F.‘s Haltepunkte im Leben sind neben Frau Magda der ehemalige Kollege und Freund Kalisch, Geschichtslehrer in der DDR wie er, aber mit Charisma und Menschenliebe ausgestattet, sowie der Westkollege Groterjahn, der ihn nach der Wende an die Privatschule holt. Sie sind „brauchbare Menschen“ nach Meinung von F. Sie strahlen eine ruhige Klarheit aus, lassen sich nicht kirre machen von schnellen Urteilen, schnellen Berichten, schnellen Ansichten. Kalisch und Grotherjahn sind Geschichte-Menschen mit Gefühl dafür, was in Zeiten geschehen kann, wieviel Verantwortung ein Einzelner für seine Taten und Sätze trägt, denkt F. und vermutet, dass das nur Menschen könnten, die Menschen lieben. F. liebt die Menschen nicht, die Liebe zu Magda ist ihm selbst ein Rätsel.
F. ekelt sich vor der Welt von heute. Zugleich zieht es ihn in die Welt – in einsame Landschaften im Norden, geht sein Herz auf bei der Erinnerung an Straßenbekanntschaften mit Israelis und Palästinensern. Den politischen Anschauungen von F., seinem Denken über die Probleme der Menschheit, über Ost und West widmet der Autor ausführliche Passagen. Da predigt er teilweise und ab und an gewinnt hier der politische Text die Oberhand über den literarischen. Glücklicherweise findet der Autor immer wieder schnell in seinen schönen Erzählton zurück.
Seine Frau Magda ist der geerdete, früher fröhliche Gegenpol. Sie will persönliches Glück und fordert von F., sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren. „Suchst du nach Oasen der Vergangenheit“, fragt sie, als er sein Leben ausfüllt mit Fotos von Überresten der Vergangenheit, die er noch finden kann – Skulpturen, Gedenksteine, Haine für gefallene Sowjetsoldaten. „Wo du dich laben und dein Selbstmitleid pflegen kannst? Nach dem Motto: Wenigstens diesen Platz können sie dir nicht rauben. Wenigstens hier ist die Geschichte noch so, wie du sie gelernt hast? Suchst du unterm Roten Stern noch immer deinen Weg zu neuen Morgenröten? Als Ersatz-Nietzsche?“ Irgendwann fragt sie nicht mehr und er beendet dieses Hobby. Die Ehe hatte überlebt, F. liebt Magda, sagt er. Aber als sie nach Jahren der scheinbaren Normalisierung ihres Lebens ins erste eigene Heim im Rheingau einziehen, steht sein Entschluss fest, aus dem Leben gehen zu wollen.
Er ist mit sich und den großen Kategorien der Weltgeschichte beschäftigt, bemerkt nicht, dass seine Frau unglücklich ist. Der Leser erfährt, dass sie schwer krank war, da F. sie nach einer sechswöchigen Rehabilitation aus der Klinik abholen will. Er könne nicht mit Krankheit umgehen, gesteht F. sich ein. Aber Magda ist verschwunden – und ihr Weggehen lässt den bisher unbestimmten Suizidplan zum nächsten Schritt für F. werden.
Der letzte Tag seines Lebens ist voller Begegnungen mit Worten und Menschen, die wenig mit dem phantasielosen Menschen der Selbsteinschätzung zu tun haben. Eckhard Mieder lässt F. bezaubern von einem Liedtext, den er für Kitsch hält. Ein Wunsch, Zeit und Glück in einer Flasche verpacken und festhalten zu können für die nach uns Kommenden. F. gefällt diese Idee, die irgendwie das Große und die kleinen Dinge des Lebens miteinander verknüpft. Er begegnet einem Spaziergänger, der an Tod denken lässt, spricht mit einer scheinbar heilen Familie. Recherchiert nach dem Schicksal der Juden des Gebietes. Das sei er sich als Historiker schuldig. Eine Rollstuhlfahrerin mischt sich in seine Gedanken und provoziert mit ihrem Lebensmut, mit ihrer körperlichen Kraft und Wendigkeit trotz Behinderung. Sie hat mit Magda in den sechs Wochen der Kur über ihre Träume gesprochen. In denen war kein Platz für F., wie sie sagt. F. hat losgelassen. Auch den Plan, sich am gleichen Tag umzubringen. Morgen ist auch noch ein Tag, sagt er.
Eine empfehlenswerte Lektüre auch für die, die nicht wie Eckhard Mieders Held F. zu lange in der Vergangenheit leben.

Eckhard Mieder: Tod des Lehrers. Novelle, verlag am park, Berlin 2014, 148 Seiten, 12,99 Euro.