von Edgar Benkwitz
Kurzfristig wurde Mitte Januar das Spitzenpersonal der indischen Kongresspartei zu einer zweitägigen brainstorming session – einer Ideenkonferenz – nach Jaipur, der Hauptstadt des Unionsstaates Rajasthan, zusammengerufen. Ihr folgte unmittelbar eine Tagung des höchsten Führungsorgans der Partei, des All India Congress Committees, das Rahul Gandhi, bisher einer der Generalsekretäre der Kongresspartei, einstimmig zu ihrem Vizepräsidenten wählte. Präsident bleibt weiter seine Mutter, Sonja Gandhi, die dieses Amt nun schon 15 Jahre bekleidet. Beobachter sind der Meinung, dass der fähigste Spross der Nehru-Gandhi-Familie nun bald die Geschicke der Partei bestimmen und zu ihrem Kandidaten für das Amt des Premierministers bei den im nächsten Jahr anstehenden Unterhauswahlen ausgerufen wird.
Es scheint, dass in Jaipur kräftige frische Windstösse die Diskussion durchgeschüttelt haben. Es wurde Schluss gemacht mit den bekannten zögerlichen Haltungen und dem Lavieren, das die Kongresspartei in der letzten Zeit kennzeichnete und zu einem beträchtlichen Ansehens- und Vertrauensverlust führte. Die Ideenkonferenz war nichts anderes als eine schonungslose Analyse des Zustandes der Partei. Auslöser dafür dürfte das Vergewaltigungsverbrechen vom 16. Dezember in Neu Delhi und die sich im Anschluss daran nahezu spontan formierte Protestbewegung gewesen sein, wie sie Indien in dieser Art noch nicht erlebt hatte. Jugendliche, meist Angehörige der neu entstehenden städtischen Mittelschichten, forderten ein Ende von Rechtlosigkeit sowie von deren Tolerierung durch Justiz und Staatsmacht. Die aufgestaute Unzufriedenheit äußerte sich zumeist friedlich, den Regierenden muss aber die tiefe Kluft zwischen den künftigen Hoffnungsträgern Indiens und ihnen klar geworden sein.
Zusätzlich aufgeschreckt ist die Führung der Kongresspartei durch die Entwicklung im indischen Vorzeigestaat Gujarat. Hier gewann der Hindunationalist Narendra Modi mit großem Vorsprung bereits das dritte Mal die Landtagswahlen, und selbstbewusst stilisiert er sich jetzt als der von vielen Indern gewünschte starke Mann, der im Amt des Premierministers Indiens für wirtschaftlichen Aufschwung sowie Recht und Ordnung sorgen würde. Angesichts des Kotaus, den die Spitzenvertreter der indischen Wirtschaft aber auch das internationale Business vor Modi nach dessen Wahlsieg machten, scheint auch dessen Mitverantwortung am Massaker gegen Muslime 2002 in seinem Bundesstaat vergessen. Modi baut auf dieses Vergessen und versucht für sich und seine Partei – die hindunationalistische BJP – aus den Problemen der Kongresspartei und ihrer Regierung Nutzen zu ziehen.
Es war Rahul Gandhi selbst, bisher als zögerlich und unentschlossen bekannt, der zur großen Überraschung vieler Funktionäre in Jaipur das Geschehen bestimmte. Er charakterisierte seine Partei als „geschlossene Gesellschaft“, die nicht auf die Hoffnungen der Menschen eingehe, prangerte Korruption und Missachtung der Frauen in ihren eigenen Reihen an, versprach eine radikale Reorganisation. Völlig unerwartet äußerte er sich erstmalig über seine schwere Jugend nach der Ermordung seiner Großmutter, Indira Gandhi, und seines Vaters, Rajiv Gandhi. So seien die beiden Leibwächter Indiras jahrelang seine guten Freunde und Badminton-Partner gewesen – dieselben, die seine Großmutter ermorden sollten. „Sie zerstörten die Ausgeglichenheit in meinem Leben“, sagte Rahul. Dann wandte er sich seiner Mutter zu, die stolz und glücklich über seine Bereitschaft sei, die Vizepräsidentschaft in der Partei zu übernehmen, angesichts der Tragik in ihrer Familie aber gleichzeitig voller Sorge. Das habe sie ihm tränenüberströmt gestanden. Rahul versicherte, dass es nach seinem Entschluss kein Zurück gebe: „Die Kongresspartei ist nun mein Leben“. Die Überwältigung der Partei durch Rahul – die Presse sprach von amerikanischen Wahlkampfmethoden – war komplett. Für indische Verhältnisse völlig ungewöhnlich erhielt er für seine Rede fünf Minuten andauernden Beifall, älteren Funktionären liefen die Tränen.
Die Entscheidungen von Jaipur könnten für die Kongresspartei von großer Bedeutung sein. Die Times of India sprach von der „Übernahme der großen alten Partei durch ihre Jugendbrigade“. Rahul, selbst erst 42 Jahre, hat die Jugend- und Studentenorganisation der Partei hinter sich, deren langjähriger Vorsitzender er ist. In letzter Zeit hat er in den Parteiorganisationen der Unionsstaaten ihm ergebene, junge Funktionäre untergebracht. Es wird erwartet, dass in den kommenden Tagen in der Parteizentrale in Neu Delhi das Stühlerücken beginnt und junge Leute einziehen. Damit scheint auch die neue Strategie der Partei festzustehen. Mit der Orientierung auf die Jugend und die städtischen Mittelschichten als „oberste Priorität“ – so Sonja Gandhi – soll das Vertrauen dieser Bevölkerungsgruppen zurückgewonnen werden. Die städtischen Gebiete Indiens stellen 200 der insgesamt 542 Unterhaussitze, sie sind somit ein Schwerpunkt für den bald beginnenden Wahlkampf.
Rückt Rahul ganz an die Spitze der Kongresspartei, wäre es bereits die vierte Generation der Nehru-Gandhi-Familie, die die Geschicke dieser Organisation prägt. Gut oder schlecht für das Land? In Indien wird, wie in vielen asiatischen Ländern, dynastisch gedacht und gehandelt, obwohl das Land demokratisch und förderal aufgestellt ist, keine diktatorischen Machtformen kennt. Eine kürzliche Untersuchung ergab überraschenderweise, dass fast alle großen regionalen Parteien Indiens starke dynastische Tendenzen aufweisen. Sei es die SP in Uttar Pradesh, die DMK in Tamil Nadu, die Akali Dal im Punjab, die Shiv Sena in Mumbai oder die JD(S) in Karnataka – alles Parteien, die auch in Delhi beträchtlichen Einfluss haben. Keine von ihnen hat allerdings eine Tradition wie die Kongresspartei vorzuweisen, und Rahul wusste – wie der emotionale Teil seiner Rede in Jaipur gezeigt hat –, das für sich zu nutzen. Die Partei wird dieses Erbe, das mit dem Freiheits- und Unabhängigkeitskampf ihrer großen Staatsmänner Jawahalar Nehru und Indira Gandhi verbunden ist, auch im bevorstehenden Wahlkampf einsetzen, wohl wissend, dass es im Bewusstsein vieler Inder verankert ist, wird es doch bereits in der Schule vermittelt.
Nach einer Erhebung der letzten Tage sind über 50 Prozent aller Inder unter 35 Jahre. Dieses Potential zu erschließen, darauf scheinen die jüngsten Bemühungen der Kongresspartei ausgerichtet. So könnte aus der Grand Old Party eine Grand New Party werden, wie die Times of India feststellte.
Ob die Tagung in Jaipur einmal in die Geschichtsbücher der Kongresspartei oder gar Indiens eingehen wird, hängt sicherlich nicht allein vom Willen eines Rahul Gandhi und seiner Familie ab. Die nächsten Wochen und Monate werden erst einmal zeigen, wie der Veränderungswillen von der altgedienten Funktionärsgarde mit ihrem Einfluss in den Unionsstaaten aufgenommen wird. Auf alle Fälle hat die regierende Partei Indiens Türen aufgestoßen und Fenster geöffnet, um frischen Wind in ihr Gebäude hereinzulassen, der Altes, Gewohntes und Festgefahrenes aufbrechen kann.
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