von Lucien Sève
Liberal sein heißt in der Tradition von Hugo Grotius, John Locke, Adam Smith oder Alexis de Tocqueville, für die Freiheit des Individuums gegen politischen Absolutismus, ökonomischen Dirigismus und philosophische Intoleranz zu kämpfen. Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert und nicht zuletzt in drei ruhmreichen Revolutionen in den Niederlanden, England und Amerika hat die Denkschule des Liberalismus Geschichte geschrieben.
Aber genau in dieser Epoche erreichte auch die Sklaverei ihren Höhepunkt: Allein in Amerika gab es um 1700 etwa 330.000 Sklaven, um 1800 waren es bereits fast drei Millionen und Mitte des 19. Jahrhunderts sechs Millionen. Die Niederlande schafften die Sklaverei in ihren Kolonien erst 1863 ab. Mitte des 18. Jahrhunderts lebten die meisten Sklaven im Kolonialreich Großbritanniens: 900.000. Die schlimmste Form der Sklaverei, die im späten 18. Jahrhundert eingeführte „racial chattel slavery“, war auch eine Erfindung der Briten, mit der sie die afrikanischen Plantagenarbeiter zur „beweglichen Sache“ erklärten. Eine krassere Verleugnung der individuellen Freiheit ist kaum vorstellbar.
Der italienische Philosoph Domenico Losurdo meint, die liberale Lehre habe wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Beginn an zwei Gesichter gehabt: Einerseits flammende Plädoyers für die individuelle Freiheit, die jedoch nur weißen Besitzbürgern zugestanden wurde, dem „Herrenvolk“ – das deutsche Wort wurde von den meist anglophonen Ideologen übernommen; andererseits die zynische Verleugnung menschlicher Würde für die Kolonisierten, die so genannten Barbarenvölker der Iren und Indianer und für das „einfache Pack“ der Diener und Arbeiter.
Losurdos „Gegengeschichte des Liberalismus“ enthüllt, ohne dessen Verdienste zu leugnen, das ganze Ausmaß dieser von der liberalen Hagiografie vertuschten Schattenseite. Wenn man etwa liest, dass der große liberale Philosoph John Locke Aktionär der Royal African Company war, der Nummer eins im Sklavenhandel, lernt man die Ursprünge unserer Moderne mit anderen Augen zu sehen. Das sei doch alles bekannt, mögen manche sagen, und dennoch hält sich hartnäckig die Legende vom Goldenen Zeitalter des Liberalismus.
Losurdo findet indes zahlreiche Belege, die diese infrage stellen. So heißt es etwa bei Tocqueville über die amerikanischen Ureinwohner: „Die Vorsehung, die diese Menschen mitten in die Schätze der Neuen Welt versetzte, schien ihnen nur eine kurze Nutznießung gewährt zu haben; sie waren sozusagen immer nur vorläufig da. Diese Küsten, die sich so trefflich für Handel und Gewerbe eignen, diese tiefen Ströme, dieses unerschöpfliche Tal des Mississippi, dieser ganze Erdteil – sie erscheinen so gleichsam als noch leere Wiege einer großen Nation.“ So rechtfertigt ein berühmter Liberaler mit leichter Feder einen der größten Völkermorde der Geschichte und liefert avant la lettre die Vorlage für die Doktrin vom „Land ohne Volk“, das dank göttlicher Fügung einem „Volk ohne Land“ in den Schoß gefallen sei.
Aufschlussreich für das Verständnis der Amerikanischen Revolution, die Ende des 18. Jahrhunderts von liberalen Siedlern und Sklavenhaltern angeführt wurde, sind auch die überlieferten Zitate eines George Washington oder seines Vizepräsidenten und Nachfolgers John Adams. Wenn etwa die „frei und weiß geborene(n) britische(n) Untertanen“ der britischen Krone aus tiefstem Herzen entgegenschmetterten: „Wir wollen nicht ihre Neger sein!“, wird deutlich, dass die „für das Individuum“ geforderten Freiheiten keineswegs für alle Menschen galten, sondern nur für die kleine Zahl der im doppelten Sinne religiös wie staatsbürgerlich „Erwählten“. Insofern vertrat der Liberalismus keinen wirklich universalistischen Anspruch.
Tatsächlich ist das historische Fundament des Liberalismus ein aggressiver Partikularismus. So rechtfertigte etwa Hugo Grotius (1583–1645), der noch heute von Völkerrechtlern („De Jure Belli ac Pacis“) bis zu Gemeingüter-Aktivisten („Mare Liberum“) vielzitierte Vordenker des Liberalismus, die Sklaverei in Anlehnung an Aristoteles als naturrechtliche Institution – „Es gibt Menschen, die Sklaven von Natur sind, dazu geboren, Knechte zu sein.“ – und bezeichnete die Ureinwohner der holländischen Kolonien als „wilde Tiere“ und deren Religion als „Aufstand gegen Gott“, der strengstens bestraft werden müsse.
Es handelt sich hier um keinen Einzelfall: In der liberalen Idee lebt ein ausgesprochen inhumaner, auf Segregation basierender „anthropologischer Aristokratismus“. Wiederholt fündig wird Losurdo beim berühmtesten französischen Amerikareisenden, Alexis de Tocqueville (1805–1859), den man mit Fug und Recht einen „demokratischen Aristokraten“ nennen kann: „Die europäische Rasse hat vom Himmel oder durch ihre Anstrengungen eine so unbestreitbare Überlegenheit über alle anderen Rassen erhalten, die die große menschliche Familie bilden, dass der Mensch, der bei uns seiner Laster und seiner Unwissenheit wegen auf die letzte Stufe der gesellschaftlichen Leiter gestellt wird, bei den Wilden immer noch der erste ist.“ Heute ist man fassungslos angesichts solchen Kastendünkels; doch bei fortschreitender Lektüre von Losurdos „Gegengeschichte“ wird deutlich, dass diese Haltung weniger der psychosozialen Disposition einzelner Persönlichkeiten zuzuschreiben ist, als vielmehr tatsächlich ein Grundzug des Liberalismus in Theorie und Praxis darstellt. Liberalismus und Demokratie waren niemals Synonyme.
„Es handelt sich“, schlussfolgert Losurdo, „um einen Diskurs, der sich ganz auf das konzentriert, was für die Gemeinschaft der Freien ihr begrenzter heiliger Raum ist“ – ein heiliger Raum, wie ihn eine ethisch-religiöse, sich maßgeblich auf das Alte Testament berufende Kultur rechtfertigt. Man braucht nur den „weltlichen Raum“, dem die Sklaven in den Kolonien und die Diener in den Mutterländern zugeschrieben werden, in die Analyse einzubeziehen, um zu erkennen, wie unpassend und geradezu irreführend die Kategorien – absoluter Vorrang der individuellen Freiheit, Antietatismus, Individualismus – sind, an denen sich für gewöhnlich die Geschichtsschreibung des liberalen Westens entlang hangelt. England soll im 18. und 19. Jahrhundert das Land der Religionsfreiheit gewesen sein? In Bezug auf Irland beobachtete der Liberale Gustave de Beaumont (1802–1866), der übrigens Tocqueville auf dessen Amerikareise begleitet hat, eine „religiöse Unterdrückung, die über alle Vorstellungskraft hinausgeht“.
Zur langen Geschichte des Liberalismus gehören auch die vielen Stimmen, die ihn, zumindest implizit, infrage stellten oder ihm auch direkt widersprechen. So lässt Losurdo auch Vertreter von universalistisch ausgerichteten Denkschulen auftreten, von der des katholischen Monarchisten Jean Bodin (1530–1596), der sich radikal gegen Kolonialismus und Sklaverei wandte und bei dem sich fortschrittliche Denker bedient haben wie der Abolitionist David Ramsay (1749–1815) – und Karl Marx, der als Soziologe und Historiker den „konservativen Charakter der Englischen Revolution“ luzide entlarvt hat.
Die politische Emanzipation der Besitzbürger war tatsächlich der Ausgangspunkt für soziale Unterdrückung, sowohl der Kolonisierten wie der heimischen Bauern, bis hin zum städtischen Proletariat und den berüchtigten Arbeitshäusern.
So bedeutsam die liberalismuskritischen Positionen von Bodin bis Marx gewesen sein mögen, letztlich entscheidend waren die Bewegungen von unten. Losurdo verweist zu Recht an erster Stelle auf die Haitianische Revolution von 1791, als unter der Führung des freigelassenen Sklaven Toussaint Louverture die französischen Kolonialherren vertrieben wurden und die Sklaverei abgeschafft wurde. Eine ähnliche Bedeutung schreibt Losurdo der Russischen Revolution zu: „Genau gesehen waren es der Aufstand von San Domingo beziehungsweise die Oktoberrevolution, diese beiden der liberalen Kultur ihrer Zeit so verhassten Kapitel der Geschichte, die zuerst die Sklaverei und dann das terroristische Regime der weißen Vorherrschaft in die Krise stürzten.“
Ohne auf die jüngste Entwicklung, den Neoliberalismus, einzugehen, fragt sich Losurdo am Ende, inwiefern der Liberalismus auch für die „Katastrophen des 20. Jahrhunderts“ Verantwortung trägt. In Anlehnung an die These von Hannah Arendt, „die Genese des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts […] von den Kolonien des Britischen Empire“ ausgehend zu erklären, hätten sich das System der Konzentrationslager und andere totalitäre Institutionen bereits „vor dem Ende der vermeintlichen Belle Epoque“ abgezeichnet, wie etwa die „aufeinanderfolgenden blutigen Deportationen der Indianer“.
Mit der entwürdigenden Behandlung afrikanischer Sklaven in der Neuen Welt habe man „einen kaum zu übertreffenden Punkt erreicht“, schreibt Losurdo. In Britisch-Jamaika musste zum Beispiel „ein Sklave einem anderen Sklaven zur Strafe in den Mund defäkieren, der danach für vier oder fünf Stunden zugenäht wurde“. In den USA bekamen Kinder schulfrei, um bei einem Lynchmord zuzusehen, und 1913 erschien in Boston ein Buch, in dem es um die „Endlösung“ („ultimate solution“) der „Schwarzenfrage“ ging.
Ob Rassismus oder Nationalsozialismus, „das Ungeheuer, das sich offen auf die Welt stürzen konnte, ist zu einem Großteil unser Geschöpf, und wir alle sind verantwortlich für die grauenhafte Form, die es angenommen hat“, zitiert Losurdo am Ende seiner „Gegengeschichte des Liberalismus“ den britisch-amerikanischen Anthropologen Ashley Montagu.
Der Beitrag des französischen Philosophen Lucien Sève (aus dem Französischen von Claudia Steinitz) erschien zuerst in Le Monde diplomatique Nr. 10154 vom 12.7.2013. Wir danken der Redaktion für die freundliche Übernahmegenehmigung.
Domenico Losurdo: Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, PapyRossa Verlag, Köln 2011 (2. durchgesehene und erweiterte Auflage), 476 Seiten, 22,90 Euro.
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