von Gerhard Dilger, São Paulo
Die Lethargie ist vorbei in Brasilien – eine ähnlich breite gesellschaftliche Aufbruchsstimmung wie derzeit hat das Land zuletzt vor knapp 30 Jahren erlebt. Damals, gegen Ende der Militärdiktatur (1964-85), drehte sich ein Jahr lang fast alles um die Forderung nach einem deutlichen Einschnitt durch direkte Präsidentschaftswahlen, treibende Kräfte waren neben der bürgerlichen Mittelschicht die linke Arbeiterpartei PT und die Gewerkschaften.
Heute ist der Protest sehr viel heterogener. Die PT, seinerzeit Sprachrohr der sozialen Bewegungen, ist nach einem langen Marsch durch die Institutionen und zehn Jahren als führende Regierungspartei Teil des Establishments und zahlt dafür einen hohen Preis.
Ausgelöst wurde die Demonstrationswelle im Juni durch die „Bewegung für den Nulltarif“ (MPL), die 2005 auf dem Weltsozialforum von Porto Alegre entstanden war. In den letzten Jahren hatte die von der Arbeiterpartei PT angeführte Bundesregierung durch Steuererleichterungen für die Autoindustrie den Individualverkehr angekurbelt und den Dauerstau in Brasiliens Städten auf die Spitze getrieben. Millionen verlieren tagtäglich viele Stunden auf dem Weg zur Arbeit; infolge von Stress und Luftverschmutzung liegt die Lebenserwartung der Bewohner São Paulos drei Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt.
Nicht einmal im Vorfeld der Fußball-WM 2014 konnten sich Konzepte für einen beherzten Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs durchsetzen. Zahlreiche Projekte blieben in der wuchernden Bürokratie stecken. Im Confederations Cup und in der WM verdichtet sich das Modell einer globalen Apartheid: Milliarden Steuergelder, die anderswo fehlen, fließen in die Fifa-Spektakel, brasilianische und ausländische Multis profitieren.
Immerhin steht jetzt die Debatte über eine vernünftige Verkehrspolitik weit oben auf der politischen Tagesordnung – völlig offen ist allerdings, ob und wie die Kommunen, Bundesstaaten und Brasília umsteuern werden. Denn bislang sind Busse und (einige wenige) U-Bahnen vor allem für die Armen da – entsprechend niedrig sind die Investitionen der öffentlichen Hand. Zudem befinden sich private Transportunternehmen ebenso wie die großen Baufirmen meist in der Hand korrupter Kartelle, die über die von ihnen finanzierten Stadträte und Abgeordneten einen enormen politischen Einfluss ausüben.
Kommunalpolitiker, auch jene mit besten Absichten, waren und sind diesen mafiösen Interessen ausgeliefert. Bereits 2001 und 2002 wurden zwei prominente PT-Bürgermeister deswegen ermordet; aufgeklärt sind die Mordfälle bis heute nicht.
Ähnlich stark ist der Einfluss anderer mächtiger Wirtschaftsinteressen – vom Finanzkapital bis zum Agrobusiness – auf Politik und Justiz: Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-10) und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff konnten oder wollten keine Strukturreformen umsetzen. Steuer- und Landreform blieben ebenso Makulatur wie die Reform des politischen Systems, die die Präsidentin jetzt unter dem Eindruck der Proteste wiederentdeckt hat.
Zudem fand in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen ein regelrechtes Rollback statt. Im Bestreben, ihre konservativen Verbündeten bei der Stange zu halten, räumten die PT-geführten Regierungen viele Positionen. Im Wahlkampf 2010 wollte sich Rousseff nicht mehr zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch bekennen, weil sie um Stimmen aus dem rechtskatholischen und evangelikalen Lager fürchtete.
Der Menschenrechtsausschuss des Abgeordnetenhauses von Brasília, früher eine PT-Domäne, wird nun von einer rechten Mehrheit dominiert. In der letzten Woche brachte diese einen Gesetzentwurf auf den Weg, der Schwulen und Lesben medizinischen Beistand bei der Abkehr von ihrer sexuellen Orientierung in Aussicht stellt. Der Vorsitzende, ein evangelikaler Pastor, ist bekennender Schwulenhasser. Aus derselben Ecke kommen Bestrebungen, Frauenrechte zurückzustutzen.
Im Jahr 2012 wurde unter dem Druck der noch stärker im Parlament vertretenen Agrarier das Waldgesetz ausgehöhlt. Auch hier kam von der PT, die vor zehn Jahren mit der Umweltschutzikone Marina Silva angetreten war, um eine neue Politik für Amazonien durchzusetzen, kaum noch Widerstand.
Nun will die Agrarlobby die Verfassungsrechte der indigenen Bevölkerung beschneiden – im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo die verbliebenen Indianergebiete von Zuckerrohr- und Sojafeldern regelrecht umzingelt sind, werden in Landkonflikten Monat für Monat Indigene ermordet. Die Bundesregierung hüllt sich in peinliches Schweigen. Anders als sämtliche ihrer Vorgänger seit Ende der Diktatur 1985 hat Dilma Rousseff bislang noch keine Delegation der Indigenen empfangen.
Und anders etwa als Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien haben die PT-geführten Regierungen der letzten zehn Jahre auf Klassenversöhnung und Entpolitisierung gesetzt. Und bei aller Modernisierung des Kapitalismus samt sozialer Abfederung änderte sich nichts an der ungleichen Verteilung des Reichtums.
Durch die hochgelobten Sozialprogramme, die nur einen Bruchteil des alljährlichen Schuldendienstes ausmachen, wurde zwar die extreme Armut verringert, doch Rohstoffexport und die Erschließung neuer Konsumentenschichten sind die wichtigsten Wachstumsmotoren. Lula und Rousseff setzten und setzen auf Wachstum um jeden Preis und wurden zu Lieblingen der Finanzmärkte und westlicher Leitmedien.
Zugleich kooptierten und demobilisierten sie ihre klassische Basis, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Deswegen trägt die Arbeiterpartei Mitverantwortung dafür, dass sich die gesellschaftspolitischen Koordinaten deutlich verschoben haben. Die brasilianische Rechte, sonst eher konzeptionslos, kann sich sogar Hoffnungen machen, Teile der Unzufriedenen vor ihren Karren spannen zu können.
Viele der aktuellen Forderungen beziehen sich direkt auf das „Recht auf Stadt“, etwa jene nach einem guten öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen oder nach mehr Sicherheit. Die gesellschaftliche Linke – inner- wie außerhalb der PT – müsste diese Forderungen nun zuspitzen und so den fortschrittlichen Kräften in der Regierung, ja der Präsidentin selbst neuen Spielraum verschaffen.
Der Großteil der „organisierten Zivilgesellschaft“ von NGOs, Gewerkschaften und „klassischen“ sozialen Bewegungen wie etwa der Landlosenbewegung MST, deren Führungskader zusammen mit Lula und der Arbeiterpartei groß geworden waren, hatte sich dennoch mit den Verhältnissen abgefunden und steht nun – ähnlich wie die PT selbst – einigermaßen ratlos vor den Protesten der Jungen.
Es ist nicht übertrieben, von einer midlife crisis dieser Szene zu sprechen, die zu großen Teilen von der PT-geführten Regierung kooptiert war. Allerdings haben durch den „brasilianischen Frühling“ ihre langjährigen Forderungen ganz neue Aussichten erhalten, in einer breiteren Öffentlichkeit Wirkung zu entfalten – etwa jene, eine echte politische Reform müsse Elemente direkter Demokratie miteinschließen.
Auch in der Arbeiterpartei sind die Hoffnungen auf einen Linksschwenk der Präsidentin gestiegen. Das PT-Vorstandmitglied Valter Pomar kritisiert „konservative Haltungen gegenüber den indigenen Völkern“ innerhalb des eigenen Lagers, Konzilianz gegenüber der Rechten sowie „falsche Argumente“ bei der Verteidigung der WM 2014 oder von Wasserkraftwerken. „Es geht darum, sowohl auf der Straße als auch an den Wahlurnen aktiv zu werden, wir müssen die Strategie und das allgemeinse Verhalten der PT und der Linken ändern“, fordert er.
An der Regierung hat sich die PT, die in den 80er Jahren als „Partei neuen Typs“ angetreten war, ganz sozialdemokratisch um die soziale Abfederung des kapitalistischen Systems bemüht und auf Strukturreformen verzichtet. Sozialökologische Ansätze, die es in Lulas Wahlprogramm von 2002 durchaus noch gab, sind im Wachstumsrausch der letzten Jahre völlig von der Agenda verschwunden.
Nun steht die Arbeiterpartei vor der wohl größten Herausforderung ihrer 33-jährigen Geschichte: Entweder sie findet zurück zu ihrem radikaldemokratischen Impetus, aus dem einmal der Bürgerhaushalt und das Weltsozialforum hervorgingen – oder sie bleibt im Labyrinth der Realpolitik gefangen, wozu die heraufziehende Wirtschaftskrise beitragen könnte. Dann allerdings droht im kommenden Jahr eine Wahlniederlage.
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