von Ulrich Scharfenorth
Noch am 1. November habe ich den Moskauer Coup für völlig verrückt gehalten. Wie konnten Christian Ströbele und Co. Edward Snowden so einfach treffen? Und vor allem: Was ging da in den Köpfen der Beteiligten vor? Snowden war zu weiter gehenden Aussagen in der NSA-Affäre bereit. Er würde sogar nach Deutschland kommen, wenn die Bedingungen dafür stimmten, wenn für seine Sicherheit gesorgt wäre. Ströbele seinerseits könne sich vorstellen, dass der Whistleblower unter bestimmten Bedingungen in Deutschland Asyl bekäme. Soweit diese ersten Tage, soweit dieser erste Rundumschlag, der eine Vielzahl von Menschen in extreme Spannung versetzte. Bei mir persönlich hielt sich der Argwohn. Wie konnte Ströbele, wie konnte Snowden davon ausgehen, dass dieser Deutschlandaufenthalt zustande käme? Jeder wusste doch, dass die schwarz-gelbe Regierung ein entsprechendes Asylersuchen bereits im Juli abgelehnt hatte. Konnte Ströbele glauben, dass Angela Merkels blödes Handy-Theater so plötzlich für neues Licht sorgte? Ströbele musste diese Frage vorausgeahnt haben.
Natürlich wusste er um die Probleme: Die Amerikaner hatten längst ein vorauseilendes Auslieferungsersuchen gestellt, und dass eine Befragung hierzulande vor allem für die Kanzlerin neue Schwierigkeiten bringen musste, war auch klar. Also brachte man eine andere Variante ins Spiel: die Befragung Snowdens in Russland durch ausgewählte (bisher nicht benannte) Personen aus Deutschland. Verdächtig schnell kam dann eine Stellungnahme aus Putins Ecke. Selbstverständlich – so hieß es – könne jedermann Snowden auf russischem Boden befragen. Sollte das heißen, dass Snowden tatsächlich weiter auspacken konnte? Natürlich nicht, denn Snowden hatte Putin versprechen müssen, den USA nicht weiter zu schaden. Nur unter dieser Voraussetzung war das Asyl in Moskau gewährt worden.
Jetzt musste sich jeder, der die Vorgänge verfolgt hatte, fragen, was die Bereitschaft Snowdens überhaupt wert war. Wenn der mit jedem neuen Detail, mit jeder weiter gehenden Entschlüsselung sein Bleiberecht in Frage stellte. Auch die folgende Verlautbarung des Kremls, Snowden könne problemlos nach Deutschland reisen, verliere dann allerdings sein Asylrecht, sorgte für Kopfschütteln. Es entstand der Eindruck, dass Putin die USA zwar weiter ärgern wollte, aber eben nur mäßig. Und dass er durchaus erwog, den unbequemen Gast loszuwerden. Wer schon war sicher, dass der Ex-KGB-Mann Putin über Geheimnisverräter so völlig anders dachte als Obama? Die Karten waren eben nur anders, nämlich so gemischt, dass Moskau profitieren konnte. Wenn Deutsche Mr. Snowden abschöpften, wenn Deutsche ihre Regierung in die Bredouille brächten, dann käme er, Putin, aus der Zwickmühle.
Inzwischen stellte Regierungssprecher Seibert klar, dass es auch unter den neuen Umständen keinen Grund gebe, Snowden Asyl zu gewähren. Das hat zweifellos mit den extrem angespannten Beziehungen zwischen der deutschen und der US-Regierung zu tun. Man keucht und sucht den Ball niedrig zu halten. Wie weit Merkels Aufklärungswille wirklich geht, ist schlecht auszumachen. Schon möglich, dass hier sehr bald bagatellisiert wird: Schließlich war es nur ein unwichtiges, ungeschütztes Zweithandy, das der Schnüffelei anheimfiel.
Ganz klar: Die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit wird schwer auf die Probe gestellt. Wer Verbündete bespitzelt, und wer das sogar aus den eigenen Botschaften heraus tut, der schockiert allenthalben – auch deutsche Bürger. Und wenn diese Bürger dann hören, dass führende Geheimdienstler der USA die NSA-Schnüffelei für völlig belanglos halten, dann bricht bei ihnen nicht nur Schweiß sondern auch Wut aus. Kein namhafter Politiker scheint derzeit zu wissen, wer hier wen mit Nachrichten versorgt und bei wem partizipiert hat, wer wo wann und in wessen Auftrag handelte. Plötzlich heißt es, dass auch deutsche Geheimdienste um Auskünfte ersuchten, NSA-Daten nutzten und selbst abschöpften. BND, Verfassungsschutz und so weiter halten sich aber eher verschlossen. Klärende Auskünfte gibt es nicht. Man verstieg sich gar zu der Behauptung, dass deutsche Stellen zur effektiven Spionage gar nicht fähig wären. Wer’s glaubt, wird selig.
Auf jeden Fall: Der Mann, dem wir alle viel zu verdanken haben, kommt jetzt in eine noch gefährlichere Situation. Ihm wird suggeriert, dass er irgendwo – am besten in Deutschland oder aber in Moskau – gefahrlos weiter auspacken könne. Natürlich nur, wenn die Randbedingungen (welche denn wohl?) stimmten.
Glaubt Edward Snowden diesen Einflüsterungen? Kann es sein, dass er irgendeiner dieser Strategien vertraut? Der Mann habe sich selbstsicher und auskunftsfreudig gegeben – sagte Ströbele nach seiner Rückkehr. Aber ist es möglich, dass Snowden wirklich die Ruhe selbst ist? Muss er nicht vielmehr verzweifelt sein – jetzt, da die Chance auf Asyl weiter schwindet? Nicht nur Deutschland ist für ihn aus dem Rennen, selbst in Russland könnte der Boden heiß werden. Und auch Frankreich – hier hatte Snowden ebenfalls angefragt – rührt sich nicht.
Werden weitere Gespräche in Moskau geführt, vieles spricht dafür, dann gerät Snowden in akute Lebensgefahr. Nicht nur die USA werden dann alles versuchen, um den „Verräter“ zu packen. Auch andere Akteure könnten interessiert sein, Snowden loszuwerden. Ob er bis zum Zeitpunkt X weitere pikante Geheimnisse preisgeben würde, sei dahin gestellt.
Aber treten wir etwas zurück. Irgendwie war der Grünen-Politiker Ströbele schon erfolgreich. Ob er vor allem Punkte für seine verprellte Partei sammeln oder sich ein wenig selbst inszenieren wollte, zählt hier nicht. Ströbele hat verhindert, dass Snowden und damit die NSA-Affäre über täppische Streits um Hilfshandys in Vergessenheit geraten. Und tatsächlich: In Deutschland wurde der Wille zur Aufklärung substanziell gestärkt – und zwar vor allem durch den Gang in die Öffentlichkeit. Doch um welchen Preis? Wäre es nicht um vieles geschickter gewesen, Snowden in Geheimverhandlungen zu befragen? Das hätte mehr Sicherheit für den Whistleblower versprochen, andererseits aber nie den Druck aufbauen können, der jetzt herrscht. Doch wem hilft dieser Druck, und wie wird man ihn nutzbringend einsetzen?
Nüchtern betrachtet sieht die Sache so aus: Edward Snowden geht mit seiner Zusage, auch bisher nicht entschlüsselten Codes preiszugeben, ein hohes Risiko ein. Westliche Medien und „Berufsaufklärer“ dürfte das – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wenig oder gar nicht interessieren. Was ist schon die Person Snowden im Vergleich zur ausbeutbaren Substanz. Hier wird in der Regel gnadenlos seziert, sortiert, märtyrisiert und auflagenstark verbraten.
Die alte Regierung, aber auch die „Seeheimer Genossen“ sind vorerst hilflos. Linke und Grüne fordern nach wie vor Asyl für Snowden und dann natürlich seine Einvernahme in Deutschland. Auf der anderen Seite versuchen sich die Amerikaner in Schadensbegrenzung. Sie bitten und drohen unter der Decke, kommen plötzlich mit einem Vertragsentwurf, der die Spionage innerhalb der Bündnisse irgendwie regelt. Unter Freunden solle es zumindest in den Bereichen Wirtschaft und Regierung keinerlei Abschöpfung mehr geben.
Dass die deutsche Kanzlerin heillos verstrickt ist, wird vollends offenbar, wenn man das Gezerre ums geplante Freihandelsabkommen betrachtet. Bekanntermaßen ist das durch die NSA-Affäre schwer ins Schleudern geraten. Dabei hält der Druck auf die Regierung, die geplante Vereinbarung so schnell wie möglich auf die Reihe zu bringen, unvermindert an. Immerhin versprechen sich maßgebliche Konzerne aus den USA und Europa neue märchenhafte Gewinne – aus sinkenden Zinsen, ausgehebelten europäischen Kontrollmechanismen, weichgespülten Export- und Importbedingungen. Da passen Querelen um Snowden und Co. überhaupt nicht.
Und wie geht es weiter? Natürlich wird die neue deutsche Regierung, natürlich werden die EU-Mitgliedsländer ein Spionageabkommen verhandeln und dann auch abschließen. Das wird den deutschen Michel und viele der EU-Bürger beruhigen. Sehr viel ändern dürfte sich allerdings nicht. Denn natürlich wird man weiter spionieren.
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