von Friedrich Dolphy
Eine Versuchsperson begab sich in einen abgesonderten Raum, wo eine Kiste mit vier Gegenständen stand: eine Kaffeetasse, ein Hammer, ein Stofftier und ein Buch. Sobald die Versuchsperson allein war, sollte sie sich irgendeinen Gegenstand herausgreifen und ihn von allen Seiten genauestens betrachten. Danach sollte sie auf einem Blatt Papier notieren, welchen sie sich ausgesucht hatte, und es in einen Briefumschlag stecken. Während nun die Person auf einem Bildschirm Fotos der vier Gegenstände betrachtete, wurden ihre Hirnaktivitäten gemessen.
Die vier charakteristischen Messkurven, die schließlich entstanden, wurden nun Außenstehenden vorgelegt. Diesen fiel sofort auf, dass eine Kurve ein abweichendes Muster aufwies – nämlich diejenige, die sich ergeben hatte, als die Versuchsperson den von ihr ausgewählten Gegenstand inspizierte. Der Neurobiologe und Psychologe Rainer Bösel, der gegenwärtig an der International Psychoanalytic University Berlin arbeitet, hat das Experiment wiederholt durchgeführt. Es endete jedes Mal mit dem selben Ergebnis: Die Außenstehenden errieten auf Anhieb, was auf dem Blatt Papier im verschlossenen Umschlag stand. Die meisten Versuchspersonen hingegen waren ziemlich verblüfft und hatten das unangenehme Gefühl, dass andere ihre Gedanken lesen konnten.
Die moderne Gehirnforschung – erklärt Bösel ausdrücklich – ist allerdings außerstande, Gedanken lesbar zu machen. Aber obwohl ihre Messverfahren immer noch ziemlich grob sind, kann sie immerhin einiges von dem erschließen, was in den Köpfen von Menschen vor sich geht.
Der 33-jährige Brite Daniel Tammet beherrscht zwölf Sprachen fließend, darunter Finnisch, Litauisch, Rumänisch, Walisisch und Isländisch, das er innerhalb einer einzigen Woche gelernt hat. Sein Gedächtnis ist derart phänomenal, dass er sich Tag für Tag gewaltige Datenmengen einverleiben kann und fast nichts vergisst. Und er verfügt über die Fähigkeit, anspruchsvollste Rechenaufgaben in halsbrecherischem Tempo zu lösen.
Tammet hat allerdings schon einige Mühe damit, rechts und links zu unterscheiden. Er hat erhebliche Schwierigkeiten damit, die Gesichter seiner Bekannten wiederzuerkennen. Und ständig ist er der Gefahr ausgesetzt, von Reizen überflutet zu werden. Um sich dagegen zu schützen, hat er sein Alltagsleben strengen Ritualen unterworfen. So isst er jeden Morgen exakt 45 Gramm Porridge zum Frühstück, trinkt jeden Tag exakt zur gleichen Zeit Tee, und er kann erst dann seine Wohnung verlassen, wenn er alle Kleidungsstücke gezählt hat, die er gerade trägt. Doch vor allen Dingen fällt es ihm schwer, die Gefühlswelt anderer Menschen intuitiv zu verstehen und ihre Mimik und Gestik zu entschlüsseln.
Woran Autisten wie Tammet immer wieder scheitern, scheint den meisten Menschen in ihrem Alltag spielend zu gelingen – zu erraten, was andere wohl gerade denken und fühlen, und auf ihre erschlossenen Gedanken und Gefühle mit sozialen Handlungen angemessen zu reagieren.
Rainer Bösel beschäftigt sich in seinem neuen Buch systematisch mit den Fähigkeiten, die man braucht, um dieses Kunststück zu Stande zu bringen. Er befasst sich mit der Evolutionsgeschichte dieser Fähigkeiten und mit den Folgen, die es hat, wenn sie nur mangelhaft ausgebildet sind. Und er arbeitet im Einzelnen heraus, welche Gehirnareale in Aktion treten, wenn dieses Fähigkeiten in Alltagssituationen angewendet werden.
Eine exzellente Einführung in die Neurobiologie des menschlichen Einfühlungsvermögens.
Rainer Bösel: Warum ich weiß, was du denkst, Galila Verlag, Etsdorf am Kamp 2012, 266 Seiten, 21,90 Euro
Schlagwörter: Friedrich Dolphy, Galila Verlag, Neurobiologie, Rainer Bösel