16. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2013

Rudolf Grüttner: Gebrauchsgrafik – Arbeiten aus fünf Jahrzehnten

von Hans-Eberhard Ernst

Sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Freunde und Kollegen,
lieber Rudolf,

„Ist das Kunst oder kann das weg?“ Einer Raumpflegerin aus dem altbundesdeutschen Niedriglohnsektor verdanken wir diese bewegende Frage, deren Sensibilität manch DDR-Künstler den Putzkolonnen der Brüder und Schwestern gewünscht hätte, die sich einst der Kulturlandschaft der neuen Bundesländer annahmen. Damals erfuhr ich, dass Beeskow eine Burg hat, die offensichtlich zur Fluchtburg der DDR-Kunst wurde, zumindest der Auftragskunst Asyl gewährte, der mitunter der Makel des Erfüllungsgehilfentums und der Steigbügelhalterschaft anhaftete. Nicht ganz zu Recht, denn auch Michelangelos Werke waren Auftragskunst und seine Auftraggeber wahrlich keine Musterknaben.
War das Bewahren von Kunstwerken aus der DDR vor mehr als zwanzig Jahren ein Erste-Hilfe-Akt der Beeskower Burgherren oder ein letzter Rettungsversuch? Nur eine edle Geste oder Teil eines Programms? Denn auch diese Ausstellung zeigt Auftragskunst aus der DDR und der Bundesrepublik. Gebrauchs-Grafik war Auftragskunst, als Alltagskultur geschätzt und als Teil der Bildenden Kunst angesehen, anerkannt und gefeiert, zum Teil sogar auch Exponate dieser Ausstellung international beachtet.
Traditonsgemäß nannten wir uns im Osten Gebrauchsgrafiker. Unsere westdeutschen Kollegen distanzierten sich von dieser Berufsbezeichnung, weil der Gebrauchsgrafiker auf den Gelben Seiten bundesdeutscher Branchenverzeichnisse in unmittelbarer Nähe zum Gebrauchtwaren- und Gebrauchtwagenhändler stand. Aus dieser vermeintlichen Schrottecke wollten sie heraus und nannten sich Grafikdesigner. Wortschreierische Werbestrategen erfanden dazu den allumfassenden Begriff der Visuellen Kommunikation.
„Herr Professor“, fragte ein DDR-Fernsehmoderator den verehrten Buchgestalter und Illustrator Werner Klemke, „ist Gebrauchsgrafik eigentlich immer Kunst?“ Und Klemke antwortete: „Det könn Se die Maler und Bildhauer jenauso fragen, det is ooch nich immer Kunst, wat die machen.“ Und dann erklärte er sinngemäß dass auch in der Gebrauchsgrafik, beim Plakat oder beim Büchermachen Kunst entstehen kann, wenn es dem anspruchsvollen Gestalter gelingt, mit seiner Arbeit über den eigentlichen Auftrag hinaus allgemeingültige oder individuelle Werte zu schaffen.
Rudolf Grüttner ist solch ein anspruchsvoller Gestalter, der 1933, also vor achtzig Jahren im schlesischen Schweidnitz als vierter Sohn eines Eisengießers und einer Handschuhnäherin geboren wurde. Nach 1000jähriger Kindheit musste er unfreiwillig sein Heimatstädtchen verlassen, landete zunächst im oberbayrischen Weilersbach und siedelte Jahre später durch Familienzusammenführung ins sächsische Zwickau über, wo man den talentierten Knaben in eine Schrift- und Plakatmalerlehre gab. Seine schreiberische Ausbildung begann zunächst mit dem Ausschöpfen der Jauchegrube des Meisters, bevor er mit den Geheimnissen der Schriftkunst und des Transparentemalens vertraut gemacht wurde. Danach konnte er sein Repertoire als Plakatmaler bei der örtlichen Konsum-Genossenschaft erweitern und in einem Malzirkel bei Herrn Schmidt aus Chemnitz-Rottluff seine Fähigkeiten und Fertigkeiten vervollkommnen. Da er ein Kind der Arbeiterklasse war, durfte er dann sogar studieren. Jahre später begegnete er seinem Lehrer in einer Ausstellung wieder und erfuhr, dass es der Brücke-Maler Schmidt-Rottluff war, der ihnen damals auf die Sprünge half.
Grüttners Entwicklung, kurz gefasst mit heutigen Worten: jung, dynamisch und erfolgreich, anpassungsfreudig, das nennt man heute flexibel, vorbehaltlos leistungsbereit, entwicklungsfähig und förderungswürdig. Den Rahmenbedingungen entsprechend, konnte er nach dem Studium einen künstlerischen Beruf ergreifen, sogar freischaffend arbeiten, erhielt hohe Auszeichnungen und wurde letztendlich Professor und Rektor einer Kunsthochschule. Eine Bilderbuch-Karriere.
Eine Bilderbuchkarriere auf dem kontaminierten Boden des Arbeiter- und Bauernstaates mit SED-Diktatur und Stasi-Willkür, von dem offenbar nur noch Opfer, Täter und Akten übrig blieben? Wie war das möglich?
Wir trafen uns 1952 beim Studium an der Fachschule für Grafik Druck und Werbung in Berlin-Oberschöneweide. Berlin, die Hauptstadt, war für Rudolf Grüttner Ziel und Endstation einer gesamtdeutschen Odyssee und zugleich abenteuerlicher Startplatz in ein neues Leben. Krieg, Ausbürgerung und Flucht hatte er als Knabe erlebt, als Umsiedlerkind erfuhr er die ach so christliche Nächstenliebe katholischer Prägung in der bayrischen Provinz und bald danach die streng evangelische Variante der Herrnhuter Gemeine im sächsischen Zwickau.
Auf der Suche nach selbstbestimmter Lebensorientierung kam er zu der Erkenntnis: Du musst deinen eigenen Weg gehen!
Der jugendliche Held krempelte die Ärmel hoch und packte zu, wo es nötig schien, renovierte Klub und Kloräume der neu gegründeten Jugendorganisation FDJ, gründete mit sangesfreudigen Gleichaltrigen einen Chor und entwickelte sich zum Tatmenschen, der aktiv seinen Teil beitragen wollte, die Folgen des Krieges zu überwinden und die Grundlagen für ein neues, besseres Leben mit zu schaffen. Die DDR war zwar nicht wie die Bundesrepublik ein Rechtsstaat, sondern ein Linksstaat, was ihm recht war.
Auch während des Studiums war seine Aktivität ungebremst. Er leitete, wie unsere Bundeskanzlerin, die FDJ-Gruppe der Fachschule, gründete einen Schulchor und eine Volkstanzgruppe, beteiligte sich an Sportwettkämpfen und schippte jeden Mittwoch Trümmerschutt im zerstörten, wiederaufzubauenden Berlin. Wie viele, ein optimistischer Weltverbesserer en miniature.
Er sah das Studium als großes Geschenk an und nahm es ernst. Damit hatte sich für ihn ein Tor geöffnet, das einen ungeahnten Weg freigab zu Kunst, Literatur und klassischer Musik. Bildung war immer ein Privileg des Bürgertums gewesen, nun gab man ihm, dem Arbeitersohn die Chance für ein besseres selbstbestimmtes Leben. Dankbarkeit und Pflichtgefühl beflügelten ihn.
1956 nach seinem Diplom durfte er als Assistent an der Fachschule bleiben und wurde nach zusätzlichem Fernstudium Fachschullehrer. Ab 1960 prägte er sechs Jahre lang als Chefgrafiker das Gesicht der Wochenzeitschrift Freie Welt, womit nicht der sich „Freie Welt“ nennende Westen gemeint war. Danach war er freischaffend tätig bis er 1975 als Oberassistent an die Kunsthochschule Berlin ging, dort Dozent, Professor und 1988 Rektor wurde.
Zur gleichen Zeit leitete er im Verband Bildender Künstler der DDR den Bezirksverband Berlin und war einer der Stellvertreter des Verbandspräsidenten Prof. Willi Sitte, hatte den Goethe-Preis der Stadt Berlin und den Kunstpreis der DDR erhalten und war zweifacher Nationalpreisträger. International vertrat er die Grafiker der DDR in der ICOGRADA. Aus dem optimistischen Weltverbesserer und materialistischen Idealisten war inzwischen ein Repräsentant der DDR-Künstler und kritischer Realist geworden, der lehrend und gestaltend einzugreifen vermochte, noch relativ jung, immer noch dynamisch und nicht ganz erfolglos damals ein Hoffnungsträger.
Und dann kam alles ganz anders. Die Mauer fiel, auch seine Kollegen hatten daran gerüttelt, die DDR zerbrach und verschwand unwiderruflich und mit ihr vieles, was er und seine Künstlerkollegen erreicht, erstritten und errungen hatten.
Als er 1990 nicht mehr das volle Vertrauen des Weißenseer Hochschulsenats hatte, trat er als Rektor zurück und beendete vier Jahre später schweren Herzens seine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule Berlin. Das fiel ihm nicht leicht. Einmal noch führte ihn 1995 ein Lehrauftrag an die Hochschule für Gestaltung nach Karlsruhe.
Eine neue Zeit war angebrochen. Der Gebrauchsgrafiker, so eine Art Ich-AG, wurde nicht mehr gebraucht, seine Auftraggeber abgewickelt, evaluiert, stillgelegt, wie auch andere Eliten des kleinen Landes. Seither agieren Computer-Agenturen mit Design oder Nicht-Design – aber das ist hier nicht die Frage.
„Ist das Kunst oder kann das weg?“, fragte sich nun auch Rudolf Grüttner nach erfolgreichem Berufsleben, als er seine Arbeiten aus mehr als fünf Jahrzehnten für diese Ausstellung wieder aus den Schubfächern zog. Da ist zunächst die stattliche Reihe vorzüglicher Plakate.
Vor zehn Jahren hatte er sich und seinen Kollegen schon mit einer Langen Nacht der Plakate in einer Berliner Tennishalle für wenige Stunden ein unvergesslich großes Fest für das Auge, ein Wiedersehen mit seinen besten Plakaten, seinen zahlreichen Kollegen und guten Freunden bereitet. Unser Kollege Axel Bertram sprach damals von der ernsten Wirkungsmächtigkeit dieser Arbeiten, die wir alle noch seit ihrem Erscheinen an den Litfaßsäulen in Erinnerung hatten und die an jenem Abend erneut zu spüren war: „Deine Plakate,“ so Bertram, „haben Monumentalität, und diese Feststellung hat nichts zu tun mit ihrer Erscheinungsform im A-Null-Format, sie wären dies auch als Briefmarken. Deine besten Plakate wirken wie Denkmale, mächtig und unerhört einfach und diese scheinbare Einfachheit ist schwer erarbeitet. Große Idee, große Form, große Farbe, ein möglichst konzentrischer Aufbau, er gehört zu den wenigen, die bei den klassischen Regeln blieben, sein Ziel hieß: maximale visuelle Durchschlagskraft.“ Bertram zählte einige der Arbeiten zum Grundbestand deutscher Plakatkunst und betonte: „Das Unvergessliche war, dass sie sich eingebettet wissen durften in eine reich entfaltete Plakatkultur.“
Und das ist keine nostalgische oder gar ostalgische Schwärmerei älterer Zeitgenossen. Diese grafische Landschaft, zu der große Vorbilder den Boden bereitet hatten, gab es tatsächlich und sie befeuerte und beschleunigte das Heranwachsen der neuen Gestaltergeneration. Konkurrenz war damals noch Ansporn und leistungsförderndes Schwungrad und nicht wie heute bitter geführter Verdrängungskampf. Bei allem individuellen, beruflichen Ehrgeiz, der bei Rudolf gut entwickelt war, freute man sich auch über Erfolge der Kollegen, gelungene Arbeiten von Freunden, Mitstreitern um ein anspruchsvolles Niveau im Plakatschaffen, in der Buchgestaltung, in Wirtschafts- und Kulturbereichen und man ärgerte sich über die oft beliebige und belanglose Darstellung gesellschaftlicher Anliegen und des Sports.
Auch wenn ich heute von Leuten mit altbundesdeutschem Migrationshintergrund der Schönfärberei und Verharmlosung verdächtigt werde, wenn ich eigene Erfahrungen gegen das in den Medien geprägte und gepflegte Schreckensbild vom Willkürstaat setze, Kultur und Kunst konnten sich im Reservat DDR günstigere Bedingungen schaffen, als auf der marktorientierten freien Wildbahn des real existierenden Egoismus.
Mit dazu beigetragen hat auch Rudolf Grüttner als verantwortungsbewusster Künstler und Sachwalter, ein Zeitzeuge und geradezu ein Musterbeispiel für einen Werdegang im viel gescholtenen Arbeiter-und Bauernstaat vom Malerlehrling zum Kunstprofessor, ein Mitstreiter für ein kulturvolles Leben in einer gerechteren Gesellschaft, damals und heute.
Gewiss gab es nach dem DD-Rdrutsch eine Bruchstelle in seinem Berufsleben, aber die erlebten und erlitten mit unterschiedlicher Fallhöhe auch alle seine Kollegen. Die Spielwiesen des Kulturplakats wurden überrollt von einer Tsunami-Welle banaler Riesenbildtapeten, eine bisher ungekannte Art visueller Umweltverschmutzung. Nicht nur der gesellschaftliche Umbruch, auch die Computertechnik forderte einen Neubeginn.
Das der Tatmensch Grüttner nicht resignierte und aufgab, sondern wenn auch zurückgezogen weiter machte, zeigen einige wenige Arbeiten der Neuzeit in dieser exzellenten Leistungsschau, zum Beispiel die Briefmarkenentwürfe für die Bundespost.‘
Gebrauchsgrafik oder Graphikdesign ist eine Kunst, die man nicht erklären muss, sie spricht für sich selbst, für ihr Anliegen und im besten Falle für ihren Gestalter, seine Haltung, seinen Charakter.
Rudolf Grüttners Theaterplakate sind mehr als Ankündigungen von Theaterereignissen, sie sind Bekenntnisse zu den Idealen des Humanismus. Die Sehnsucht nach Freiheit in Beethovens „Fidelio“, Missachtung der Menschenwürde in Büchners „Wozzeck“, Gleichschaltung und Opportunismus in Gorkis „Somow“ und andere und Korruption und organisierte Kriminalität in Brechts „Arturo Ui“. Ingeborg Ruthe schrieb vor zehn Jahren: „Mitunter waren seine Plakate besser als die Filme, Wesentliches sollte ausgedrückt werden, eine bildende, poetische Botschaft, schnörkellos, unverspielt.“
Seine Plakate stehen immer wieder im Vordergrund wegen ihrer im Grunde kompromisslosen Klarheit, die wir aber auch in seinen anderen Arbeiten finden, in der Buchgestaltung, Zeitschriften, Bildbänden, Signets und Kalendern. Den Literaturkalender des Aufbau-Verlags, damals ein begehrtes Sammelobjekt, gestaltete er mehr als zwei Jahrzehnte lang zusammen mit seiner Frau Eva. Auch eine Probe des Ausstellungsgestalters Grüttner sehen Sie hier zum ersten Mal als Ausstellung in der Ausstellung in gedruckten Tafeln zur Luther-Ehrung 1983 als besonderes Beispiel künstlerischer Sorgfalt und künstlerischen Ernstes.

Lieber Rudolf,
„Wenn der Ernst in die Jahre kommt, wird er zur Langeweile“, sagte Oscar Wilde und ich hoffe er meinte weder Dich noch mich.
Vor 20 Jahren widmete ich Dir ein paar Verse nach der Art des Hans Sachs, die ich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wiederholen kann:

80 Jahre Rudolf Grüttner

Ross und Reyter und Gerittner
Schlesier/ Bayer/ Sachs/ Berliner
Kunstprofessor/ Hochschuldiener
Sangesfroher Tennis-Schläger
Bart- und Nationalpreisträger
PlakatGebrauchs-Graphist
Rudolf/ bleyb so wie Du bist!

Und Ihnen allen wünsche ich eine anregende visuelle Kommunikation.

Der Autor hielt diese Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Rudolf Grüttner: Gebrauchsgrafik – Arbeiten aus fünf Jahrzehnten“ auf Burg Beeskow am 29. Juni 2013.
Die Exposition ist bis 29. September 2013 zu sehen; weitere Informationen im Internet
(www.burg-beeskow.de).