15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Chinesen. Nachrichten aus der Debattiermaschine (XVI)

von Eckhard Mieder

Als ich in China war, war ich ein Riese und fühlte mich wundelbal.
Ich stand auf der Uferpromenade Bund am Huangpu, am anderen Ufer baute sich Pudong in die Höhe, als plötzlich um mich herum ein halbes Dutzend winziger Chinesen wimmelte. Sie lachten. Sie staunten. Sie fassten mich an. Sie ließen sich mit mir fotografieren. Keine Ahnung, ob wir wirklich zusammen auf ein Foto passten oder ob ich in alle Ewigkeit ohne Kopf oder von den Knien abwärts-amputiert in einem chinesischen Fotoalbum stecke.
Die Jungs waren extrem klein, und ich bin 189 Zentimeter lang. Allerdings ist die letzte Messung 40 Jahre her, ich dürfte inzwischen ein bisschen geschrumpft sein.
Der Dolmetscher, Mitglied der Kommunistischen Partei und ein exzellenter Deutsch-Könner, erklärte mir die Situation: Die „Zwerge“ waren Touristen und das erste Mal in Shanghai. Sie kamen aus einer Bergregion, aus einer Provinz irgendwo im Lande der Chinesen, und die da geboren wurden und aufwuchsen, die waren immer schon sehr klein, während es in Nordchina Regionen gäbe, in denen Chinesen zur Welt kommen, die ausgesprochen lange Burschen und Mädchen werden. 189 Zentimeter sind denen einen Klacks.
Die räumen dann als Volley-, Hand- oder Basketballspieler(innen) Goldmedaillen auf der ganzen Welt ab. Und sie würden sich sicher auch mit mir fotografieren lassen, wenn sie sich denn mit mir, diesem germanischen Zwerg, fotografieren ließen.
Die Chinesen sind so. Irgendwie sind die Chinesen. So. Mal riesig, mal klein? Närrisch irgendwie, zutraulich, offen?
Der Punkt war: Die Bergchinesen, die mich sanft abtasteten, hatten Märchen, in denen Riesen vorkamen. Liesige Liesen. Und sie hätten es nicht für möglich gehalten, mal einem solchen zu begegnen. Leibhaftig. In Shanghai. Wo sich der breite, lehmige Huangpu in das Mündungsgebiet des Jangtsekiang wälzt und quasi schon fast ein Teil des Ostchinesischen Meeres ist.
Andererseits sind die Chinesen anders. Irgendwie sind die Chinesen. So. Mal aggressiv, mal korrupt? Als Touristen verkleidete Industrie-Spione, irgendwie, verschlossen, hinterlistig?
Jedenfalls fühlte ich mich wundelbal. China! dachte ich, China! Was weiß ich, was würde ich jemals wissen können von diesem Liesenleich!
Damals, es war das Jahr 2000, beschloss ich, niemals nicht und auf keinen Fall sowieso gar nicht und jemals doch sowieso nicht und auf gar keinen Fall vielleicht nur im Ausnahmefall -, also mir irgendein Urteil über China anzumaßen. Über China nicht. Über die Chinesen nicht. Und schon gar nicht, beschloss ich zudem, würde ich mir irgendwas über China und über die Chinesen von der freiheitlich-strammen, deutschen Journaille verklickern lassen. In diesen Beschluss flossen einige andere Beobachtungen ein, für die hier nicht Platz ist; die zauberhafte Begegnung an einer Dampfer-Anlegestelle des Huangpu ist nur eine Anekdote aus der Welt der Wunder.
Vor vier Wochen betrachtete ich ein Foto an, auf dem Herr Joachim Gauck dem Herrn Liao Yiwu applaudiert. Der im Exil lebende Chinese hatte eben, 14. Oktober, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche bekommen.
In seiner Dankesrede kritisierte er den Westen für die Scheinheiligkeit, die Menschenrechte in China einzuklagen, doch Geschäfte mit den Henkern zu machen. In seiner lyrischen Performance gedachte er der Toten des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Gauck lächelt milde, gönnerhaft, ein bisschen verkniffen, präsidial von der Seite. Liaos heller Blick geht direkt in die Kamera. In der Reihe hinter den beiden stehen drei Männer, deren Mienen ich als irritiert bezeichnen möchte; für sie vielleicht eine unglücklicher Schnappschuss des Fotografen.
Drei Tage vor der Ehrung des Liao Yiwu  wurde dem chinesischen Schriftsteller Mo Yan der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2012 zugesprochen.
Es loderte ein Scheiterhaufen auf im deutschen Feuilleton, befeuert vom chinesischen Vorzeige-Biermann Ai Weiwei (der ein paar Tage später seine heftige Kritik an Mo Yan so – wie? – nicht gemeint haben wollte) –, dass Mo Yan Funktionär des chinesischen Schriftstellerverbandes sei; dass er nicht bekannt sei für direkte Kritik an Chinas Mächtigen; dass Mo Yan eher ein Mitläufer und Nutznießer der chinesischen kommukapitalistischen Diktatur sei.
Welches Durcheinander, welches Tohuwabohu! Der angepasste Schriftsteller, was kann der schon für eine großartige Literatur schreiben; dass es gar zum Nobelpreis reicht – die Herren in Stockholm erfüllen ohnehin nicht immer die Erwartung der deutschen Großfeuilletons.
Der Literat, der sich politisch nicht so positioniert, wie wir Demokrato-Westler es gern hätten. Wie wir Alleswissend-Gutmenschen es erwarten. Wie wir Grundanständig-Widerständigen es geradezu verlangen!
Wäre es nicht so zum Heulen, ich lachte mich auf ungefähr die Größe des Yu Yichi in seiner „Zwergentaverne“, der sich immerhin vorgenommen hat, „alle schönen Frauen von Juiguo zu ficken“.
Unfassbar! Da sitzt einer mit seinen fast 60 Jahren irgendwo da in China, unter Zwergen? unter Riesen? zwischen Schnapstrinkern und Knoblauchbauern? mit seinen blutigen Schilderungen aus dem chinesisch-japanischem Schlachten und dem Schlachten untereinander? – da sitzt einer da hinten in China und beschreibt einen Alltag und ein Beziehungsgeflecht zwischen Lokal-Mächtigen und Bauern und Rebellen und Frauen, die schon mal die Hosen anhaben und sie auch ausziehen –, da sitzt dieser Mo Yan , bezieht ein Gehalt vom Schriftstellerverband und schreibt – eine unglaublich irdene, kräftige Prosa. Eine so satte, grausame, geschichtliche Literatur. Einen so burlesken, satirischen, schelmischen Stil. Und wenn in diesen Romanen nicht die Welt ist, dann ist sie auch nicht in den Büchern Leo Tolstois oder…
Aber man muss Mo Yan eben lesen. Und Liao Yiwu.