von Wolfgang Hütt
Wird von der Kunst Willi Sittes gesprochen oder geschrieben, so steht fast immer das malerische Werk im Vordergrund. Es drängt stärker als die Vielzahl der von ihm gezeichneten Blätter an die Öffentlichkeit, obgleich die Zeichnungen Sittes nicht nur thematische und gestalterische Vorstudien zu seinen Gemälden sind, vielmehr einen sehr eigenständigen und äußerst umfangreichen Bestand unter den Zeugnissen seines künstlerischen Wirkens darstellen.
In Chrastava (Kratzau), der nordböhmischen Heimatstadt Willi Sittes, war Josef Führich (1800-1876) geboren worden, später eines der angesehensten Mitglieder des seit 1810 in Rom angesiedelt gewesenen „Lucasbundes“. Etwas von den bukolischen Idyllen in Zeichnungen von Führich, die Sitte im Museum seiner Heimatstadt sah, vor allem auch von der Zartheit des Striches in ihnen, blieb als Eindruck in dem zur Kunst hinstrebenden Arbeitersohn erhalten. Ein Teppichfabrikant, bei dem sich Sitte als Musterzeichner bewarb, hatte 1940 den Absolventen der Kunstschule des Gewerbemuseums in Liberec (Reichenberg) an die Meisterschule für monumentale Malerei in dem Eifeldorf Kronenburg vermittelt. Erhaltene Zeichnungen Sittes aus jener Zeit sind geprägt von der Eigenart des akademischen Naturstudiums in der durch seinen Lehrer Werner Peiner (1897-1984) vermittelten und dem 19. Jahrhundert entstammenden Schulmanier der Düsseldorfer Kunstakademie. Eine Kontroverse mit Peiner, der ein Günstling Hitlers war, führte zum Verweis von der Kronenburger Meisterschule und zum Einsatz im Krieg gegen die Sowjetunion. Im Februar 1943, als sich in Stalingrad die Niederlage der deutschen 6. Armee abzeichnete, erreichte den angehenden Maler der Versetzungsbefehl nach Italien. Dort verließ er zu Anfang des Jahres 1944 seinen Truppenteil und trat in einen italienischen Partisanenverband ein. Der sich festigende Antifaschismus des jungen Deutschen fügte seiner bereits erstaunlich präzisen Weise des Zeichnens politische Akzente hinzu. Drei Jahre später, und jetzt in Halle an der Saale, dem weiterhin bleibenden Ort seines Wirkens, machte sich im Schaffen des Künstlers ein Wandel bemerkbar, der ab 1949 sein Werk völlig durchdrang. In der Saale-Stadt gewonnene Freunde, vor allem Hermann Bachmann (1922-1995), hatten den Blick Willi Sittes auf die klassische Moderne im frühen 20. Jahrhundert gelenkt. Sitte gewann gegenüber den bis dahin angewandten akademischen Schemata der Linie und Fläche neue Bedeutungswerte ab. Ein volles Jahrzehnt lang wurde für ihn Picasso (1881-973) zum hauptsächlichen Anreger. Das aber in einer Zeit, in der den Ideologen der ostdeutschen Einheitspartei, die das Staatswesen der DDR lenkten, die Kunst Picassos der Inbegriff der Dekadenz im befeindeten kapitalistischen Gesellschaftssystem darstellte. Von Picasso lernte Sitte, Figur und Raum in ein positiv-negatives Flächenverhältnis zu bringen, auf diese Weise eine rhythmische Gestaltung der Fläche zu erreichen, klassisches Maß auf einen konstruktiven Grund zurückzuführen. In der 1951 entstandenen Zeichnung „Kindermord in Bethlehem“ gelang es Sitte, sein neu erworbenes zeichnerisches Ausdrucksvermögen in einen durchaus inhaltsbezogenen kompositorischen Zusammenhang zu bringen. Das zeichnerisch Reizvolle wie inhaltlich Bedeutsame der rhythmisierten Helldunkelverteilung lenkt auf das Wesentliche der Aussage hin, auf den Gegensatz von brutal angewandter Macht und menschlichem Leiden. An der Wende zu den sechziger Jahren indessen drängte Sitte den Einfluss Picassos zurück. Die von ihm dargestellten Körper erhielten wieder ihre normale Anatomie, sie wurden volumenhafter, blieben aber in der Zeichnung so vereinfacht, dass sie sich als frei verfügbares Kompositionselement in die Fläche einordnen ließen.
Zu den sechs Blättern des Zyklus „Wehe dem ersten Atomstrahl“ (1963) gehört eines, mit dem der Zeichner fragte: „Was habe ich dagegen getan?“ Sitte mischte sich ein, weil das Öffentliche ihn bis ins Private berührte. Sein Widerstreiten gegen die bis zur Mitte der sechziger Jahre in der DDR dogmatisierte Kunsttheorie machte Konflikte mit der Staatsmacht unvermeidbar. Im Jahre 1963 wurde sogar eine „Operativ-Vorlaufakte“ des Staatssicherheitsdienstes gegen Sitte eröffnet. Er war beschuldigt, „fortgesetzt handelnd in negativer Form gegen die Kulturpolitik der DDR“ aufzutreten. Ein Ergebnis seiner Streitbarkeit war, dass von Willi Sitte die sich zu jener Zeit in der DDR wandelnden kunsttheoretischen Ansichten zunehmend mitgetragen werden konnten.
Soziale Herkunft und politisches Bekenntnis waren für den Maler und Zeichner Sitte gleichermaßen ein Anlass, in den Motivkreis seiner Kunst die Gestalten Arbeitender aufzunehmen. Zumal in Zeichnungen Sittes, die gemalten thematischen Bilder vorausgingen, erscheinen Industriearbeiter völlig unheroisiert, rauchend während einer Arbeitspause, essend, trinkend. Oft bleiben, wie Stadien des Hineinsehens, nicht vollendete Vorzeichnungen und verworfene Ansätze neben ausgeführten Figuren erkennbar, sind als echte Bestandteile der Komposition in die Bildwirkung einbezogen. Es entsteht hierdurch eine Bildgestalt, die alle Möglichkeiten des Weiterdeutens offen lässt.
Sittes bevorzugtes Sommerdomizil an der Ostsee waren die Badestrände zwischen Ahrenshoop und dem Darß. Dort genoss er das Empfinden naturgegebener Körperfreiheit. In den Aktdarstellungen und Zeichnungen einander in Liebe verbundener Paare entwickelte sich des Malers Zeichenstil intensiv weiter. „Der nackte menschliche Körper […] ist etwas, das mich nie losgelassen hat, das Verhältnis der Geschlechter zueinander wie der Menschen überhaupt“, bekannte Sitte. Der Kritiker Jürgen Beckelmann sah in Sittes Präsentation des Nackten zugleich auch eine „gute Portion von Widerspruch gegen jene ‚sozialistische Moral’, die, sich ‚sauber’ dünkend, eine ganze Zeitlang reichlich prüde war: post-preußisch, sekundär-protestantisch.“
Zur Druckgrafik kam Willi Sitte verhältnismäßig spät. Als er 1967, nach wenigen vorausgegangenen Versuchen, ernsthaft zu lithografieren begann, war sein Stil nicht allein ausgereift. Sitte hatte bereits ein umfangreiches und bedeutendes zeichnerisches Werk geschaffen. Die Druckgrafik – Flachdrucktechniken wie die Lithografie und seit 1973 die Zinkografie – nutze er zum Vervielfältigen seiner großformatigen Zeichnungen. Ein Tüftler, der aus grafischen Techniken abgeleitete Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten aufspürt, wollte der Grafiker nicht sein. Was er zu zeigen gedachte, setzte er linear und mit wenigen vom Pinsel aufgetragenen Tonwerten in die Spannung von Bewegung und Beziehung zwischen Körpern und Raum. Besonders im grafischen Werk Sittes nehmen Hommages einen beachtlichen Platz ein. Er widmete sie Malern und Plastikern, die seine besondere Verehrung fanden. Die meisten von ihnen teilten mit Sitte das künstlerische Interesse am menschlichen Körper, an dem Ursprünglichen, das sich ihm verbindet. Andere, wie Gustave Courbet (1819-1879), wurden ihm durch ihre Haltung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft zum Vorbild. Den Dichter Heinrich Heine (1797-1856) fügte der Maler dieser Ahnenreihe hinzu, weil nur wenige wie er das „Hohe Lied“ der Liebe sangen.
Der Dichter der sich dem Tode verbindenden Motive im Schaffen des Malers nach 1989 verrät manches von Sittes psychischem Zustand nach dem Zusammenbruch eines politischen Systems, mit dem sich eine Hoffnung an ein ersehntes Maß von Menschlichkeit verband, dessen Machtstrukturen er jedoch nicht als Verformungen missbrauchter Ideale zu durchschauen vermochte. Willi Sitte bekannte: „Wie jemand an Jesus Christus glaubt, so war ich der Meinung, die Arbeiterklasse ist die revolutionäre Kraft. Ich möchte weiter daran glauben, aber es gelingt mir nicht.“
Einen beachtlichen Platz im Spätwerk Sittes nimmt die Folge vom „Herrn Mittelmaß“ ein. Zu ihr gehören Blätter, die in verschiedenen Techniken entstanden: als Zeichnung mit Tusche, Kohle und Weißhöhungen oder wie eines der frühesten, als Farbzinkografie. Sie sind die sehr subjektive Reaktion des Künstlers auf das Ende der DDR und den Anschluss ihres aufgegebenen Hoheitsgebietes an die deutsche Bundesrepublik. Sitte erinnerte sich einer Äußerung Carl von Ossietzkys vom „Herrn Durchschnittsmenschen“. Der Art, wie dieser in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen schnell hochkommt und sich wandelt, „blitzschnell von Gier und Lust auf Macht“, widmete Sitte die fast ausschließlich nackt erscheinenden und so auch durch das Schlaffe ihrer Körper entlarvend und mit wechselnden Gesichtern dargestellten Figuren der von ihm geschaffenen Folge. Sitte sah mit schmerzhafter Deutlichkeit die „Zweigesichtigkeit“ nicht nur von Menschen, sondern des Daseins überhaupt. Seine Gabe des Bildfindens blieb ungebrochen, sein Sinn für das Gebrochene aber wurde geschärft.
Bis zu seinem Tode hin wurde Sittes Werk nicht allein des sich ihm verbindenden politischen Bekenntnisses wegen angegriffen, zugleich auch mit dem Vorwurf eines in der Gestaltung sich offenbarenden Eklektizismus bedacht. Wer indessen beobachtet, wie die künstlerischen Aneignungen Sittes stets begleitet waren von einem staunenswerten, phantastischen Anwenden der Motive und Formen, der entdeckt vor allem das Schöpferische in der Kunst dieses Malers und Zeichners, erkennt ihren bleibenden kunstgeschichtlichen Rang.
Schlagwörter: Grafik, Kulturpolitik der DDR, Willi Sitte, Wolfgang Hütt