von Peter Liebers
„Ich staune über mein langes, langes, volles Leben“ bekannte Inge Keller 2001 in einem Gespräch mit Günter Gaus, und es verwundert, dass die Schauspielerin erst anlässlich ihres 90. Geburtstages von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste den Theaterpreis „Der Faust“ für ihr Lebenswerk zugesprochen bekam. Mit George Tabori, Pina Bausch oder Tankred Dorst befindet sie sich in bester Gesellschaft, und dennoch gilt die Frage, warum dieser so oft als „ Grande Dame der deutschen Schauspielkunst“ apostrophierten und seit Jahrzehnten von Publikum und Kritik gefeierten Künstlerin erst jetzt diese Auszeichnung zu Teil wurde. Anstellen, in der „Warteschleife“ sein, ist bei einer solchen Ehrung unwürdig. Inge Keller, die am 15. Dezember 1923 in ein großbürgerliches Elternhaus hineingeborene Tochter, wurde zwar später im DDR-Fernsehen, wie sie es selbst nennt, als „Gräfin vom Dienst“ gehandelt, aber sie wusste nach ihrer Entscheidung für das Theater schon früh, dass Erfolg erarbeitet werden muss. „Mein Vater, ein Urberliner, sagte: ,Wenn de arbeitest, is jut, wenn nicht, kriegste keen Geld mehr.‘“
Von einer „höheren Bestimmung“ für die Bühne will sie nichts wissen. Es seien „Zufälle, nichts Besonderes“ gewesen. Nach der Ausbildung debütierte sie 1942 am Berliner Theater am Kurfürstendamm, doch der Krieg zwang sie in die sächsische Provinz nach Freiberg und Chemnitz. Es blieb für sie nicht nur die Kunst. Mit der „kriegsbedingten Schließung“ der Theater wurde Inge Keller zur „kriegswichtigen“ Auto-Union dienstverpflichtet. Von 1945-1947 spielte sie in Freiberg alles, was in dieser Zeit neu, gut und wichtig war – von Schillers „Kabale und Liebe“, auf der Freilichtbühne Greifensteine in Ehrenfriedersdorf in „Stülpner Karl“ bis zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ und „Professor Mamlock“, einem aufrüttelnden Stück Friedrich Wolfs, das 1933 kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten entstanden war und sich mit deren Judenverfolgung auseinandersetzte. Nach Kriegsende die Chance zu ernsthafter Auseinandersetzung zu nutzen und nicht zuletzt mit der Darstellung der Ärztin Inge Ruoff etwas aus der Zeit heraus begriffen zu haben, lässt Inge Keller, die erklärtermaßen „nie in meinem Leben bis Kriegsende etwas von Auschwitz gehört“ hat, betroffen gestehen, dass damit „ein ständiger Lern- und Erfahrungsprozess begann“.
Zurück in Berlin war sie 1948 am West-Berliner Hebbel-Theater wieder die Dr. Inge Ruoff in Wolfs „Mamlock“. Es ist wohl nicht kurzschlüssig anzunehmen, dass die Entscheidung dafür ihre folgenden Jahre beeinflusste – politisch wie künstlerisch. Zwar meint sie, „was eine politische Haltung betrifft“, sei „alles viel simpler in mir, nämlich eine menschliche Grundhaltung: ein großes, starkes Gerechtigkeitsgefühl und vielleicht ein Gespür für die ‚Unteren‘, die Verlierer.“ Und sie fügt persönliche Episoden an, was in ihren Selbstaussagen äußerst selten geschieht. Wenn sie mit Karl-Eduard von Schnitzler, von 1952-1956 ihr Ehemann, zum Boxkampf gegangen sei, „dann brüllte ich stets für den Verlierer (…) Und wenn ich mit meinem Vater auf seiner Jagd bei Bernau war und ein Bock auf die Lichtung heraustrat, auf den er lange gewartet hatte, hustete ich. Und der Bock verschwand. Was mich heute noch tief erfreut. Ich denke, dass da Wurzeln sind. Aber vom Kopf her war ich nie ein politischer Mensch. Es kommt aus dem Bauch.“
Ein solches Bekenntnis aus dem Leben und der Karriere der Schauspielerin Inge Keller ist eine Rarität und wohl nur dem Vertrauen in den von ihr als integer akzeptierten Gesprächspartner Günter Gaus geschuldet. Ihm konnte sie gestehen, dass das Ende der DDR für sie „eine Trauer der verlassenen Geborgenheit mit einem immer wieder aufbrechenden Zorn über die Dummheit von erwachsenen Menschen und so viel Heuchelei“ sei. „Dieser große Versuch, für den Millionen Menschen gekämpft haben, gestorben sind… Mein Gott, es kann doch nicht sein, dass all die Menschen, die im Faschismus gefoltert, gehenkt, ermordet wurden, dass das umsonst gewesen sein soll? Ich mache mir die Hoffnung und sage: ,Nichts war umsonst, wenn ich stark bin.‘“
Inge Keller behauptet nicht, immer „stark“ gewesen zu sein. Vielmehr gesteht sie, dass sie nicht „weiß, was sie gemachte hätte, als Rudolf Noelte mich holte, mit mir ‚Elektra‘ zu machen“. Es war Ende der 1970er Jahre, als der Regisseur sie ans Westberliner Renaissance-Theater einlud, ein Akt des künstlerischen Überlebens für sie, der sich 1979 wiederholte, als die Theaterlegende Noelte mit ihr Ibsens „Die Wildente“ am Theater der Freien Volksbühne inszenierte. Das waren ihre „mageren Jahre am Deutschen Theater“, wie sie sagt. Einer „der Oberen“ in der DDR-Kulturverwaltung hat Gott sei Dank die Einsicht gehabt: „Die spielt nichts am Deutschen Theater, wir müssen ihr das erlauben.“ Inge Keller beschreibt sich mit dieser Episode nicht als ein Opfer, vielmehr liegt ihr an der Feststellung, dass auch solche Entscheidungen möglich gewesen seien, und sie fordert in ihrer Unbedingtheit ein: „Differenzieren bitte, differenzieren!“
Die Schauspielerin Inge Keller galt als schwierig, wurde nicht besetzt oder mit Rollen betraut, die dem Klischee der „diensthabenden Gräfin der DDR“ folgten. Ihre Disziplin, ihr Beharrungsvermögen, ihr Fleiß und der Wille, an der Ausformung einer Rolle beteiligt zu sein einerseits, ihre Diskutier- und Fragelust andererseits ließen sie isoliert in einem Ensemble, dem sie seit 1950 angehörte und dessen Qualität sie entschieden geprägt hat. Der Generationenwechsel in der Zeit nach für sie prägenden Regisseuren wie Wolfgang Heinz, Wolfgang Langhoff, Benno Besson oder Manfred Wekwerth ging am Deutschen Theater, das nicht nur für das Theater der DDR Maßstäbe setzte, entschieden auf Kosten von Inge Keller. Hoch geschätzt war sie existenziell konfrontiert mit den Schattenseiten ihres Berufs: „Abhängig von allem und jedem.“ Und das in einem Schauspielerinnenalter, für das Rollen rar sind.
In dieser Not versendete sie mit Lesungen literarischer Texte Signale ihres Beteiligtseins – von Christoph Heins „Der fremde Freund“, Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“, Ingeborg Bachmanns „Drei Wege zum See“ bis zu Wolfgang Langhoffs „Die Moorsoldaten“ und Heinrich von Kleists „Marquise von O.“. Und sie behauptete ihre Anwesenheit auf die ihr gemäße Weise: „Arbeiten, arbeiten!“ Dabei konnte leicht des Guten zu viel geschehen. Wie schon 1963 bei ihrer überaus gründlichen Beschäftigung mit Goethes „Iphigenie“ in der Regie von Wolfgang Langhoff, bei der sich der Regisseur schlicht und einfach wünschte: „Ingele sei doch wieder doof.“ Amüsant als Anekdote, aber überaus hart für eine Künstlerin, für die das Verstehenwollen eine Existenzform ist.
Dass die US-amerikanische Regielegende Robert Wilson sich für sie interessieren könnte, war nach einer so akribisch-preußisch gelebten Disziplin für das Alterswerk der Inge Keller nicht selbstverständlich. Umso größer das Glück für die nun 90-jährige Schauspielerin, das ihr in Verehrung anhängende Publikum und nicht zuletzt die von ihr beständig behauptete Tradition der Schauspielkunst, in seiner Inszenierung der Shakespeare-Sonette am Berliner Ensemble in denkbar höchster künstlerischer Form ihre 70-jährige Bühnenkarriere beenden zu können.
In der ihm eigenen, eher unterkühlten Art hatte der Dramatiker Heiner Müller in Verehrung zum 70. Geburtstag von Inge Keller geschrieben, dass dem Mimen von der Nachwelt zwar keine Kränze geflochten würden, er sich aber sicher sei, dass in Ihrem Falle „eine Ausnahme gemacht“ würde. Müller behielt hierin Recht, eben dieser Fall erweist sich am Lebenswerk der Inge Keller.
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