16. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2013

100 Jahre Hoher Meißner 1913-2013

von Eckard Holler

Der „1. Freideutsche Jugendtag“, der am 11. und 12. Oktober 1913 auf dem „Hohen Meißner“ bei Kassel als Gegenveranstaltung zur hurrapatriotischen Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig (18. Oktober 1913) von Anhängern des Wandervogels und der Reformbewegungen gefeiert wurde, jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal.
Dass heute noch von dieser Veranstaltung die Rede ist, ist das Verdienst der „Bündischen Jugend“, die die Tradition der Wandervogelbewegung bis in die Gegenwart fortsetzt. Zentraler Bestandteil dieser Tradition ist die „Meißner-Formel“, in der 1913 das Selbstbestimmungsrecht der Jugend proklamiert wurde. Sie lautet: „Die Freideutsche Jugend will ihr Leben nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“ Ergänzend hieß es noch: „Die Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.“
Im Gegensatz zu den Jugendorganisationen, die als Jugendabteilungen von Kirchen, Parteien, Sportverbänden oder – wie die Pfadfinder –  von prominenten Angehörigen des Militärs gegründet wurden, entstand der Wandervogel um 1900 aus wilder Wurzel. Von den für die Jugendpflege zuständigen staatlichen Stellen wurde er deshalb mit Skepsis beurteilt. Auch haftete ihm ein Hauch des Unbürgerlichen und Unbotmäßigen an. Turnverein und Ruderclub galten als seriöser. Dennoch breitete er sich lauffeuerartig im gesamten deutschen Sprachraum aus.
Bei der Bewertung der bürgerlichen Jugendbewegung gehen die Meinungen auseinander. Sicher ist, dass sie keine Protestbewegung im modernen Sinne war, aber auch keine nur romantische Bewegung, die nach der „blauen Blume“ suchte. Auffallend ist eine Verschränkung von progressiven und regressiven, rationalen und irrationalen, avantgardistischen und reaktionären Aspekten. Hauptmotiv war Fernweh, das schon Hegel als ein Merkmal von Jugend bezeichnet hatte und das in der Suche nach Freiheit in der „Gestalt der Entfernung“ besteht. Von Kritikern wurde der bürgerlichen Jugendbewegung deshalb der Vorwurf der Fluchtbewegung gemacht, die hinter dem Rücken der Gesellschaft Räuber und Gendarm gespielt habe, statt um die wirkliche Emanzipation der Jugend zu kämpfen. Dieser Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt, trifft aber nur einen Teil der Bewegung. Denn es gab auch Strömungen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst waren und ihre Mitglieder zum sozialen Engagement verpflichteten.
Eine Erfindung des Wandervogels war die „Jugendgruppe“ von sieben bis zehn Mitgliedern und dem etwas älteren Gruppenführer. Sie war die kleinste Einheit, aus der sich durch Gruppengründungen, zu denen es vielerorts kam, der überregionale „Bund“ bildete, von dem die „Bündische Jugend“ ihren Namen hat.
Sozialpsychologen haben die „Sympathieauslese“ als ein besonderes Merkmal der bündischen Gesellung hervorgehoben. Im Bewegungsjargon bezeichnete man den Vorgang als „Keilen“. Wer eine Jugendgruppe „bauen“ wollte, musste seine Mitglieder selbst zusammensuchen, also „keilen“, und dann zu einer harmonischen Gemeinschaft formen. In einer „guten Gruppe“ herrschte ein solidarisches Klima, in dem jeder seinen ihm angemessenen Platz hatte. Der Gruppenführer fungierte als „nichtautoritärer Vaterersatz“. Er vermittelte seinen Gruppenangehörigen das Gefühl, in einer Gemeinschaft zu leben, die den wahren Kommunismus praktizierte.
Gemeinsame Fahrten, Zelten in der freien Natur, Nächte am Lagerfeuer, nicht zuletzt das gemeinsame Singen zur Gitarre dienten dazu, den emotionalen Zusammenhalt der Gruppe zu steigern, so dass sie ein Zuhause war, das die Familie ersetzte. Das Gemeinschaftserlebnis war derart intensiv, dass von einer „jugendbewegten Prägung“ gesprochen wurde, die physiognomisch bemerkbar wurde. Auch entstand die Idee, gesellschaftsverändernd im „Geist der Jugendbewegung“ zu wirken.
Ernst Bloch hat an dieser Jugendbewegung eine sozialutopische Qualität bemerkt und sie als „ehrliche“ Gruppenutopie, hinter der „wirkliche Bewegung“ war, in seine Systematik der Menschheitsutopien aufgenommen. Auch von der Jugendbewegung wurde Blochs Philosophie wahrgenommen. Das Suchende und Unfertige, Abseitige und Abwartende, das „Immer-im Aufbruch-Sein“ und „Nie-zum-Ziel-Kommen“, das zu ihr gehört, entsprach in auffälliger Weise seiner Ontologie des-Noch-Nicht-Seins, als sei die Jugendbewegung ein Beweisstück für die These der noch unfertigen Welt.
Das Bild der freien bürgerlichen Jugendbewegung schwankt in der Geschichte, je nachdem aus welcher Perspektive sie betrachtet wird. Aus der Sicht der Sozialdemokratie und der von ihr bestimmten Arbeiter- und Arbeiterjugendbewegung galt sie als irrational, unpolitisch und arbeiterfeindlich, aus der Sicht der KPD als „gelbes Gift“, das die Arbeiterjugend dem Klassenkampf entfremdete. Das konservative Bürgertum sah die emanzipatorischen Ziele der Jugendbewegung mit Skepsis, kritisierte den anarchischen Freiheitsdrang und die Tendenz zur Devianz. Diese Skepsis war nicht unbegründet, denn die bürgerliche Jugendbewegung enthielt ein Potential, das sich in verschiedenen historischen Phasen als linker Flügel organisierte und den Abfall bürgerlicher Jugend von ihrer Herkunftsklasse einleitete.
Dass sich allerdings der Großteil der bürgerlichen Jugendbewegung den Nazis zur Verfügung stellte, ist ebenso ein Faktum. Das sollte jedoch nicht überbewertet werden, da die Jugend kaum klüger sein kann als die Gesellschaft insgesamt. Auch trat recht bald eine Ernüchterung ein, die zu einem latenten Jugendwiderstand gegen die Hitlerjugend (HJ) führte, der sich in „bündischen Umtrieben“ äußerte. Er kam interessanterweise nicht aus den großen Jugendverbänden, sondern aus den illegalen Resten der verbotenen Bündischen Jugend. Die „bündischen Umtriebe“ haben, nach allem, was man darüber weiß, der HJ erheblich zu schaffen gemacht. Eine tragende Rolle in diesen „Umtrieben“ spielten kleine Jugendbünde wie der „Nerother Wandervogel“ oder die „dj.1.11“ (= deutsche jungenschaft vom 1.11.1929), deren Bundesführungen emigriert waren.
Gleich nach 1945 begann in Westdeutschland der Neuaufbau der alten Jugendbünde, initiiert von ehemaligen Angehörigen – nun in der Konkurrenz vor allem zu der angloamerikanischen Jugendszene, während in der DDR nur die FDJ als Jugendorganisation zugelassen wurde. Gearbeitet wurde mit der Lüge, die FDJ sei pluralistisch aus einer Vielzahl von antifaschistischen Jugendorganisationen zusammengesetzt und werde von einem „Parlament“ geleitet. Versuche, die bündische Jugendbewegung neu zu gründen, die es unter anderem in Leipzig gab, wurden im Keim erstickt.
Mit falschen Versprechungen wurde Eberhard Koebel (genannt „tusk“), einer der ideenreichsten und politisch wachsten Führer der bürgerlichen Jugendbewegung, von Erich Honecker 1948 aus der England-Emigration in die SBZ/DDR gelockt. Die ihm zugesagte Position im FDJ-Zentralrat -wurde ihm jedoch verweigert, stattdessen wurde er bald als angeblicher Westagent aus der SED ausgeschlossen und kalt gestellt.
Die Vereinigung von BRD und DDR hat ein neues Interesse an der deutschen Jugendbewegung und an den jugendbewegten Kommunisten geweckt, die zuvor nur als „verlorene Söhne des Bürgertums“ behandelt wurden. Jetzt interessierte auch, was aus ihnen geworden war. Um drei Beispiele von ehemaligen Wandervögeln und „Meißnerfahrern“ von 1913 zu nennen: Der Schiftsteller Friedrich Wolf („Professor Mamlock“), Wandervogel jüdischer Herkunft aus Neuwied, wurde 1949 erster DDR-Botschafter in Polen. Karl Bittel, der als Herausgeber der Politischen Rundbriefe 1918-1920 die Linkswendung der „Freideutschen Jugend“ maßgebend beeinflusst hatte, wurde Direktor des DDR-Instituts für Zeitgeschichte. Alfred Kurella, Wandervogel aus Bonn, und zwischen 1910 und 1918 einer der bekanntesten Repräsentanten der Freideutschen Jugend, kam 1954 als Sowjetbürger in die DDR zurück und wurde Leiter der Kulturabteilung im ZK der SED.
Die Bündische Jugend gibt es noch immer als eine eigensinnige Jugendszene, Und noch immer ist sie eine singende Bewegung, die mit Gitarren auf Großfahrt geht und sich an ihrer eigenen, über 100-jährigen Geschichte orientiert. Ob sie, wie behauptet wurde, nur noch eine „Restgeschichte“ ist oder eine Zukunftsperspektive hat, ist noch nicht entschieden.

Eckard Holler, Jahrgang 1941, arbeitete nach seinem Studium als Gymnasiallehrer für Deutsch, Sport, Ethik und Philosophie; seit 2006 im Ruhestand. Er gründete 1970 den ClubVoltaire in Tübingen und war spiritus rector des Tübinger Folk- und Liedermacher-Festivals von 1975 bis 1987. Publikationen zur Bündischen Jugendbewegung – unter anderem: Der spätere Lebensweg von Eberhard Koebel-tusk – England-Emigration und DDR (1994). Lebt in Berlin.