von Klaus Teßmann
Dunkel ist es in der kleinen Seitengasse im Berliner Scheunenviertel. Einige Männer mit breiten Hosenträgern und Schiebermützen streben schweren Schrittes die Gasse hoch. Mit kurzen Schritten trippeln einige junge, leicht bekleidete Mädchen ihrem Arbeitsplatz am Rosentaler Platz oder an den Hackeschen Höfen entgegen. In der Mitte der Gasse quietscht eine schwere Eichentür in ihren Angeln, ein Lichtstreifen fällt auf die Straße. In der Ferne kratzt eine Grammophonnadel auf einer Schellackplatte. Ein Mann mit Schiebermütze und Lederscherze stürzt aus der Tür, wankt in breiten Kurven über die Straße. Durch die offene Tür zieht eine dicke Wolke von grau-schwarzem Zigarrenqualm, der Geruch von abgestandenem Bier und Kümmel zieht hinterher. In großen Buchstaben steht „15 Gastwirtschaft 15“ über der Tür. Doch unter diesem Namen kennt kein Berliner die Kneipe in der Mulackstraße 15. Unter ihrem Spitznamen „Mulackritze“ ist sie aber in allen Teilen der Stadt bekannt.
In der Kneipe sitzen leicht bekleidete Damen, sie machen Pause von ihrer Schicht. Auf dem Kanonenofen steht eine große emaillierte Kanne. Darin hat der Wirt immer frischen Kaffee für die Bordsteinschwalben und die Stricherjungs, wenn sie sich ausruhen kommen oder bei Nacht und Kälte in der schmalen Lokalität aufwärmen wollen. Die Kneipe ist gerade so breit wie zwei Fenster und eine Tür. Dafür ist der Gastraum aber sehr lang. Der Tresen und das Rückbüfett sind die typische Einrichtung einer Straßenkneipe, die zu Hunderten in der Gründerzeit in den Arbeiterwohnvierteln gebaut wurden. Sie waren für die Arbeiter und kleinen Angestellten die „gute Stube“, die sie sich nicht leisten konnten. Die Mulackritze hatte einige Besonderheiten. Sie war Anfang des 20. Jahrhunderts eine der berühmtesten und berüchtigsten Lesben- und Schwulenkneipen Berlins. Aber auch so manche feine Dame, die ihrem Alltagstrott entfliehen wollte, liess sich hier auf ein Abenteuer blicken.
In der Ecke am Tresen war öfter ein stämmiger Mann im Lodenmantel anzutreffen. In den Mundwinkeln hing der kurze Stummel einer Zigarre. Stets hatte er einen Stift und einen Zeichenblock zur Hand. Es war Pinselheinrich, der hier seine Studien für die Kneipenszenen betrieb. Er saß am Tresen, hörte den Straßenmädchen aufmerksam zu und schrieb daraus ein Buch und ein Theaterstück „Die Hurengespräche“. In diesen setzte Heinrich Zille den Bordsteinschwalben aus der Mulackstraße ein bleibendes Denkmal. Das Stück wurde 1913 aufgeführt und sofort von der Zensur verboten. Sein Theaterstück und das Buch waren genauso zeitkritisch wie die Zeichnungen aus den Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs und des Friedrichshains. Aber die Straßenmädchen mit den exotischen Namen Olga, Pauline, Rosa, Alma, Pinselfrieda, Bollenguste, Lutschliese und Minna blieben der Nachwelt erhalten. Zilles Erzählungen handeln von Missbrauch an Kindern, von Gewalt in den Familien, von den katastrophalen Lebensbedingungen im Arbeitermilieu. Gnadenlos rechnet er mit den Zuständen in den armen Schichten der Bevölkerung ab, berichtet mit großer Detailgenauigkeit von der Schwängerung eines kleinen Mädchens durch den eigenen Vater oder über die Vergewaltigung einer Frau durch einen Landstreicher. Das ist aber nur die eine Seite ihres Lebens – sie gehen alle noch einer ganz normalen Beschäftigung als Blumenfrau oder Fabrikarbeiterin nach.
Die Bordsteinschwalben waren nur der eine Teil der Stammgäste. Der andere Teil waren die schweren Jungs der Spar- oder Ringvereine. Auf einem Schild an der Wand zeigte der Sparverein „Immertreu“ an, wann die nächste Sitzung im Lokal stattfindet. Zu dieser Sitzung strebten die eingangs beschrieben Herren mit Schiebermütze und den breiten Hosenträgern. In den Vereinen galten strenge Regeln. Zu spät kommen war verboten, Tiere mitbringen war verboten, Fluchen war verboten. Von ihren Brüchen zahlten die schweren Jungs brav in die Vereinskasse ein. Mit diesem Geld wurden Rechtsanwälte finanziert, die die Jungs so schnell wie möglich aus dem Knast wieder rausholen sollten. Und wenn einer ihrer Vereinsbrüder wirklich einmal vom Greifer gefasst wurde, dann gab es genug Zeugen, die ihm ein falsches Alibi gaben. Und war der Berliner Boden unter den Füßen der schweren Jungs einmal zu heiß geworden, so vermittelten die Vereine auch neue Arbeitsmöglichkeiten in einer anderen Stadt – es ging schon „ehrbar“ zu in diesen Kreisen.
Es gab noch eine dritte Gruppe von Besuchern. Vor allem in den zwanziger Jahren wurde die Ritze zum Eldorado jener Schauspieler, die wenige Jahre später durch den Tonfilm zu Weltruhm kamen. Wenn man der mündlichen Überlieferung trauen kann, waren Henny Porten, Fritzi Massary, Claire Waldoff, Max Fallenberg, Hubert von Meyerinck, Gustav Gründgens, Wilhelm Bendow, Siegfried Breuer Stammgäste. Auch der jüdische Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld gehörte dazu.
Obwohl an der Wand das Schild „Tanzen verboten“ hing, ging es immer hoch her. Man wollte vor allem die Vergnügungssteuer einsparen. Und so trafen sich die Frauen in Männerkleidung zur „Dienstagsgesellschaft“. Für die Männer war der Donnerstag in Frauenkleidern reserviert. Wenn doch einmal beide Gruppen zusammen waren, kamen sie selbstverständlich zum verkehrten Ball. Auch das Schild „Klammern ist verboten“ hatte keine Bedeutung. Klammern ist ein jüdisches Kartenspiel und heißt eigentlich „Klaverjas“. Mit dem Begriff konnte der Berliner aber nicht viel anfangen und hat einfach „Klammern“ draus gemacht. Auf einem Schild unter der Wanduhr war zu lesen „Protistuierten ist der Eintritt in dieses Lokal verboten. Laut Polizei-Verordnung“. Der Schreibfehler macht es deutlich: Das Verbot ist nicht allzu ernst zu nehmen. Zeitweilig liefen bis zu acht Mädels für den Laden. Für sie hatte der Wirt in der Dachkammer eine feste Arbeitsmöglichkeit geschaffen. Oben in der Dachstube gab es auf Wunsch des Gastes entweder Streicheleinheiten oder „Liebe mit Hiebe“. Dazu diente ein hölzener Bock – der „Hurenbock“, der später erst in Unehren fiel und als Schimpfwort verwendet wurde.
Mit der NS-Zeit brachen auch für die Mulackritze schwere Zeiten an. Viele Gäste wurden verfolgt, weil sie anders waren, weil sie homosexuell, Juden, Roma, Sinti, Nutten oder politisch Andersdenkende waren. Niemand durfte mehr tanzen. Wenn die Spitzel ins Haus kamen, legte der Wirt eine Nazi-Platte zur Warnung für die Eingeweihten auf. Aber man hielt zusammen im Kiez. Dem Wirt Fritz Brandt ist es zu verdanken, dass sich noch im Februar 1945 bei einer SS-Razzia Verfolgte in Sicherheit bringen konnten.
Auch das letzte Gastwirtsehepaar Minna (geborene Levinthal) und Alfred Mahlich hatte in dieser Zeit ein schweres Schicksal. Minna war Jüdin. Alfred wurde an die Front geschickt und als sogenannter Arier ständig von der Gestapo bearbeitet, er solle sich scheiden lassen. Minna musste als Zwangsarbeiterin auf dem Lehrter Güterbahnhof zentnerschwere Kohlen-, Kartoffel- und Zementsäcke abladen. Alfred Mahlich kehrte aus dem Krieg zurück. Wäre er gefallen, hätte man seine Frau umgebracht. Eigentlich sollten die Mahlichs das Lokal schon früher übernehmen, aber Faschismus und Krieg haben das verhindert.
Als sie 1945 die Wirtsleute wurden, blühte das Lokal bald wieder auf. Film-, Rundfunk- und Theaterleute wie Bert Brecht und Helene Weigel waren Gäste. Wer überlebt hatte kam wieder, auch die Homosexuellen und Transvestiten – Frauen und Männer – und natürlich die Nutten. Es wurde wieder zum alten Grammophon getanzt. Doch das Glück dauerte nicht lange. 1951/52 wurden im Scheunenviertel 32 sogenannte „Nutten- und Schwulenkneipen“ geschlossen. Die Szene verlagerte sich. Im Dezember 1963 wurde Mahlichs das Haus weggenommen. Sie mussten in eine Neubauwohnung nach Lichtenberg umziehen.
Charlotte von Mahlsdorf hatte im November 1963 die Familie Mahlich kennen gelernt. Das war genau zu dem Zeitpunkt, als der Abriss des Hauses vom Magistrat beschlossen wurde. Und so konnte Charlotte, die nie die alte Mulackritze im Betrieb erlebt hatte, wenigstens die Einrichtung retten.
Im Januar 1964 wurde das Haus dem Erdboden gleich gemacht und damit ein Stück der alten Berliner Kneipenkultur vernichtet. Mahlichs bekamen für ihr Haus und das Grundstück 7.700 Mark der DDR in monatlicher Ratenzahlung. Beim Umzug in die kleine Wohnung im Hans-Loch-Viertel hat Charlotte dem Ehepaar zur Seite gestanden. Daraus wurde eine lebenslange Freundschaft. Am 2. Januar 1964 wurde Charlotte von Mahlsdorf zusammen mit den Mahlichs vor den Trümmern der alten Kneipe fotografiert. Ein kleines Stück Berliner Kiezgeschichte war für immer dahin.
Alfred Mahlich starb 1966 im Alter von 67 Jahren, Minna 1974 mit 73 Jahren. Zu ihrem 70. Geburtstag am 4. Mai 1971 stand Minna Mahlich noch einmal hinter der Theke der Mulackritze. Charlotte hatte die Leute vom Berliner Rundfunk eingeladen. Minna erzählte, wie ihr der Schnabel gewachsen war. „Bei ihrem Interview über das Milieu in der Mulackritze wurden die Rundfunkleute abwechselnd rot und blass“, erinnerte sich Charlotte von Mahlsdorf später. „Als das Interview dann gesendet wurde, war es ganz ‚brav’, sozusagen für Pastorentöchter, zugeschnitten.“
Seit 50 Jahren ist die Einrichtung der Mulackritze nun das Prunkstück in der Sammlung des Gründerzeitmuseums Mahlsdorf. Und wenn es im Museum einmal ganz leise ist, dann hört man das Knarren der alten Dielen und aus der Ferne hört man das Grammophon spielen, riecht den Rauch von kalten Zigarren und abgestandenem Bier.
Gründerzeitmuseum Berlin-Mahlsdorf, Hultschiner Damm 333, geöffnet Sonntag und Mittwoch von 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr. Klaus Teßmann ist Journalist und lebt in Berlin.
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