von Edgar Benkwitz
„Wenn es ein Paradies auf Erden gibt, dann ist es hier, dann ist es hier …“. So sang einst ein persischer Dichter. Sein Vers ziert einen Pavillon im Shalimar Bagh, dem berühmten Moghulgarten in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs. Er drückt das Lebensgefühl der grossen Moghul-Herrscher Indiens aus, die das Kaschmirtal für sich entdeckten und es als ein Zentrum ihrer Macht nutzten. Und in der Tat rechtfertigten die Schönheit der Landschaft, die blühende Kultur, die uralten innerasiatischen Handelswege, aber vor allem das Zusammenleben verschiedener Volksgruppen mit drei Weltreligionen – Buddhismus, Hinduismus, Islam – viele Jahrhunderte diesen Anspruch. Eine Ironie der Geschichte ist es, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo der indische Subkontinent endgültig die koloniale Herrschaft der Briten abschüttelte, der Niedergang dieser Region begann. Denn mit der Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistans 1947 entstand der Streit um Kaschmir. Mehrere Kriege wurden geführt, zehntausende von Menschenleben geopfert, Ressourcen der beiden armen Länder vernichtet. Heute stehen sich an einer Waffenstillstandslinie, die durch Kaschmir verläuft, zwei hochgerüstete Armeen gegenüber. Trotz gelegentlicher Entspannungsphasen ist der Konflikt weit von einer Lösung entfernt, seine Gefährlichkeit hat sich noch verschärft: Beide Staaten verfügen über Atomwaffen (siehe Wolfgang Schwarz in: Das Blättchen, Sonderausgabe 4/2012), und der internationale islamistische Terrorismus hat sich in Kaschmir festgesetzt.
Kaschmir, das Hochtal im Norden des indischen Subkontinents ist mit seinen angrenzenden Territorien im Himalaya mehr als 220.000 Quadratkilometer gross. Es war bis 1947 ein selbständiges Fürstentum, erkannte aber die Oberhoheit der Briten an. Der Maharadscha hatte die Wahl, sich entweder für die gerade entstehenden Staaten Indien oder Pakistan zu entscheiden oder selbständig zu bleiben. Maharadscha Hari Singh, ein Hindu-Fürst mit grösstenteils muslimischer Bevölkerung, legte sich jedoch nicht fest und weckte damit die Begehrlichkeiten seiner beiden neuen Nachbarn. Pakistan beanspruchte schon vor seiner Entstehung mehrheitlich muslimische Gebiete des kolonialen Indien. Indien hingegen betonte, dass solche Gebiete in seinem säkularen Staatenverbund am besten aufgehoben seien. Die Unentschlossenheit des Maharadschas führte schon wenige Wochen später zu einer Invasion muslimischer Stammeskrieger (Paschtunen) in das Kaschmirtal, die die Zugehörigkeit zu Pakistan erzwingen wollten. Neu Delhi, um Hilfe gebeten, beharrte zuvor auf einen Beitritt Kaschmirs zu Indien. Als das geschehen war, begannen indische Luftlandetruppen im Kaschmirtal die Eindringlinge zu vertreiben. Im Gegenzug setzte Pakistan offiziell seine Truppen ein, der erste indisch-pakistanische Krieg hatte begonnen. Die UNO erreichte 1949 einen Waffenstillstand, die Waffenstillstandslinie gilt bis heute. Und bis heute gibt es eine Dreiteilung des umstrittenen Gebietes. Indien kontrolliert 60 Prozent dieses Territoriums (die Regionen Jammu, Kaschmirtal, Ladakh), Pakistan kontrolliert 30 Prozent (die Regionen Gilgit-Ballistan, Azad-Kaschmir) und schliesslich hat China seit 1962 einen Teil von Ladakh unter Kontrolle (Aksai Chin) – das sind zehn Prozent.
Diese Proportionen zu verändern und letztendlich Kaschmir an Pakistan anzuschließen ist das Ziel pakistanischer Politik. Dafür hat es in der Vergangenheit alle Mittel eingesetzt, die von der Organisierung internationalen Drucks auf Indien, der Auslösung militärischer Konflikte bis zum Einsatz von Insurgenten und Terroristen reichen. Bereits 1948 legte die UNO ein Referendum fest, wonach die Kaschmiris über ihre Zukunft selbst bestimmen sollten. Es tauchte zwar immer wieder auf der politischen Bühne auf, hatte aber nie eine Chance auf Realisierung. Nur wenig später wurde Pakistan Mitglied der westlichen Militärbündnisse SEATO und CENTO, mit China wurde eine militärische Zusammenarbeit vereinbart. Indien hingegen blieb nichtpaktgebunden, lehnte sich aber stärker an die Sowjetunion an, bei der es sich politisch rückversicherte (Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit). 1965 und 1971 kam es erneut zu Kriegen zwischen Indien und Pakistan. Letzteres, inzwischen militärisch aufgerüstet, konnte 1965 trotz aller Anstrengungen den status quo nicht ändern. Im Abkommen von Taschkent musste es friedlichen Lösungen zustimmen. 1971 war Ostpakistan der Schauplatz des Krieges, in dessen Ergebnis die pakistanische Armee kapitulieren musste. Pakistan verlor seine östliche Provinz, mit Bangladesh entstand ein neuer Staat. Pakistan wurde enorm geschwächt; auch sein Gründungsmythos, Heimat aller Muslime zu sein, schwer beschädigt, da Bangladesh ebenfalls eine muslimische Bevölkerung hat. Indien hatte bereits 1957 das von ihm kontrollierte Gebiet in den Bundesstaat Jammu und Kaschmir umgewandelt und bestehende Autonomieprivilegien weitgehend abgeschafft. Diese Integration des größten Teils des umstrittenen Kaschmirgebietes in die Indische Union stieß auf erbitterten Widerstand Pakistans. Doch auch im Kaschmirtal regte sich Widerstand. Die muslimische Bevölkerung protestierte 1987/88 gegen Wahlfälschungen und polizeiliche Willkür, sie verlangte zudem eine Verbesserung ihrer sozialen Lage. Zunächst friedliche Demonstrationen schlugen in Gewalt um, wobei viele der Gewalttäter von Pakistan infiltriert waren. Ihnen folgten aus Ausbildungslagern von jenseits der Grenze die gefürchteten Mujaheddins mit Kämpfern aus der internationalen Terrorszene. Vertreter indischer Behörden wurden ermordet, aber auch gemäßigte Muslime nicht verschont. Indien versuchte dem mit der Verstärkung seiner Sicherheitskräfte zu begegnen. Sie wurden auf 200.000 Mann aufgestockt und mit Sonderrechten ausgestattet. Mittlerweile hat sich eine Lage entwickelt, in der die indischen Truppen als Okkupationsarmee angesehen werden. Schätzungen zufolge beträgt die Zahl der Opfer durch Terror und Verfolgungen seit 1988 allein im Kaschmirtal über 50.000.
Aber auch an der Waffenstillstandslinie gibt es immer wieder Zwischenfälle. Der schwerste ereignete sich im Sommer 1999 im Kargil-Gebiet, im Karakorum, wo auf 5.000 Meter Höhe um einen 160-Kilometer-Abschnitt der Waffenstillstandslinie gekämpft wurde. Tausenden indischen Soldaten gelang es erst nach Wochen, im Winter vorgerückte Pakistanis zurückzudrängen. Zum „höchstgelegenen Kriegsschauplatz der Welt“ entwickelte sich dann der Siacheng-Gletscher, wo in unvorstellbaren Höhen bis zu 6.700 Meter ein ständiger Kleinkrieg stattfand. Hier sollen sich 3.000 pakistanische und 5.000 indische Soldaten aufhalten. Im April dieses Jahres wurde der Wahnsinn der Aktionen nochmals deutlich, als eine Lawine in 4.500 Meter Höhe ein Bataillonshauptquartier der pakistanischen Armee wegriss und 139 Opfer unter einer 70 Meter hohen Schneedecke begrub.
Der Kaschmirkonflikt hat während seines fünfundsechzigjährigen Bestehens längst jeglichen Anspruch auf irgendeine Rechtmäßigkeit verloren. Kaschmir, einst blühende Region, wurde systematisch verwüstet. Salman Rushdie, dessen familiäre Wurzeln sich in Kaschmir befinden, nennt es resignierend „das verlorene Paradies“. In einem kürzlichen Interview plädiert er für die Wiederherstellung des Status von 1947, Kaschmir als selbständiger Staat, dessen Grenzen Indien und Pakistan garantieren sollten. Doch das ist illusorisch. Denkbar wäre vielmehr die völkerrechtliche Festschreibung des jetzigen status quo, wie sie des Öfteren im Gespräch ist. Doch das setzt eine Abkehr von alten Denkmustern, vor allem in Pakistan voraus. Vorbedingung wäre die Zurückdrängung des Terrorismus und die Einstellung seiner Unterstützung durch pakistanische Organe. Damit könnte eine Befriedung des Gebiets erreicht und der Konfliktherd entschärft werden. Für die leidgeprüften Bewohner wäre allein das – verglichen mit der gegenwärtigen Lage – ein paradiesischer Zustand.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, Kaschmir, Pakistan