16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Die deutsche Jugendbewegung – Rückblick und Ausblick

von Hermann Mau

In der Ausgabe 20/2013 hatte sich ein thematischer Schwerpunkt mit „100 Jahre 1. Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner“ beschäftigt. Von unserem Autor Eckard Holler darauf aufmerksam gemacht, möchten wir dazu die seiner Auffassung nach profundeste Darstellung und Einschätzung der Bündischen Jugendbewegung „nachreichen“, die bereits 1948
in der damaligen sowjetischen Besatzungszone publiziert worden war.
Die Redaktion

Die Jugendbewegung ist tot. Sie gehört der Geschichte an und ist wie alles geschichtlich Gewordene nicht wiederholbar. Das national-sozialistische Regime hat ihre Bünde 1933 zerschlagen, und der innere Zusammenhalt ist an Verfolgung und Krieg zerbrochen. Ihr Erbe lebt weiter in der schmalen Schicht der Überlebenden, die heute in ganz Deutschland wieder miteinander Fühlung suchen. Schon melden sich Kräfte zum Wort, die sich auf dieses Erbe berufen. Das lenkt den Blick auf die Frage: Was war die Jugendbewegung? […]
Den äußeren Rahmen der Geschichte der Jugendbewegung geben die Jahre 1901 und 1933. Am 4. November 1901 wird im Steglitzer Ratskeller der „ Wandervogel’ gegründet, und am 17. Juni 1933 löst die nationalsozialistische Regierung den „Großdeutschen Bund“ auf, jenen Einigungsbund aller Bünde, mit dem kurz zuvor ein alter Traum der Jugendbewegung unter fragwürdigen Umständen zu spät Wirklichkeit geworden war. Ihre Vorgeschichte reicht in die letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, und die Geschichte ihrer Wirkungen scheint noch nicht zu Ende zu sein.
Die Geschichtsbeschreibung der Jugendbewegung unterscheidet im geschichtlichen Ablauf der Bewegung mit seiner unübersehbaren Folge von Bändigungen, Entzweiungen und Versöhnungen in der Regel drei Epochen: Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als die Epoche des „Wandervogels“ im engeren Sinn; die Jahre zwischen 1914 und 1923 als die Zeit der durch den Krieg ausgelösten Krise, und schließlich das Jahrzehnt vor 1933, nach dem in diesem Jahrzehnt immer wieder erörterten Ziel, dem großen Einigungsbund, die Zeit der „Bündischen Jugend“ genannt. Die allgemeine deutsche Entwicklung ist der Maßstab dieser Periodisierung. Das Gesamtbild, das aus dieser Sicht entsteht, ist schief. Man sucht im Verlauf der Bewegung vergeblich nach einer zusammenhängenden Entwicklung, die sich zu der allgemeinen politischen Entwicklung in eine wesenhafte Beziehung setzen ließe. Die Jugendbewegung verharrt im Gegenteil in einem anscheinend unüberwindlichen Spannungsverhältnis zur politischen Wirklichkeit und bleibt der Ebene der politischen Entscheidung fern; so fern, dass der Nationalsozialismus sie schließlich in voller Wehrlosigkeit trifft und über sie zur Tagesordnung übergehen kann.
Hier liegt offenbar ein Fehler in der historischen Optik vor. Vom Begriff der Entwicklung her, wie er uns bei der historischen Betrachtung geläufig ist, ist die Jugendbewegung nicht zu fassen. Denn die Jugendbewegung entwickelt sich nicht. Die bewegende Kraft geht von einem gleichbleibenden, keiner Wandlung unterworfenen Erlebnis aus. Was in der Geschichte der Jugendbewegung als das Nach- und Nebeneinander einer verwirrenden Vielzahl von Gruppen und Bünden erscheint, ordnet sich nicht zu einer kontinuierlich fortschreitenden Entwicklung zusammen, in der die Einzelbünde zueinander im Verhältnis einer notwendigen Stufenfolge stünden, sondern lässt sich allein begreifen als den Vollzug der mit dem Grunderlebnis ein für alle Mal gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten. Die Einzelbünde und Gruppen sind Variationen einer einmaligen geschichtlichen Möglichkeit, und ihre Stellung im zeitlichen Ablauf der Bewegung sagt über ihre Natur nichts Wesentliches aus.
Die bewegende Mitte der Jugendbewegung ist ein Erlebnis. Als ein irrationaler Vorgang, der seine stärksten Wirkungen in seelischen Bereichen entfaltet, entzieht es sich allen Definitionsversuchen. Man kann seine Voraussetzungen erklären und seine Wirkungen beschreiben, aber man kann es letztlich nur nachdenken und nicht nacherleben.
In seinem allgemeinsten Sinn ist das Erlebnis, um das die Jugendbewegung kreist, das Erlebnis der Gemeinschaft. In ihrer konkreten Lage: das Erlebnis der Verlebendigung aller Lebensbeziehungen durch das Zurückfinden zu Urformen menschlicher Gesellung. Es ist ein Erlebnis des jugendlichen Menschen. Und es ist seiner Natur nach ein männliches Erlebnis. Die Gemeinschaften, die das Gesicht der Bewegung bestimmen, sind männliche Gemeinschaften. Es ist ferner ein deutsches Erlebnis, das offenbar nur von seinen deutschen Voraussetzungen her nachvollziehbar ist: Die Jugendbewegung verbreitet sich über das gesamte deutsche Sprachgebiet, aber sie hat im außerdeutschen Bereich nirgendwo Fuß gefasst.
Im Sinne des Gegensatzes ist das Erlebnis auf eine bestimmte soziale Schicht in einer bestimmten geschichtlichen Lage bezogen: auf die bürgerliche Gesellschaft zu Beginn unseres Jahrhunderts. Es ist ein bürgerliches Erlebnis und wird, wie die Erfahrung zeigt, nur von Angehörigen der bürgerlichen Schichten – insbesondere des kleinen und mittleren Bürgertums – erlebt. Es setzt das mehr oder minder bewusste Erleiden der Fragwürdigkeiten spätbürgerlicher Lebensformen voraus. Jugendbewegung ist Bewegung bürgerlicher Jugend.
Das Erlebnis ist schließlich an eine bestimmte Lebenslage gebunden: an das Wandern oder, wie wir seit der Jugendbewegung sagen, an die „Fahrt“. Dabei wird gerade nicht der ästhetische Reiz schöner Landschaft wirksam, wie ihn der bürgerliche Reisende sucht, sondern die Fahrt als ungewöhnliche Lebenslage. Der Abstand von den gewohnten Lebensumständen, das schlichte Aufeinanderangewiesensein und die klaren und einfachen Forderungen des Miteinanderlebens unter radikal vereinfachten Lebensbedingungen schaffen jene gemeinschaftsbildende Atmosphäre, die in einem vitalen Erlebnisvorgang ein neues Lebensgefühl weckt, das sich im Gegensatz zur bürgerlichen Wirklichkeit seiner selbst bewusst wird.
Versucht man den entscheidenden Vorgang, der das Bewegende der Jugendbewegung ist, auf eine Formel zu bringen, dann wird man sagen können: deutsche bürgerliche Jugend erlebt auf Fahrt männliche Gemeinschaft als die Überwindung der Fragwürdigkeiten spätbürgerlicher Lebenswirklichkeit. Die Formel bleibt starr und blass, weil sie umschreiben muss, was sie als irrationalen Vorgang nicht beschreiben kann. Sie nennt die Elemente des Erlebnisses, ohne das Geheimnis seiner menschenverwandelnden Wirkung zu ergründen, die sich über Jahrzehnte an jedem Einzelnen erwiesen hat, der der Jugendbewegung verfiel.
Seit der berühmten Böhmerwaldfahrt des Stenographenvereins am Steglitzer Gymnasium von 1899, die das Urerlebnis der Jugendbewegung war, sind diese Elemente die gleichen geblieben bis ans Ende. Es war die geniale Intuition Karl Fischers, der diese Fahrt als Sekundaner mitmachte und zwei Jahre später mit dem Steglitzer Wandervogel die deutsche Jugendbewegung begründete, – er ist 1941, von der Welt vergessen, in Berlin gestorben —, dass das Gemeinschaftserlebnis jener Böhmerwaldfahrt kein zufällig privates Ereignis, sondern ein in der Lage der bürgerlichen Jugend typisches Erlebnis war, das sich unter gleichen äußeren Bedingungen wiederholen ließ und um der heilenden Kräfte willen, die es in einer an ihrer Lebensentfremdung krankenden Jugend entband, zu wiederholen lohnte.
Das Erlebnis zeugt jugendbündische Gemeinschaft. Die soziale Formkraft der Jugendbewegung ist unerschöpflich. Sie entfaltet sich zu einer Vielzahl von Bündigungsformen verschiedener Struktur, von denen die „Gruppe“ als die kleinste und der „Bund“ als die größte von typischer Bedeutung sind. Alles Entscheidende spielt sich in der kleinsten Einheit, der Gruppe, ab. Sie ist die Gemeinschaft der Jugendbewegung schlechthin und der unmittelbarste Ausdruck ihres Grunderlebnisses. Als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft beansprucht sie den ganzen Menschen. Sie duldet keine Mitläufer und ergänzt sich in einem selbsttätigen Ausleseprozess, der alle die wieder ausstößt, die sich der vorbehaltlosen Hingabe an die Gemeinschaft unfähig erweisen. Sie ist sich selbst genug und ihre Strahlungen nach außen sind gering. In der Gruppe wachsen Formen und Stil jugendbewegten Lebens. Das Leben in der Gruppe verwandelt den jungen Menschen. Aus der Erfahrung der Gemeinschaft zeigt sich ihm die Welt in veränderten Perspektiven. Ein neues Lebensgefühl erwächst aus einer seelischen Umstimmung des ganzen Menschen, die auch physiognomisch sichtbar wird und die tiefere Ursache für die typenbildende Kraft der Jugendbewegung ist. Aus dem gemeinsamen Erlebnis entsteht zugleich jene tiefe Gemeinsamkeit der Lebensstimmung, die den Bund trägt und über alle Einzelbünde hinweg das so ausgeprägte Zusammengehörigkeitsgefühl der Jugendbewegung begründet
In der Sphäre ihrer Gemeinschaften kreist die Jugendbewegung ziellos in sich selbst. Sie vermag in diesem ihrem innersten Bezirk so völlig aus sich selbst und in sich selbst zu leben, dass der Ansatz zu einer radikalen Lösung aus dem Umweltzusammenhang und zu revolutionären Neubildungen gegeben scheint. Hier werden bedeutsame politische Möglichkeiten sichtbar; aber diese Möglichkeiten werden niemals realisiert aus Gründen, von denen zu sprechen sein wird.
[…]
Die Jugendbewegung hat erhebliche Mühe gehabt, sich über ihr Verhältnis zur Umwelt klar zu werden. Das war die Folge der Ungewissheit über ihre eigene Bestimmung, die für sie kennzeichnend geblieben ist. Mit rationalen Gründen konnte sie, was sie bewegte, nicht erklären, und was sie tat, nicht rechtfertigen. Vor ihr selbst gaben ihr die innere Erfahrung und das eigene Gefühl hinreichende Rechtfertigung. Zugleich empfand sie, dass das Bewegende unerklärbar und unaussprechbar war und, in das helle Licht des Bewusstseins gerückt, seine geheime Kraft verloren hätte. Aber da die Welt nach Zweck und Ziel fragte, musste sie sich erklären. So flüchtete sie sich in die Formulierung vordergründiger Zwecke und Ziele, die das eigene Anliegen verharmlosten und verbürgerlichten, im Stil etwa jener Satzung aus der Frühzeit, die als „Zwecksetzung“ des Wandervogels angibt, „das Wandern unter den Schülern höherer Lehranstalten zu fördern, den Sinn für Naturschönheit zu wecken und der Jugend Gelegenheit zu geben, Land und Leute aus eigener Erfahrung kennenzulernen“. Die Scheu vor der Formulierung des Unformulierbaren spricht noch aus der berühmten Formel vom Hohen Meißner, in der die Jugendbewegung 1913 als das Ziel ihres Wollens ausspricht, „aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit“ ihr Leben zu gestalten. Die Meißner-Formel enttäuscht durch ihre Inhaltsarmut, zumal wenn man bedenkt, dass sie vor der deutschen Öffentlichkeit zum ersten Mal die Ziele der Jugendbewegung erklären sollte. Hier wirkt nicht nur die Scheu vor der Formulierung, sondern ebenso die Ungewissheit über die eigene Bestimmung, die für die Bewegung typisch geblieben ist. Sie hatte keine Vorläufer, auf die sie sich hätte berufen können, auch keine literarischen. Die Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat ihr keine Antriebe gegeben; bei ihr hat sie lediglich nachträglich Argumente zu ihrer Rechtfertigung gesucht. So wenig sie geistige Bewegung war, so wenig hatte sie geistige Wegbereiter. Sie ist aus wilder Wurzel gewachsen.
Die Jugendbewegung konstituiert mit ihren Gemeinschaften soziale Organismen, die innerhalb des allgemeinen Sozialzustandes der Zeit den Rang regenerationskräftiger Zellen in einem zerstörten Gewebe haben. Aber diese Zellen zeigen eine merkwürdige Konstitutionsschwäche, die sie daran hindert, ihre Regenerationskraftvoll auszuwirken: sie sind in ihrem Wachstum gehemmt und kommen nicht voll zur Ausbildung. Die Gemeinschaften bleiben Gemeinschaften der Jugend und wachsen sich nicht zu Gemeinschaften des Lebens aus, obwohl sie alle Voraussetzungen dazu in sich tragen. Sie erlangen nicht die volle soziale Reife, und das macht sie unfähig, in den großen Sozialzusammenhang hineinzuwachsen und hineinzuwirken.
Hier liegt eine Entwicklungsstörung vor, die es zu erklären gilt. Damit geraten wir unversehens in die Pathologie der Geschichte. Aber gehen wir behutsam vor, indem wir zunächst rein empirisch den Sachverhalt schildern.
Die Jugendbewegung zeigt eine ausgeprägte Zweischichtigkeit. Neben der Schicht der Jüngeren, die in bündischer Gemeinschaft leben, steht die Schicht der Älteren, die der Gemeinschaft entwachsen sind, sich aber weiterhin zur Bewegung halten. Die Gemeinschaften selbst binden den Einzelnen nur eine bestimmte Zeit hindurch. Sie bleiben Jugendgemeinschaften, denen der Älterwerdende langsam entwächst. Der Einzelne durchläuft also in der Jugendbewegung in der Regel zwei Entwicklungsstadien. Bis zum Ausscheiden aus der Gemeinschaft steht das Leben in ihr für den Einzelnen beherrschend im Vordergrund und zieht alle Gedanken auf sich. Mit der Lösung aus der Gemeinschaft tritt er in den Stand der Älteren über, und nunmehr stellt sich dem durch das Gemeinschaftserlebnis Verwandelten die Beziehung zur Welt als Problem. Jede der beiden Schichten findet somit ihre besondere Aufgabe: die Schicht der Jüngeren im Ausleben der Gemeinschaft, die Schicht der Älteren in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Besser als das Bild der Schichten zeigt das Bild zweier konzentrischer Kreise die eigenartige Struktur der Jugendbewegung: Um die kräfteausstrahlende Mitte des „Erlebnisses“ schließt sich der engere Kreis der Jüngeren und der weitere der Älteren. Die Strahlungen der bewegenden Mitte nehmen nach außen hin ab. Im inneren Kreis geht gleichsam die Blickrichtung nach innen auf die Mitte hin und im Äußeren nach außen in die Welt. Entscheidend ist, dass das Gesetz der Gemeinschaft nur im inneren Kreis absolute Geltung hat, während sein Einfluss nach der Peripherie hin immer mehr abnimmt. Streng genommen ist nur der innere Bereich Jugendbewegung im Sinn unserer Definition. Der äußere ist Krisenzone und ein Phänomen für sich. Denn hier bestimmen die Wirkungen der Tatsache das Bild, dass das Wachstum der Gemeinschaften, die den inneren Kreis bestimmen, auf anscheinend unüberwindliche Hemmnisse stößt.
Man muss sich klar machen, was das für den Einzelnen bedeutet. Der Einzelne wächst in der Jugendbewegung in die Welt der bündischen Gemeinschaft hinein und entfernt sich so aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner bürgerlichen Herkunft. Eines Tages sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, den Weg ein gutes Stück zurückzugehen. In dem Maße, in dem die bündische Gemeinschaft aufhört, ihm volle Lebenswirklichkeit zu sein, tritt die soziale Welt seiner Herkunft wieder in den Vordergrund. Aber die Erfahrung der Gemeinschaft macht ihm das Umweltverhältnis zum Problem. Er sieht sich in der schwierigen Lage, sein jugendbewegtes Weltverhältnis mit den Forderungen der bürgerlichen Welt in Einklang zu bringen. Das verlangt von ihm Kompromisse mit eben jenen bürgerlichen Ordnungen, deren Ablehnung ein so wesentliches Axiom jugendbewegter Haltung ist. Der Konflikt zwischen der unwiderlegbaren jugendbewegten Erfahrung der Fragwürdigkeit bürgerlicher Daseinsordnung und der unausweichlichen Notwendigkeit, sich doch wieder in sie einzufügen, ist das charakteristische Problem der Älteren-schicht der Jugendbewegung. Die Gemeinschaft entlässt sie niemals ganz, und für die bürgerliche Gesellschaft werden sie nie wieder ganz tauglich; abgesehen allein von den Mitläufern, die im kritischen Zeitpunkt jeweils mühelos den Rückweg ins „bürgerliche Leben“ finden und damit der Bewegung nicht nur äußerlich verloren sind. Daneben gibt es immer eine Anzahl, die dem Problem ausweichen und so den Anschluss an die soziale Wirklichkeit verpassen. – Das sind die Gescheiterten, ewig Jugendbewegten, die als Männer an der Realität scheitern, die ihnen das Jugenderlebnis fragwürdig gemacht hat.
Die Mehrzahl aber geht den Weg, den man als den legitimen Weg der Bewegung bezeichnen könnte. Sie lernt begreifen, dass der Widerspruch gegen die Umwelt zur Flucht aus der Wirklichkeit wird, wenn er sich nicht mit dem Willen verbindet, im Sinne der eigenen Einsichten auf die Umwelt einzuwirken. In der stillschweigenden Resignation vor den Hemmnissen, die sich der lebendigen Fortbildung der bündischen Gemeinschaften entgegenstellen, also mit sehr gedämpften Ambitionen, sucht sie ihre Aufgabe darin, von der ihr eigentümlichen sozialen Erfahrung her an der Überwindung der Zersetzungserscheinungen des Zeitalters mitzuhelfen. Hier liegt der Ausgangspunkt für alle soziale, pädagogische und künstlerische Arbeit, die im Namen der Jugendbewegung in Deutschland geleistet worden ist. Sie ist der Versuch, angesichts der Unmöglichkeit, das wahre Anliegen der Jugendbewegung, erneuernd und verlebendigend in den großen Sozialzusammenhang hineinzuwachsen, zu verwirklichen, dennoch das „Erlebnis“ so weit als möglich für die Allgemeinheit fruchtbar zu machen. In der Gemeinsamkeit der Lebensstimmung wirkt das Erlebnis der Gemeinschaft im Kreise der Älteren weiter, noch immer stark genug, um den Bruch, der quer durch die Bewegung geht, zu verdecken. Diese Gemeinsamkeit der Lebensstimmung vermag auch die Älteren noch in die Bewegung einzubeziehen, obwohl das bewegende „Erlebnis“ nur mehr mittelbare Wirkungen auf sie ausstrahlt. Das Kraftzentrum der Bewegung bleiben die Gemeinschaften der Jüngeren. Von dort, und nur von dort kommen die bewegenden Impulse, aus denen auch die Älterenschicht noch lebt und die über sie anonym in die Welt verströmen.
Das empirische Bild der Jugendbewegung spiegelt deutlich wider, was wir als Wachstums- oder Entwicklungsstörung bezeichnen. Die Zweischichtigkeit ist das sichtbarste Symptom des Sachverhalts, um dessen Erklärung es uns hier geht. Weil die bündische Gemeinschaft sich nicht entwickelt und immer wieder nur Jugend zu binden vermag, entsteht jene Schicht der Älteren, die sich aus der Gemeinschaft gelöst haben, aber durch das Gemeinschaftserlebnis so stark geprägt sind, dass es für ihr Weltverhältnis bestimmend bleibt. Die Dynamik der Bewegung ist in dieser Schicht gebrochen. Wenn man sich bündische Gemeinschaft und bürgerliche Gesellschaft als die beiden Pole des Spannungsfeldes vergegenwärtigt, in dem sich die Jugendbewegung entfaltet, dann richtet sich die ungebrochene Dynamik der Bewegung eindeutig auf die vorbehaltlose, also nicht etwa nur zeitlich begrenzte Verwirklichung der Gemeinschaft als Lebensgemeinschaft. Für den Einzelnen, der in dieses Spannungsfeld eintritt, heißt das, dass er blindlings den Weg in die Gemeinschaft bejaht und beschreitet bis zu dem Augenblick, in dem er erkennt, dass ihn seine eigene Entwicklung der Gemeinschaft entfremdet, dass die Gemeinschaft nicht mit ihm wächst, sich nicht mit ihm entwickelt. Er muss den beschrittenen Weg ein gutes Stück zurückgehen, und dass er diesen Rückweg klar als existentiellen Rückschritt erkennt, schafft jene Problematik, die die Problematik der gesamten Älterenschicht ist.
[…]
Man muss sich klarmachen, was es bedeutet hätte, wenn die Jugendbewegung versucht hätte, die Sorge für die materielle Lebenssicherung zur Sache der Gemeinschaft zu machen und damit ihr Anliegen bis zur letzten Konsequenz zu verfolgen. Dann wäre sie gezwungen gewesen, den schlechterdings entscheidenden Schritt aus dem politisch und sozial relativ unverbindlichen Raum, in dem sie als Jugend zu leben vermag, in die volle Verbindlichkeit der politischen und sozialen Wirklichkeit ihrer Zeit zu tun und innerhalb dieser ihren Standort zu definieren. Sie hätte also ihr Anliegen zur politischen Formel konkretisieren und in die Auseinandersetzung der politischen Kräfte der Zeit hineinstellen müssen. Dem hat sie sich nicht gewachsen gefühlt. Sie ist nicht politisch geworden, und das hat sie an der vollen Entfaltung der geschichtlichen Wirkungskraft gehindert, die keimhaft in ihr angelegt war. Aber sie hat hier in sicherem Instinkt ihre Grenzen gefühlt. Sie fühlte – und das mahnte sie zur Selbstbescheidung –, dass ihr zur politischen Wirkung das Wesentliche fehlte: das geistige Prinzip, das einem politischen Wollen erst hätte Gestalt und Ziel geben können. Die Jugendbewegung verharrt in dem Zustand steter Bereitschaft, sich auf ein geistiges Prinzip zu verpflichten, das dem Rang des sozialen Prinzips entsprochen hätte, nach dem sie lebt. Aber auf eine Empfängnisbereitschaft, die dem Zustand vergleichbar ist, in dem sich religiöse Urerlebnisse abspielen, trifft keine geistige Zeugung! Es bleibt alles Gefühl, was Gedanke hätte werden müssen, um geschichtswirksam zu werden. Was man die geistige Welt der Jugendbewegung nennt, ist nur der Ausdruck ihres ständigen Bemühens, ihre Gefühle zu interpretieren; ist nur Reflex und nicht Agens. Eine gemeingültige Interpretation ist ihr nicht gelungen. Daher die verwirrende Vielfalt und Veränderlichkeit der Inhalte, die die Vorstellungswelt der Jugendbewegung kennzeichnen. Man findet bei den verschiedenen Gruppen und Bünden der Bewegung Gedanken von extremer Gegensätzlichkeit, Gedanken sozialistischer und liberalistischer, nationalistischer und weltbürgerlicher, militaristischer und pazifistischer, christlicher und christentumsfeindlicher Prägung – um nur ein paar Beispiele aus der Fülle der Inhalte herauszugreifen, die in der Gedankenwelt der Jugendbewegung auftauchen. Wie wenig es auf diese Inhalte ankommt, beweist die Tatsache, dass die Gegensätze im Gedanklichen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewegung nicht im Geringsten beeinträchtigen. Erlebnis und Gefühl sind das Verbindende, Bewegung Zeugende, nicht Erkenntnis und Gedanke. Vor der Verbindlichkeit des gemeinsamen Grunderlebnisses verlieren alle Gegensätze im Gedanklichen ihr Gewicht. Tun und Denken treten nicht in das verbindliche Wechselverhältnis, das die Voraussetzung zu politischem Handeln ist. Die Jugendbewegung weiß niemals, wozu sie das tut, was sie tut. Aber gerade zu diesem Wissen hätte sie die irrationalen Gefühlswerte ihres Erlebens rationalisieren müssen, wenn sie zur politischen und sozialen Reife hätte weiterwachsen sollen. So bleibt sie Bewegung auf einer Ebene, die unterhalb derer liegt, in der Geschichte geschieht -Geschichte im permanenten statu nascendi. Sie steht ständig an der Schwelle der Geschichte; aber sie zögert, die Schwelle zu überschreiten, weil ihr das Stichwort nicht einfällt, das ihr den Weg zu geschichtlichem Wirken hätte weisen können.
[…]
Die Jugendbewegung hat keine Leistungen von repräsentativem Rang hinterlassen, die noch heute für sie zeugen könnten. Nicht einmal literarische, allen ihren leidenschaftlichen Bemühungen zum Trotz, ihr Erleben im Wort zu gestalten. Sie war nicht geistige und nicht literarische Bewegung, die im Geistigen oder Literarischen ihren Ausdruck gesucht hätte. Sie war etwas Untergründigeres und Elementareres: sie war Bewegung des Lebens selbst. Und sofern man die Bewältigung des Lebens in unserer Zeit als Leistung gelten lassen will, kann die Jugendbewegung sie für sich in Anspruch nehmen.
Mitten im großen Strom des an sich selbst leidenden Lebens unserer Tage ist ihr für eine kurze Zeitspanne und für einen begrenzten Kreis junger Menschen etwas Einzigartiges gelungen: die Versöhnung des Lebens mit sich selbst in lebendiger menschlicher Gemeinschaft.
[…]
Die Jugendbewegung erscheint als der gelassene Vollzug einer Möglichkeit sozialen Verhaltens, die sich in einem bestimmten Stadium der deutschen Sozialentwicklung vorübergehend ergibt. Sie selbst ist sich dieser ihrer Begrenzung nicht bewusst geworden. Und doch zeigt das Suchende und Unfertige, das Abseitige und Abwartende, das Immer-im-Aufbruch-Sein und Nie-zum-Ziel-Kommen, das zu ihr gehört, wie sehr sie in diesen vorgegebenen Grenzen gefangen blieb. Hätte sie ihr Tun jemals der Kontrolle eines wachen politischen Bewusst-seins unterzuordnen vermocht, dann wäre es ihr vielleicht gelungen, jene Grenzen zu überschreiten und die vergängliche Möglichkeit, der sie ihre Entstehung verdankte, zur bleibenden Wirklichkeit fortzubilden. Der Ansatz zu revolutionären Wirkungen war in ihrem Grunderlebnis gegeben. Mit der elementaren Kraft, die ihr von dorther zuströmte, und mit den tiefen Einsichten in die säkulare Notlage der Zeit, die sich ihr von dort aus eröffneten, hätte sie die Welt verändern können.
Für den rückschauenden Betrachter hat die Jugendbewegung etwas Unwirkliches; nicht allein ihres meteorgleichen Aufleuchtens und Verlöschens wegen. Im dröhnenden Streitgesang unseres Jahrhunderts ist sie wie ein leiser Oberton: Nicht aus sich selbst lebend, sondern erst durch eine bestimmte Wendung des Streitgesanges zum Klingen kommend – und doch eigenen Wesens. Es ist, als sei sie der flüchtige Reflex säkularer geschichtlicher Entwicklungen, ein Fingerzeig auf deren verborgenen Sinn, eine Vorwegnahme künftiger Wirklichkeiten.
[…]
Jugendbewegung bedeutet Wiedergeburt der Gemeinschaft in gemeinschaftsferner Zeit und die Wiedereinsetzung des Menschen in seine natürlichen sozialen Funktionen. Sie zielt auf die Verlebendigung und Vermenschlichung eines in seelenlosen Zweckbestimmungen erstarrten Sozialstandes. Sie ist Skepsis gegenüber der zeitgemäßen Überschätzung der menschlichen Vernunft und ihres Vermögens, Künftiges zu berechnen und zu planen. Sie ist Vertrauen in die Güte der menschlichen Natur.
Die Jugendbewegung ist unwiederholbar. Aber sie wirkt weiter. Die bürgerlichen Ordnungen sind zerbrochen, aber sie sind nicht überwunden. Ihre Überwindung ist schon einmal vorweggenommen: von der Jugendbewegung. Was ihr einst, ihrer selbst nicht wissend, gleichsam spielerisch und unverbindlich, gelungen ist, wirkt als Sinnbild einer unverjährten geschichtlichen Möglichkeit in unsere Gegenwart.

Erstveröffentlichung in: pädagogik. Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Verlag Volk und Wissen, Berlin Leipzig, Nummer 7/1947, S. 17-27. Hier entnommen aus: E. Holler (Herausgeber): Um seine Jugend nicht betrogen sein …, Nr. 3 in der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis, Ebersdorf 2011.
(Redaktionell gekürzt. Die Orthographie wurde behutsam heutigen Regeln angepasst.)