16. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2013

Etwas längere Notiz zu Salzwedel

von Thomas Zimmermann

Wer durch Salzwedels Altstadt schlendert, bekommt schnell den Eindruck, dass die eine Hälfte der Häuser zu verkaufen und die andere im Besitz der Familie Kruse ist. Zumindest den Werbeschildern nach zu urteilen, die auf das Café Kruse als Aushängeschild des Kruse-Imperiums hinweisen. „Ja“, bestätigt eine Verkäuferin in der Burgstraße, „fehlt nur noch, dass der alte Kruse Bürgermeister wird. Aber der will ja nicht.“ Bedauern in der Stimme. „Dann würde sich mal was tun hier.“
Salzwedel, die nördlichste Kreisstadt von Sachsen-Anhalt und dem Radiosender im Hotel zufolge schon in Niedersachsen gelegen (was ja bereits der alte Fontane vermutete), kommt tatsächlich etwas angestaubt daher. Von der einstigen Burg ist nur noch der Turm übrig, die Namen auf dem Gefallenendenkmal lassen sich vor lauter Graffiti kaum lesen, im Park vor dem Steintor prügeln sich ein paar Skinheads in Bomberjacken. Bei einem Mietgesuch in zentraler Lage heißt es nachdrücklich „Mieter ü. 60 Jahre erwünscht!!!“
Von den genau vierzig Attraktionen, die auf einem speziellen Stadtplan von der Touristinformation beworben werden, enttäuschen mindestens achtunddreißig. Das Ritterhaus hat eben nur zwei entsprechend geschnitzte Figuren im Torbogen, das Adam-und-Eva-Haus ebenso. Überhaupt lädt die Stadt eher zur Fassadenschau als zur Besichtigung ein: Was nicht privat oder gewerblich genutzt wird, verfällt; was sich draußen an alter Pracht erhalten hat, ist drinnen entweder unzugänglich, wegsaniert oder Schutt. So etwa die „ehemalige Gerichtslaube und historische Löwenapotheke“, das „ehemalige königlich-preußische Wollmagazin“ oder so manch „ehemaliges Handelshaus“. In Salzwedel ist ziemlich viel ehemalig, aktuell sind hier nur die in der Altmark-Zeitung veröffentlichten Wirtschaftsdaten, die den Kreis Salzwedel neben Stendal als Schlusslicht im Land ausweisen. Der arme Norden eben.
Wirklich sehenswert ist in Salzwedel lediglich die Marienkirche. Viel Backstein, viel Schnitzerei, protestantische Strenge. Im nördlichen Seitenflügel befindet sich ein unscheinbares Büchlein, in dem die Gläubigen seit vielen Jahren ihre Hoffnungen und Wünsche notieren. Eine Erna liebt ihren Erhard, obwohl der schon seit vier Jahren tot ist, und sie freut sich, ihm bald folgen und ihn wiedersehen zu können. Eine „Mama“ bittet um Gesundheit für ihr Peterchen und erinnert Gott daran, ein Auge auf die so früh verstorbene Clara zu halten. Das rührt, mehr als jede spätreformatorische Schnitzerei und prunkbeladene Kanzel.
Den Katholiken in der benachbarten Lorenzkirche geht solche Feinfühligkeit anscheinend ab. Der Türgriff des Gotteshauses ist ein makaberer Scherz: Der Gläubige greift nach dem zur Klinke verkommenen, gefesselten Märtyrer Lorenz und schiebt ihn ein Stück weit nach unten, in die Mitte des an der Tür befestigten Grills, durch den kleine kupferne Flammen züngeln. Schon mit dem Öffnen der Tür hat der Eintretende also einen Menschen symbolisch gequält.
So richtig makaber geht es aber vor der Altstadt zu. Am Pulverteich befindet sich ein Tierpark, in dem Haus- und Hoftiere ein trauriges Dasein fristen. Die Ponys haben verfilztes Fell, die Ziegen sind dummgefüttert und sogar die sonst doch von Natur aus so scheuen Hühner flattern den Besuchern hinterher. Das Gammelfleisch lebt hier noch.
Am anderen Ufer des Pulverteichs erstreckt sich der „Platz des Friedens“. Wieder so ein komischer Scherz: ein bisschen Grün, und dann wird der Weg von Grabplatten aus dem vorletzten Jahrhundert gesäumt, die hier anscheinend das Unkraut niederdrücken sollen. So mancher Name längst Verstorbener zeichnet sich im Moos ab, über das zu schlendern der Wegführung nach allen Ernstes eingeladen wird.
Zurück zur Stadt, wo unzählige Plakate den Baumkuchen bewerben. Von fern sieht er aus wie ein schnöder Dönerspieß, von nah überrascht der Preis. Zwischen dreizehn Euro für 500 Gramm (ein Ring) und etwa 170 Euro für 4.500 Gramm (elf Ringe im „Ministerkuchen“) muss der Besucher berappen, um die einzige Spezialität der Stadt zu erwerben. Was den Baumkuchen so teuer macht, kann kein Verkäufer so genau erklären, denn ihn herzustellen, dauert nur zwanzig Minuten. Und selbst das feine Café Kruse sucht einer Straßenwerbung zufolge „Baumkuchenbäcker (auch ungelernt)“. Und deren Gehalt des Produktes dürfte sich wohl kaum besonders schwerwiegend auf den Preis niederschlagen.
Ein anderes Schild prangt auf der Straße, an einem Laternenpfahl: „Suppe ohne Salz ist wie Salz ohne Wedel“, steht darauf gedruckt. Aber Salz wurde hier nicht gewonnen, erklärt die Frau im Stadtmuseum, sondern nur gehandelt. Und was es mit dem Wedel auf sich hat, weiß nicht einmal sie als Fachfrau für städtische Geschichte. Ein netter, aber leerer Spruch also.
Und was hat Salzwedel nun wirklich zu bieten? Eine Bäckerin in der Neustadt verweist auf einen hübschen Märchenpark, „der ist aber ein paar Kilometer außerhalb“. Die Fleischerin in der Breiten Straße schwärmt von unglaublich herrlichen Orten, was verwundert, bis sich herausstellt, dass sie über Gardelegen spricht. Aber nun Salzwedel? „Tja“, sie überlegt, „waren Sie schon auf dem Rathausturm? Da können Sie das Ganze von oben sehen.“
Aha.