von Eckhard Mieder
Ende 2013 schrieb eine Autorin namens Antonia Baum in der FAS über Teile ihrer Kindheit und Jugend im „gottverdammten Odenwald“. Anfang des Jahres 2014 machte ein Fußballer namens Thomas Hitzelsperger in einem Interview mit der ZEIT seine Homosexualität bekannt. Es müsste jetzt noch das Geständnis einer neuen Verteidigungsministerin (namens Ursula von der Leyen) folgen, dass sechs ihrer sieben Kinder Kuckuckskinder seien.
Dem sollte die lang verschwiegene, doch bekannte und endlich öffentliche Auskunft eines neuen Bundeswirtschaftsministers namens Sigmar Gabriel folgen, dass er seine Rundlichkeit einem Zwillingsbruder verdanke, dessen Geburt seit Jahrzehnten erwartet wird.
Komplettieren könnte eine Bundeskanzlerin namens Angela Merkel das mediale Hoch mit einer Richtigstellung. Nämlich sei ihre weihnachtliche Verletzung nicht die Folge eines Sturzes bei behäbigem Ski-Langlauf, sondern das Ergebnis einer schief gelaufenen Operation, während der ihr ein HH entfernt wurde; HH („Hüfthalter“) heißt in der James-Bond-Poesie der NSA ein winziger Apparat, der in Knochen implantiert wird. Er fungiert als Sender, aber auch als Empfänger; er gibt Auskunft über die Bewegungen des infiltrierten Objekts, kann aber nötigenfalls auch über Tausende Kilometer zur Explosion gebracht werden …
Haben wir sie noch alle? Oder merken wir wirklich nüscht mehr? Oder liegen wir alle auf dem Rücken und lassen uns den Bauch kraulen und fiepen wie selige Welpen, weil es uns so gut geht, im Moment?
Vor Jahren begann eine der Wanderungen mit meiner Liebsten in Grasellenbach, einem Örtchen im Odenwald. Wir stiegen zum Brunnen hoch, an dem seinerzeit Siegfried den tödlichen Stoß Hagens erhielt/erhalten haben soll. Das bedauerliche Ende eines Helden, dem Trost innewohnte: Er musste nicht mehr miterleben, wie aus ihm ein Mythos wurde und wie sein Mörder den Nibelungenhort im Rhein an unbekannter Stelle versenkte. (Ihn in einem Fluss zu verstecken halte ich für die bessere Idee, als ihn irgendwo zu verbuddeln. Jeder Vollhorst, der über einen Spaten und einen Flitz verfügt, kann nach dem Bernsteinzimmer graben. Zum Tauchen in trüber Brühe braucht es mehr als Chuzpe.)
Die Wanderung ging über zwei Tage durch Wald und Schnee. Es war wunderbar und anstrengend, und als am Abend des ersten Tages ein Auto anhielt – wir hatten eine Straße erreicht und elende Asphaltkilometer vor uns – und uns vor die Herberge fuhr, waren wir glücklich. Die Insassen des Autos, drei Jugendliche, waren neugierig und freuten sich, als wir von Berlin und Frankfurt erzählten. Sie selbst seien auf dem Wege irgendwohin, wo was los sei.
Das alles fiel mir ein, als ich den Beitrag der Antonia Baum las.
Den Jahreswechsel feierten meine Holde und ich in einer urigen Äppelwoikneipe in Frankfurt-Bornheim. Wir hatten ein befreundetes Paar (Mann und Frau) aus Dresden, ein befreundetes Paar (Mann und Mann) und eine Freundin (Frau) aus Frankfurt eingeladen. Wir tanzten viel zusammen, wir tanzten getrennt, wir tranken, und Olga Orange trat auf. Olga ist ein Travestie-Künstler, der mir echt auf den Keks ging. Wenn ein dicker Mann sich als Frau verkleidet und ein Feuerwerk hessischer Babbelei abschießt – nee, Freund, ditt is nun doch nich mein Ding. Aber der Saal lachte bärisch, und es war, als wir allesamt auf der Berger Straße unterm Knall-Himmel standen und uns umarmten und alles Gute wünschten, durchaus ein gelungenes Fest.
Das alles fiel mir ein, als ich das Interview mit Thomas Hitzelsperger las.
Fast hätte ich, der Jahreswechsel lädt zur Besinnung und Verdämmerung ein (ha!), vergessen, dass es um mich herum eine Zweckgemeinschaft aus medialer, politischer und lokaler Hybris gibt.
Der Baum-Text löste einen (noch anhaltenden) Tsunami aus. Dass die Frau über sich und über ihre Sehnsüchte heraus aus der „Hölle“ des Odenwalds geschrieben hatte – das regte auf. Und Einwohner, Landräte, lokales Fernsehen empörten sich – und bestätigten das, was Frau Baum gemeint haben könnte. Dass es eine enge Welt ist, aus der sich ein junger Mensch gern woandershin wünscht. (Bisher sah und las ich nicht eine einzige Meinung von Jugendlichen des Odenwaldes zum Thema. Vermutlich nehmen sie den Rummel nicht wahr, oder er geht ihnen an der Kerbe vorbei.)
Übrigens, kleiner Ausflug in den Nebel der Vergangenheit. Die meisten Meinungs-Matadore kennen den Baum-Text vermutlich nicht. Das ist wie damals, mutatis mutandi, versteht sich. Als eine Kampagne für die Ausbürgerung eines Klampfensängers namens Wolf Biermann organisiert wurde. Das ging hoch her, holla, die (Oden)waldfee! Nur gelesen hatte kaum jemand die Biermann-Texte. Gehört hatte kaum jemand seine Lieder.
Das Hitzelsperger-Interview löste einen (noch anhaltenden) Tsunami aus. Dass der Mann ein Tabu brach – Profifußballer und Homo und so –, aber da rappelt’s im Karton. Das ist der Stoff, aus dem Zeitungsartikel, Sendestunden, Special-Interviews etc. pp. sind. Wenn wir schon keine anderen Probleme haben, können wir die wenigstens noch mehr zukleistern mit Problemen, die wir auch nicht haben; aber vielleicht haben wir ja doch Probleme, die so zugekleistert sind, dass wir die nicht wahrnehmen sollen/wollen, und natürlich ist die Homophobie ein Problem, gut, dass wir drüber reden…
Und wenn jetzt von der Leyen, Gabriel und Merkel dazukommen – ich freue mich sehr darauf. Ich habe ja sonst keine Probleme.
Den Baum-Text las ich übrigens beim Sonntagsfrühstück mit Genuss. Ich höre dem Hitzelsperger gern zu, wenn er auftritt. Er ist ungefähr so sympathisch wie meine schwulen Freunde. Es will mir vorkommen, als vernehme ich Vernunft, Gelassenheit und Lebensfreude. So gesehen hat das Jahr verdammt gut angefangen. Voller Schwulitäten. Das kann heiter werden.
P. S.: Es gibt einen Roman, der mich entzückt hat: „Nibelungenfieber“; ich las ihn etwa in der Zeit der oben genannten Wanderung durch den Odenwald. In dem unscheinbaren, nahezu vergessenen Odenwald-Dörfchen Loch wird nach einem schweren Unwetter eine goldene Kette gefunden. Es kann sich nur um ein Teil des Nibelungenschatzes handeln! Die Kunde davon dringt – einer Namensverwechslung wegen – in die New York Times. Ab da wird Loch zur Metropole eines Hypes, der Politiker, Dorfbewohner, Journalisten und anderes umfasst; Loch ist eben auch nur Deutschland.
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