von Helmut Donat
In Günther Jauchs Polit-Talk „Banker trifft Revoluzzer – Ackermann gegen Cohn-Bendit“ vom 30. September 2012 in der ARD ergriff Daniel Cohn-Bendit mit folgenden Worten Partei für Griechenland: „Es gibt kein Sozialsystem mehr in Griechenland. Die Menschen, die Pensionäre, aber auch die Menschen, die Arbeit haben, ihre Löhne haben sich um mehr als die Hälfte reduziert … Wir helfen uns mit einem europäischen Sozialfonds, dass es einen Mindestsozialschutz in Griechenland gibt, … was es heute in Griechenland nicht gibt, und ich sag Ihnen warum, … Im Moment gehen die Rechtsradikalen durch die Dörfer in Griechenland, geben 20 Euro den Familien, die nur 180 Euro im Monat haben, und da gewinnen sie.“ Lassen wir einmal dahingestellt, ob es wirklich in allen Dörfern Griechenlands so ist. Wichtiger und interessanter dürfte die Geschichtslektion sein, die Cohn-Bendit danach den Deutschen erteilt. „Wenn die Deutschen das verstehen wollen, dann sollen sie nur an den Versailler Vertrag denken. Der war falsch. Deutschland so nach dem Ersten Weltkrieg in die Knie zu schieben (Cohn-Bendit wollte wohl sagen „zwingen“), hat zu etwas Furchtbarem geführt, nämlich Deutschland ist zum Faschismus rübergegangen, und ich will nicht, dass Griechenland zum Faschismus wieder geht, und deswegen müssen wir sozial helfen.“
Wie schon Gregor Gysi im Zusammenhang mit der Bundestagsdebatte am 27. Februar 2012 über das 130-Milliarden-Rettungspaket für Griechenland (siehe Das Blättchen 07/2012) zieht nun auch Cohn-Bendit den Versailler Vertrag heran und erklärt ihn zur Wurzel allen Übels, das in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht gebracht habe. Er tut das offenbar auf der Grundlage der deutschnationalen Revisions- und Unschuldspropaganda der neunzehnhundertzwanziger Jahre, die von den „Ketten von Versailles“ sprach und den Siegermächten unterstellte, sie wollten das Reich in die Knie zwingen und klein halten. Wie unsinnig aber eine Kausalkette „Versailler Vertrag – Hitler“ ist, offenbart bereits der Hinweis darauf, „dass niemand“, wie Eberhard Kolb in seinem Buch „Der Frieden von Versailles“ (2005) verdeutlicht hat, „ernsthaft behaupten kann: Der Vertrag war schuld daran, dass Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte!“ Wie schon Gysis Vergleich, so erweist sich auch Cohn-Bendits Versailles-Schelte als unsinnig. Friedensverträge wie Kriege werden von Menschen gemacht. Insofern sind ausschließlich sie es, die für das geradezustehen haben, was in einem Vertrag verbrieft ist beziehungsweise wie sie damit umgehen.
Leichtfertig auch Cohn-Bendits Versuch, den Deutschen und Griechen offenbar ein gemeinsames Schicksal anzudichten. Der Mann denkt dem Schein nach „solidarisch“, vor allem aber in machtpolitischen und damit in Freund-Feind-Kategorien. Auf der einen Seite stehen, so seine Argumentation, die Gewalt der Sieger und die Unnachgiebigkeit der Kreditgeber, auf der anderen Seite die armen Deutschen und die armen Griechen. Unter der Hand profiliert sich Cohn-Bendit damit auch noch zu einem „Antifaschisten“. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Eher etwas mit der Dichotomie des Denkens eines „Revoluzzers“, der sich mit Geschichtsklitterungen zu profilieren sucht – und sich dabei des Beifalls seiner davon ebenso geprägten Zuhörer sicher sein kann.
Man kann es den Griechen nachsehen, dass sie über ihre Verhältnisse gelebt haben und dass, weil Wenige unter ihnen sich dabei stetig bereichert haben, dem Volk jetzt ein schweres Schicksal aufgebürdet wird und es sich dagegen wehrt. Doch was hat das mit den Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg oder mit dem Versailler Vertrag zu tun? Nichts. Statt die Niederlage von 1918 als Ergebnis eines bewusst beziehungsweise hauptsächlich von deutscher Seite aus verursachten Weltenbrandes zu begreifen und die mit dem Sieg der Alliierten verbundenen Gegebenheiten als Realitäten anzuerkennen, lehnten die Deutschen eine Mitarbeit am Neuaufbau einer besseren und friedlicheren Welt, eines einigen Europas, ab und verharrten weitgehend in der Psychose des Besiegten.
Sind die Griechen heute in einer vergleichbaren Lage oder verhalten sie sich so, wie die Deutschen nach 1918? Mitnichten. Weder haben sie den einen wie den anderen Weltkrieg verursacht, noch hat es in Griechenland einen mit Deutschland vergleichbaren „Faschismus“ gegeben. Vielmehr hatten sie im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung zu leiden. Und die „Militärdiktatur“ in Griechenland (1967-1974) lässt sich, so mörderisch und brutal das „Regime der Obristen“ auch gewesen ist, nicht mit der Tötungsmaschinerie des deutschen Faschismus auf eine Stufe zu stellen. Im Übrigen haben sich die Griechen selbst von der Diktatur befreit.
Die Nazis sind nicht dadurch groß geworden, dass sie über die Dörfer zogen und den Leuten 20 Mark in die Hand gedrückt haben. So mag sich Cohn-Bendit den Verlauf der Weltgeschichte vorstellen. Offenbar glaubt er, die Griechen von heute wären genauso verführbar und rechtslastig-dumm wie die Deutschen nach 1918. Das Gegenteil ist der Fall – ganz zu schweigen davon, dass selbst die Deutschen nach 1918 nicht dümmer als andere, wohl aber politisch verführbarer waren. Sie sind in ihrer großen Mehrheit jener Propaganda gefolgt, die den Friedensvertrag von Versailles nicht als Angebot für einen Schlussstrich unter den Krieg und für den Aufbau eines neuen Europas begriffen, sondern ihn als eine „Schmach“ für Deutschland abgelehnt und bekämpft haben. Wie sollte daraus anderes erwachsen als ein neuer Krieg? Nicht der Versailler Vertrag, sondern die systematisch geschürte Propaganda gegen ihn, die zwischen den Völkern Hass, Zwietracht und Rache säte und das deutsche Volk psychologisch im Kriegszustand beließ, stellte eine Bedrohung des Friedens dar.
Wie schon vor 1914 sah man sich erneut von Feinden umringt. Anders ausgedrückt: Statt die Abrüstung der Köpfe voranzutreiben, konzentrierte sich die deutsche Politik darauf, Versailles zu revidieren, die Reparationslasten so weit wie möglich zu mindern und die Großmachtstellung von 1914 zurück zu gewinnen. Sie nahm damit die „Wehrhaftmachung“ des deutschen Volkes, die Ausbreitung des Gewaltgeistes, die Erhöhung der Militäretats und die illegale Aufrüstung sowie die zunehmende Bedrohung der Republik und des Weltfriedens durch die Reichswehr, den Militarismus und Faschismus in Kauf.
Mit der Lage in Griechenland hat all das nichts zu tun. Trotz des Versailler Vertrags und der Reparationslasten stand Deutschland bereits Mitte der neunzehnhundertzwanziger Jahre ökonomisch besser da, als es für Griechenland in den nächsten Jahren auch nur annähernd zu erwarten ist. Oder will Cohn-Bendit behaupten, der Versailler Vertrag sei auch für die Weltwirtschaftskrise von 1929 verantwortlich?
Etwas anderes kommt hinzu. Die deutschen Sachlieferungen (Kohle und Telegrafenstangen beziehungsweise Holz), auch Reparationen genannt, beruhten nicht auf der Wiedergutmachung von Kriegsschäden, sondern auf den bewusst von der Obersten Heeresleitung auf dem Rückzug der deutschen Truppen im September/Oktober 1918 angeordneten systematischen Zerstörungen von Industrieanlagen, Obstplantagen und Kohlebergwerken. Eine „Politik der verbrannten Erde“, wie sie bis dahin in Europa niemand für möglich gehalten hatte. Kein fruchttragender Baum in Belgien und in den von Deutschen besetzten nordfranzösischen Departements entging diesem Zerstörungswerk. Noch Anfang Oktober 1918 rauchten die Schlote aller französischen und belgischen Kohlebergwerke. Mutwillig, um dem „Feind“ im künftigen Frieden zu schaden und dessen Konkurrenz für die Zeit nach dem Krieg auszuschalten, wurden die Bergwerke ersäuft und in die Schächte aller möglicher Dreck hineingeworfen, sodass sie selbst nach zehn Jahren noch nicht wieder betriebsbereit waren. Zehntausende von belgischen und französischen Kumpels verloren so die Grundlage ihrer Existenz. Mit wem solidarisiert sich Cohn-Bendit eigentlich? Mit den französischen und belgischen Kumpels und Bauern oder mit den deutschen Tätern und ihren Helfershelfern?
Als Grieche würde ich mir seine Ratschläge verbitten. Was weiß er von Griechenland? Offenbar zu wenig, um sich als Abgeordneter des Europäischen Parlaments an Folgendes zu erinnern: In Griechenland ist Europa geboren worden. Man könnte auch sagen: der erste europäische Mensch. Das gilt in der heutigen Zerfahrenheit mehr als jemals. Dass alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, gehört geradezu zum Grundbewusstsein des griechischen Volkes und stellt eine Wahrheit dar, die schon von Platon zum Ausdruck gebracht wurde. Die Griechen haben viele Götter gehabt. Aber sie haben sich verwandelt, vermenschlicht. Zu ihnen gehört Apoll, einer der Sonnengötter, zugleich die wahrsagende, erleuchtende Kraft in Menschengestalt. Wer fernab der Touristenströme das Land bereist, trifft früher oder später auf „Apoll“, eine Mentalität, die dem Besucher sagt: Apoll ist Europa – der Geist Hellas schwebt noch immer über dem Wasser, ein Geist, der sich dem Europa-Abgeordneten Cohn-Bendit allerdings bislang nicht erschlossen hat.
Als Deutscher, der sich seit Jahrzehnten mit den Verbrechen der Deutschen an Europa und deren Folgen auseinandersetzt, kann ich Cohn-Bendit nur raten: Schwätz‘ bitte nicht herum, fang‘ an zu denken, hör‘ auf, abgedroschene Phrasen aufzuwärmen und den Deutschen und Griechen Lektionen zu erteilen, die aus dem Arsenal deutschnationaler Legenden stammen.
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