von Petra Pau
„Dönermorde“ hieß das Unwort des Jahres 2011, zu Recht. Aber viele wissen schon gar nicht mehr, worum es dabei ging. Viele Jahre lang war ein Nazi-Trio raubend und mordend durchs Land gezogen, unerkannt und unbehelligt. Sie hatten zehn Menschen regelrecht hingerichtet, acht türkischer Herkunft, einen mit griechischen Wurzeln und eine Polizistin. Ihr Motiv war rechtsextrem, germanisch-rassistisch! „Taten statt Worte!“ Jahrelang wurde ermittelt. Das Bundeskriminalamt, Sonderkommissionen, zahlreiche Landespolizeien, der Bundesnachrichtendienst waren aktiv, der Verfassungsschutz von Bund und Ländern, selbst der Militärische Abschirmdienst war dabei und immer wieder gab es einschlägige Lageeinschätzungen im Bundeskanzleramt. Folgenlos.
Die Mordserie flog am 4. November 2011 auf, nach einem weiteren Banküberfall, diesmal in Eisenach. Die örtliche Polizei kreiste die Räuber ein. Die brachten sich in ihrem Wohnwagen um. Die Dritte im Bunde steckte danach den gemeinsamen Zwickauer Unterschlupf in Brand. Das amtliche Erschrecken war so groß, wie das Versagen zuvor. Die Statements klangen kleinlaut.
So liest sich die offizielle Geschichte, wenn man alle Fragezeichen ausblendet. Aber sie sind nicht ausgeräumt. War der „Nationalsozialistische Untergrund“, NSU, wie sich die Nazi-Bande selbst nannte, wirklich nur ein Trio? Agierten sie tatsächlich mehr als zwölf Jahre lang unerkannt, und wenn nicht, warum dann unbehelligt? Wie viele V-Leute der Polizei und der Geheimdienste waren bei alledem präsent, passiv oder aktiv? Woher erfuhr Beate Zschäpe in Zwickau von der Tötung ihrer Kumpane Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt in Eisenach und war es wirklich Selbstmord? Wieso hielt sich ein VS-Beamter – interner Spitzname „kleiner Adolf“ – in Niedersachsen ausgerechnet zur Tatzeit am NSU-Tatort auf? Wurde er von einem CDU-Ministerpräsidenten vor polizeilichen Ermittlungen geschützt? Wenn ja, mit welchem Kalkül, mit welchem Recht? Warum wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz Akten vernichtet – und nicht nur dort – nachdem diese Nazi-Mordserie publik wurde? Die Liste der Ungereimtheiten ist viel länger. Es mangelt nicht an Angeboten für Verschwörungstheorien.
Seit Januar 2012 befasst sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bundestages mit den Umständen der NSU-Nazi-Mordserie. Und mit dem Versagen der Polizei, der Geheimdienste, auch der Politik in der Bundes- und Landesebene. Nur ein Spitzenbeamter räumte bislang rückblickend gravierende Fehler ein: der bisherige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Heinz Fromm. Er quittierte – enttäuscht und getäuscht – seinen Dienst. Alle anderen, ob leitende Staatsanwälte, hochrangige Kriminal-Beamte, gefragte Verfassungsschützer, sie alle blieben unisono dabei, man habe alles richtig gemacht. Trauriger Höhepunkt bislang war die mehrstündige Befragung von Ex-Innenminister Günter Beckstein (CSU). Gerafft sagte er sinngemäß: Bayerns Beamte waren gut, die Behörden waren topp und ich war klasse. Im Freistaat fanden fünf der zehn Morde statt. Kein einziger wurde aufgeklärt, geschweige denn verhindert. Nein, Untätigkeit, gar Faulheit kann man niemandem vorwerfen. Bestenfalls Versagen von Amts wegen, allen voran beim Verfassungsschutz. Hunderte Ermittler wurden eingesetzt, die wiederum tausende Spuren verfolgten, europaweit und mit Feuereifer. Es waren nur immer die falschen. Zufall? Pannen? Dumm gelaufen?
Ständiger Gast im Untersuchungsausschuss des Bundestags ist Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Zumeist schüttelt er ungläubig den Kopf. In neun Mordfällen wurden die Täter im Umfeld der Opfer gesucht, also bei Angehörigen und Freunden. „Man“ unterstellte szenetypische Kriminalität, also Rauschgifthandel, Schutzgelderpressung, islamischen Extremismus. Selbst Großeltern von Ermordeten wurden erkennungsdienstlich behandelt. Keine Mühe war zu groß. In Nürnberg ließen die Ermittler extra eine Dönerbude betreiben. Der „getürkte“ Inhaber sollte georderte Waren nicht bezahlen. Der Lieferant würde zürnen, Rache schwören und in Auftrag geben. Was Türken halt so tun, wenn sie nicht gerade ihre Frau schlagen oder die Töchter zwangsverheiraten. Sobald der Killer auftaucht, sollte die Falle zuschnappen. So das Kalkül der Polizei. Kenan Kolat ist entsetzt. Was für ein Bild über Türken müssen die Nürnberger Ermittler im Kopf haben? Nun, offenbar dasselbe, wie die Polizei in München. Auch sie ließ eigens einen Döner-Imbiss einrichten.
Nicht minder fassungslos ist Dr. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland. 2006 erschoss die NSU-Bande in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter. Es war der zehnte Mord. Wieder lief die Fahndung international. Gesucht wurden kriminelle Roma, frei nach dem Motto: „Zigeunern“ ist von jeher alles zuzutrauen. Romani Rose beschwerte sich öffentlich. Tage später rechtfertigte sich das Bundeskriminalamt per Presseerklärung. Nicht die Ermittler, die Medien hätten diese Spur gelegt. Ja, auch die Medien. Im Juli 2012 entschuldigte sich immerhin der Spiegel in einem Artikel dafür, wie unkritisch Journalisten den Verlautbarungen der Sicherheitsbehörden gefolgt waren. Nomen est omen! Die Sonderkommissionen „Bosporus“ und „Döner-Morde“ sind zwei Belege derselben sprachlich-geistigen Blindheit. Oder Voreingenommenheit? Kenan Kolat will derzeit von Regierungs-Integrations-Gipfeln nichts mehr hören, auf denen der Staat vorschreibt, was Migrantinnen und Migranten tun und lassen sollten, damit sie als ordentliche Deutsche gelten könnten. Er fordert vielmehr eine bundesweite Anti-Rassismus-Konferenz. Viel spricht dafür. Viel zu viel!
Das Versagen aller Sicherheitsbehörden in der NSU-Nazi-Mordserie wird Bücher füllen. Die ersten sind schon geschrieben, Filme werden folgen. Meine zentrale Frage, und die der LINKEN, geht allerdings viel weiter: Warum wurde der Rechtsextremismus hierzulande so lange, so gründlich und so tödlich unterschätzt? Und warum ist das noch immer so? Es gibt darüber keine ernsthaften Debatten, nicht in der Politik, nicht in der Gesellschaft.
Schlagwörter: Kenan Kolat, Neonazis, NSU, Petra Pau, Romani Rose, Untersuchungsausschuß