von Edgar Benkwitz
Hin und wieder gibt es in der Politik Zeiten, in denen sich trotz betriebsamer Geschäftigkeit im Grunde nichts bewegt. Das kennen wir bestens hier in Deutschland, schlägt uns in diesen Wochen aber auch aus „der grössten Demokratie der Welt“, wie sich Indien gern nennt, entgegen. Das quirlige Land mit seinen vielen politischen Kräften wirkt etwas gelähmt, nichts geht so richtig vorwärts, es ist ein Auf-der-Stelle-treten. Versuche von „Befreiungsschlägen“, sprich Aufsehen erregenden politischen Aktionen, kommen halbherzig daher und bewegen kaum etwas. Dabei könnte Indien einige spektakuläre politische Ereignisse gebrauchen, um das Land aus dem gegenwärtigen Trott heraus zu reissen.
Ein solches Signal sollte Mitte September offensichtlich der Austritt der zweitgrössten Partei – der Regionalpartei TMC aus Westbengalen – aus der in Neu Delhi regierenden Koalition werden. Das enfant terrible der indischen Politik, Frau Mamata Banerjee, zog ihre sechs Minister aus der Regierung zurück, 19 Abgeordnete im Unterhaus wechselten zur Opposition. Die Regierung verlor damit die Parlamentsmehrheit, hielt aber durch indirekte Unterstützung anderer Parteien umgehend ihre Handlungsfähigkeit zurück. Frau Banerjee hatte zu hoch gepokert, die gehoffte Solidarität durch gleichgesinnte Parteien blieb aus und ihr Erpressungsmanöver gegenüber Delhi – es ging um zusätzliche finanzielle Mittel für Westbengalen – scheiterte.
Die anschliessend fällige Regierungsumbildung wurde als letzte vor den Parlamentswahlen in knapp anderthalb Jahren angekündigt. Konnte sie neue Kräfte mobilisieren, um vor allem Reformvorhaben auf wirtschaftlichem Gebiet voranzubringen? Premierminister Manmohan Singh nannte sie eine „gelungene Kombination aus Jugend und Erfahrung“, die Medien qualifizierten sie hingegen schlichtweg als „Blindgänger“ und „alten Wein in neuen Schläuchen“ ab. Besonders der Wechsel des unter Korruptionsvorwürfen stehenden Justizministers auf den Posten des Aussenministers sowie die Nichtberufung kompetenter Persönlichkeiten wurden drastisch kommentiert. Die „Times of India“ schrieb, dass eine wirksame Botschaft der Veränderung fehle und ergänzte: “Wenn überhaupt etwas, dann war es das letzte Keuchen eines alten Regimes, das weder Ideen noch eine Führungsfigur hat, die den Erwartungen eines neuen Indien entsprechen.“ Hier klingt auch Enttäuschung an, dass der Hoffnungsträger der indischen Politik, Rahul Gandhi, nicht im neuen Kabinett auftaucht. Der 42-jährige Spross der Nehru-Gandhi-Familie wird seit einiger Zeit mit übergrossen Erwartungen bedacht. Diese wurden nun erst einmal gedämpft. Rahul will seine ganze Kraft – wie er erklärte – weiter in den Dienst seiner Partei stellen. Da er aber bereits als möglicher Spitzenkandidat der Kongresspartei für die Parlamentswahlen gilt, rätselt nun ganz Indien, warum der junge Mann keine Regierungsverantwortung übernimmt. Aber ist es nicht das Beste für ihn, zu einer Regierung, die Durchgreifendes nicht mehr zustande bringt und mit Korruptionsvorwürfen belastet ist, Abstand zu bewahren? Indien geht bald in den Wahlkampf, als Parteifunktionär lässt sich der allemal überzeugender führen als aus einem Regierungsamt. Aber auch andere Gründe werden genannt. Rahul erlebte als junger Mensch die tödlichen Attentate auf Grossmutter Indira Gandhi und später auf seinen Vater Rajiv. Mit Personenschutz wuchs er auf, im Ausland studierte er an unbekannten Orten unter Decknamen. Das hätte ihn geprägt, daher die Scheu – so eine Version. Näherliegend ist aber etwas anderes: seit Wochen werden gegen seinen Schwager, den Industriellen Robert Varda, Korruptionsvorwürfe erhoben, bisher allerdings ohne stichhaltige Beweise. Das belastet momentan die Gandhi-Familie und vielleicht will man es aussitzen.
Hier kommt Arvind Kejriwal ins Spiel. Der 44-jährige ehemalige Steuerbeamte – seine Frau ist Direktorin im Ministerium für Unternehmensangelegenheiten und untersucht Betrugsfälle(!) – will erklärtermassen das Land von Korruption und Vetternwirtschaft befreien. Kürzlich überwarf er sich mit seinem ehemaligen Mitstreiter, den in Indien allseitig geachteten greisen Antikorruptionsaktivisten Anna Hazare und gründete ein eigenes Team. Seitdem mobilisiert er eine beträchtliche Zahl von Anhängern, vor denen er gegen Minister, die Gandhi-Familie, den Präsidenten der hindunationalistischen BJP und einflussreiche Unternehmer donnert. Mit seinen Anschuldigungen bewegt sich der selbsternannte Heilsbringer, der sich das Aussehen eines Mahatma Gandhi gibt(Käppi, Schnurbart, Nickelbrille) allerdings auf einem gefährlichen Pflaster. Keine Partei unterstützt ihn, mit der Wirtschaft hat er es sich verdorben, die Presse behandelt ihn zurückhaltend. Sie fordert, dass er missionarischen Eifer und demagogisches Geschick zügelt und Beweise für seine Attacken auf das Establishment vorlegt. Man erwarte von ihm Lösungsvorschläge und keine Aushöhlung der Demokratie, so ein Vorwurf.
Eine andere schillernde, aber sehr einflussreiche Figur der indischen Politikerszene ist der Ministerpräsident des Unionsstaates Gujarat, Narendra Modi. Nun schon seit zehn Jahren in diesem Amt, fühlt er sich jetzt zu Höherem berufen und lässt sich als der künftige Premierminister Indiens ins Spiel bringen. Der aus einfachen Verhältnissen stammende 61-Jährige hat in der Tat das Land mit seinen 60 Millionen Einwohnern zu einem „Tigerstaat“ innerhalb Indiens gemacht. Am Arabischen Meer gelegen, vollzog Gujarat eine rasante wirtschaftliche Entwicklung. Obwohl hier nur fünf Prozent der Inder leben, stellt Gujarat 20 Prozent des indischen Exports. Aushängeschilder sind die weltgrösste Erdölraffinerie, namhafte internationale Autokonzerne sowie die Solarindustrie. „The Economist“ verglich die Infrastruktur des Staates mit der der chinesischen Sonderzone Guangdon. Das könnte natürlich ein Modell für das übrige Indien sein. Aber mit einem Modi an der Spitze? Hier scheiden sich die Geister. Wird einerseits seine Kompetenz als fähiger Administrator anerkannt, so wirft seine politische Herkunft aus der hindunationalistischen BJP(schon als Jugendlicher gehörte er deren fanatischen und halbmilitärischen Kern RSS an) einen tiefen Schatten auf ihn. Modi wird Hindu-Fanatismus und Hass auf Muslime nachgesagt. 2002 ereignete sich in seinem Bundesstaat ein Massaker an Muslimen, denen 2.000 Menschen zum Opfer fielen. Modi wird beschuldigt, als Ministerpräsident die Progrome geduldet zu haben. Nach wie vor gibt es dazu Ermittlungen und Gerichtsverfahren. Eine ehemalige Ministerin aus seinem Kabinett und seine Vertraute wurde kürzlich wegen aktiver Teilnahme an den Greueltaten zu lebenslanger Haft verurteilt. Die USA und die EU verhängten 2002 gegen Modi ein Einreiseverbot. Grossbritannien hob es kürzlich auf, die USA folgten. Und das nur wenige Wochen vor den Wahlen zum Parlament des Unionsstaates, aus denen Modi mit seiner Partei vermutlich wieder als Sieger hervorgehen wird. Aber wird ihm das helfen, im nächsten Jahr als Spitzenkandidat der BJP für die nächsten Parlamentswahlen nominiert zu werden? Modi gibt sich seit kurzem sehr geläutert, lässt sich mit öffentlichem Fasten und Yoga-Übungen wie ein Guru von den Massen verehren. Die Schatten der Vergangenheit wird er indes nicht los, selbst in seiner eigenen Partei und auch bei Bündnispartnern gibt es starke Vorbehalte. So wünschenswert ein durchsetzungsstarker Reformer an der Spitze Indiens wäre, so verheerend wäre es, wenn dieses Amt die ethnische und religiöse Vielfalt im Land polarisieren würde.
Noch läuft das politische Leben in Indien seinen gewohnten Gang. Das wird sich in den nächsten Monaten ändern, wenn sich die Kräfte für den dann anlaufendenWahlkampf weiter formieren. Im Land haben sich viele Probleme angesammelt, die darauf warten, aufgegriffen zu werden. Warten wir ab, welche Rolle dann ein Rahul Gandhi, ein Narendra Modi oder gar ein Arvind Kejriwal spielen.
Schlagwörter: BJP, Congress, Edgar Benkwitz, Indien, Korruption, Rahul Gandhi