15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

Gebet

von Theresa von Ávila (1515 – 1582)

O Herr, du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.

Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.

Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich, nachdenklich (aber nicht grüblerisch),
hilfreich (aber nicht diktatorisch) zu sein.

Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit erscheint es mir ja schade, sie nicht weiter zu geben – aber du verstehst, o Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten will.

Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten und verleihe mir Schwingen, zur Pointe zu gelangen.

Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.

Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir Krankheitsschilderungen anderer mit Freude anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen.

Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.

Erhalte mich so liebenswert wie möglich.

Ich möchte kein Heiliger sein – mit ihnen lebt es sich so schwer – aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleih’ mir, o Herr, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.