15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

Die Geschichte meines Lebens

von Jaromir Konecny

Die Titelseite des handgeschriebenen Tagebuchs war gut lesbar: Die Geschichte meines Lebens, oder vom Anfange bis zur Philosophie kurzgefasste, von der Philosophie aber umständliche Beschreibung dessen, was sich mit Karl Johann Hlucha zugetragen. Was war denn das? Ein gut lesbares Tagebuch aus dem 19. Jahrhundert? Eine verschollene und vergessene Geschichtenschatztruhe? Mein nach Geschichten lechzendes Herz spannte sich zwischen den Rippen wie ein Segel: Auf zur Schatzinsel! Leider war im Online-Angebot des tschechischen Antiquariats nur die Titelseite abgebildet. Darunter eine zu kurze Beschreibung auf Tschechisch: Tagebuch aus Österreich-Ungarn. Sonst nichts! Per E-Mail fragte ich nach dem Umfang der Handschrift. „214 eng beschriebene Seiten“, antwortete mir der Kollege. Ach! Was soll’s! Risiko lohnt. Auf 214 Seiten musste es doch etwas Interessantes geben, oder? Ich bestellte und wartete voller Ungeduld auf die Sendung. Und sie kam! Der Einband sah nach einem Totalschaden aus, aber das war nicht so wichtig. Ich wollte das Tagebuch lesen, nicht einrahmen!
Auch das Datum oben rechts auf der ersten Seite des Tagebuchs war gut lesbar: Jänner 1821. Doch dann war’s vorbei mit dem Lesen! Weiter konnte ich nur etwa ein Wort pro drei Sätze entziffern. Aha: „Frankenstadt“ (Frenstat pod Radhosten) in Nordmähren. Verdammt! Ich hielt ein dickes Tagebuch aus dem Jahr 1821 in der Hand, aus der Gegend um Kuhländchen in Nordmähren, aus den mährischen Beskiden, meiner alten Heimat – und konnte es nicht lesen! Dabei sah die Handschrift ganz hübsch aus. Wieso konnte ich sie bloß nicht entziffern?
Die deutsche Kurrentschrift wurde 1941 durch einen Erlass von Martin Bormann verboten. Ich besorgte mir ihr Alphabet und lernte sie auswendig. Jawohl! Langsam konnte ich in Kurrent Liebesbriefe schreiben und lesen. Nur das Tagebuch nicht! Ich scannte, schärfte Kontraste, vergrößerte und suchte in der Handschrift nach lesbaren Wörtern, um mein eigenes Alphabet zusammenzubasteln. Mit einem Alphabet kannst du jede verschlüsselte Nachricht knacken. Nur diese nicht! Die Vokale der Handschrift glichen sich wie Eier. Ich musste es aufgeben. Wenn du dich als Antiquar tagelang nur mit einem Stück beschäftigst, gehst du bald pleite. Ich würde das Ding verkaufen und damit basta! Zum letzten Mal blätterte ich, kollationierte … und plötzlich: was war denn das? Ein Zettel? Zwischen zwei Seiten lag der tschechische Brief eines Pfarrers von 1924. In seinem über 100 Jahre nach dem Tagebuch verfassten Brief schrieb Pfarrer Jan Zimmermann aus Bernatice nad Odrou (Barnsdorf an der Oder/ Nordmähren), dass der Tagebuchschreiber Karl Johann Hlucha sein ehemaliger „Dekan“ gewesen sei, als Zimmermann selbst noch ein kleiner Junge war und die Schule besucht habe. Pfarrer Zimmermann habe das Tagebuch gelesen und sei zu dem Schluss gekommen, dass seine Lektüre bei einem Laien für Empörung sorgen würde: „Ich wundere mich, dass er (sein Schuldekan Hlucha) diese Aufzeichnungen nicht verbrannt habe, sie dienen nicht seiner Ehre und dem Gedenken an ihn und können auch einem sie lesenden Priester schaden. Das Buch solle nie jemandem verliehen werden, auch wenn es viel enthält und zeigt, wie Studenten vor 100 Jahren studiert und sich viel erlaubt hatten, wenn sie auch versuchten, ihre Vergehen danach durch die Empfängnis der heiligen Sakramente und den Besuch der Kirche wieder gut zu machen.“ Die Handschrift sollte unbedingt im Archiv einer Pfarrei verwahrt werden, schrieb Pfarrer Zimmermann zum Schluss. Da hatten wir’s! Ein Schlag unter die antiquarische Gürtellinie! Ich konnte doch nicht ein Tagebuch vom Anfang des 19. Jahrhunderts verkaufen, das voller erotischer Geheimnisse war, ohne es zuerst selbst gelesen zu haben. Zumal der Autor in seinem Tagebuch sicher viel über das Kuhländchen und meine alte Heimat, die mährischen Beskiden schrieb.
Der Vater eines Kumpels konnte auf der ersten Seite der Handschrift ein paar Wörter entschlüsseln: Karl Johann Hlucha besuchte mit 17 eine Tanzschule. Gleich auf der ersten Seite trat eine Babet auf. Hoho! Babet? Und ein Leutnant war dabei. Was genau trieben sie aber? Und wie ging’s weiter? Wieder beschäftigte ich mich ein paar Tage lang mit dem Tagebuch. Doch lesen konnte ich es immer noch nicht. Schluss damit! In einem Anfall von Verzweiflung schrieb ich alles, was ich wusste, zusammen und bot das Tagebuch in meinen Katalogen an. Sollte es sich verkaufen, konnte ich mich auf etwas anderes konzentrieren und endlich wieder Geld verdienen.
Doch ganz ließ mich die Handschrift nicht los. Ein paar Tage später erzählte ich einem Freund aus Passau am Telefon davon. Er kannte einen Handschriftenexperten. Ich schickte ihm die erste Seite, und bald kam sie entschlüsselt zurück: Nach der Tanzschule fuhr der 17-jährige Hlucha mit einem Kumpel nach Hradisch und bewunderte u. a. die Merkwürdigkeiten des dortigen Klosters. Auch nach der besagten Babet suchte er. Und sogar nach ihrer Freundin Pepi. Der Leutnant war Babets Stiefvater. Aber hallo! Jetzt kam zu Babet Pepi, deren Namen an die berühmte Josephine erinnerte … endlich konnte ich mit dem entschlüsselten Wortschatz der ersten Seite ein Alphabet basteln. Bald würde ich das ganze Tagebuch lesen können. Sicher eine Neuentdeckung im Bereich der erotischen Literatur des 19. Jahrhundert: Ein Theologiestudent schrieb über seine erotischen Abenteuer! Wenn man der Empörung von Pfarrer Zimmermann im beigelegten Brief glauben konnte. Ich stürzte mich wieder auf die Entschlüsselung. Kam mir vor wie Alan Turing, als er die Enigma zu knacken versuchte. Doch Turing war erfolgreicher als ich: Auch die Entschlüsselung mit meinem neuen Alphabet ging nicht so voran, wie ich gedacht hatte. Nur mühsam knackte ich Einzelwörter. Da sich die Vokale in der Handschrift so glichen, kam mir das Deutsch darin wie mein Tschechisch vor. Lauter Konsonanten: Strc prst skrz krk!
Eine neue Zeit der Verzweiflung brach an! Mann, Jaromir, hör auf damit! Du musst doch deine Kinder ernähren. Und in diesem Moment des Trübsinns kam endlich die Rettung. Gerhard Brack, ein Sammler, der dank seines Idealismus geheimnisvolle Handschriften für die Zukunft rettet, meldete sich bei mir. Er kaufte das Tagebuch, um es im Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg aufzubewahren.
Holla! Wieder mal Geld genug, um ein bissl zu reisen. Wohin sollte ich aber fahren? Klar, nach Kuhlädchen! Aber irgendwann, das schwor ich mir, irgendwann mache ich Urlaub in Sulzbach-Rosenberg und entschlüssele das ganze Tagebuch. Sicher ein Erotikon vor Gott! Hmm … wenn nur Pfarrer Zimmermann das Unsittliche darin nicht durch seine eigene Brille gesehen und vergrößert hatte. Für einen Pfarrer vom Anfang des 20. Jahrhunderts musste schon der Name „Babet“ unsittlich klingen. Von Pepi gar nicht zu reden. Aber auch das wäre kein Problem. Es muss ja nicht immer Erotik sein, oder? Irgendwann werde ich nach Sulzbach-Rosenberg fahren und es herausfinden. Wenn mir nicht ein Schlawiner zuvorkommt.

Erstveröffentlichung auf ZVAB.com. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.