15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Wie geht es aam aadmi?

von Edgar Benkwitz

Ja, wie geht es ihm denn? Schlecht, zumindest schlechter als früher! Heutzutage eine übliche  Antwort, die man überall hören kann. Auch in Indien, zumal aam aadmi in Neu Delhi geboren, besser gesagt hier in die Welt gesetzt wurde. Es handelt sich jedoch nur um eine fiktive Person und steht – aus dem Hindi kommend – für den „Mann von der Straße“, den „Durchschnittsbürger“.
Aam aadmi wurde ausgerechnet durch ein Wahlprogramm zu einem äußerst populären Begriff. Das war im Jahre 2004. Die grösste Partei des Landes wollte den einfachen Bürger wirksam ansprechen; er sollte sich mit seinen Sorgen und Problemen, vor allem aber mit seinen Erwartungen und Hoffnungen wiederfinden. Und das hatte einen durchschlagenden Erfolg. Nicht nur sichtbar im Wahlsieg der Kongresspartei, sondern auch in der Aufnahme dieses Begriffs in das politische Vokabular des multilingualen Indien. In Ministerreden, Parlamentsdebatten, Wahlkampagnen und vor allem in den Medien – überall taucht der aam aadmi auf. Er ist zum Schlagwort geworden, um den sich alles Soziale dreht.
Nachdem die Kongresspartei vor acht Jahren die Gunst der Wähler erhielt, wurde der aam aadmi zu einem Leitprinzip der Regierung mit den Schwerpunkten Nahrungsmittel, Bekleidung und Unterkunft. Das Massenphänomen der extremen Armut sollte vor allem durch zusätzliche Finanzmittel gelindert werden. Unter anderem wurden Nahrungs- und Düngemittel sowie Brennspiritus subventioniert. Ein öffentliches Beschäftigungsprogramm für Familien unterhalb der Armutsgrenze sicherte zumindest einem Familienmitglied eine bezahlte Beschäftigung für 100 Tage. Allerdings versickerten beträchtliche Mittel durch Korruption und Günstlingswirtschaft, so dass die Weltbank mehrfach Kritik an der Umsetzung der Programme äusserte.
Die Vorhaben zur Armutsbekämpfung wurden durch eine sich schnell entwickelnde Wirtschaft begünstigt. Bereits 1991 hatte der damalige Finanzminister Manmohan Singh das erstarrte Regulierungssystem aufgebrochen und eine Reformpolitik eingeleitet. Jährliche Zuwachsraten von bis zu zehn Prozent ließen aufhorchen, Indiens Rolle in der Weltwirtschaft wurde zusehends gestärkt. Doch von 1996 bis 2004 wurde dieser Prozess unterbrochen, Koalitionsregierungen aus nationalistischen und regionalen Parteien manövrierten das Land in eine labile politische Situation. Militärische Auseinandersetzungen mit Pakistan und empfindliche Wirtschaftssanktionen westlicher Staaten nach der atomaren Testserie 1998 wirkten zusätzlich negativ auf ein sich verlangsamendes wirtschaftliches Wachstum.
Der Wahlsieg der Kongresspartei 2004 und die Ernennung von Manmohan Singh zum Premierminister wirkten erneut belebend auf die wirtschaftliche Entwicklung. Seitdem ist Indien neben China und Japan zum dritten „global player“ in Asien aufgestiegen. Doch diese Entwicklung ist verletzlich. Die riesigen sozialen Probleme, vor allem die massenweise Armut, bleiben die Achillesferse des wirtschaftlichen Fortschritts. Die Zuwendung zum aam aadmi  ist deshalb nicht nur wahltaktisch zu erklären, sondern auch aus der Erkenntnis, dass die Stagnation auf sozialem Gebiet enormen Sprengstoff in sich birgt, der bisher Erreichtes schnell zunichte machen könnte. Offensichtlich ist gegenwärtig wieder ein Zeitpunkt erreicht, an dem das besonders spürbar wird.
Die wirtschaftliche Entwicklung hat sich verlangsamt, obwohl im abgelaufenen Wirtschaftsjahr 2011/12 (per 31.3.2012) der Zuwachs des BIP noch 6,5 Prozent betrug. Es ist jedoch das schwächste Ergebnis seit neun Jahren. Äussere Faktoren wie die schwächelnde Weltwirschaft, die Schuldenkrise im Euroraum und der Preisanstieg für Rohstoffe machen Indien schwer zu schaffen. Indien muss 80 Prozent des Erdöls einführen, die Mehrausgaben dafür schlagen sich auf Kraftstoffe und Düngemittel nieder, die so dringend in der Landwirtschaft benötigt werden. Das Handelsdefizit im abgelaufenen Jahr betrug 184,9 Milliarden Dollar und droht die angehäuften Devisenreserven von 300 Milliarden Dollar aufzuzehren. Die Inflation stieg auf knapp sieben Prozent, die Landeswährung Rupie verlor in einem Jahr 24 Prozent an Wert. Ausländische Investoren zögern und werden durch bürokratische Hemmnisse und Korruption zusätzlich abgeschreckt. Dabei ist von ihnen immer wieder zu hören, dass Indien mit seinem unerschöpflichen Menschenpotential und sonstigen Ressourcen weit unter seinen Möglichkeiten bleibe.
Die wirtschaftliche Lage schlägt auch unmittelbar auf den Lebensstandard des Durchschnittsbürgers durch. Premierminister Manmohan Singh lobte zwar auf einer Sitzung des Führungsgremiums der Kongresspartei Anfang Juni, dass seine Regierung alle Anstrengungen unternommen habe, um das dem aam aadmi gegebene Versprechen zu erfüllen. Sonja Gandhi, Präsidentin dieser Partei, gestand jedoch weitaus realistischer, dass die wirtschaftlichen Herausforderungen auch in Indien den Durchschnittsbürger treffen. Die „Times of India“ urteilte härter:„Die Inflation hat dem aam aadmi das Rückgrat gebrochen“. So seien die Nahrungsmittelpreise von 2004 bis 2012 (das ist die bisherige Regierungszeit Manmohan Singhs) um mehr als das doppelte gestiegen. Milch auf 104, Reis auf 84 und Gemüse auf 171 Prozent. In acht Jahren musste also zweimal soviel ausgegeben werden, um Grundnahrungsmittel zu erwerben, rechnet die Zeitung vor. Und das bei weitgehend stagnierendem Realeinkommen, vor allem der Landbevölkerung.
Vollkommen deplaziert wirkt da auch die Festlegung der indischen Plankommission, die Ende März die sogenannte Armutsgrenze – sie wird durch den täglichen pro-Kopfverbrauch bestimmt – herabsenkte. Sie wurde für Städter auf 28,65 Rupien und für ländliche Bewohner auf 22,42 Rupien (das entspricht 42 beziehungsweise 33 Eurocent) festgelegt. Es gab dafür heftige Kritik, zumal die Weltbank weltweit diese Grenze mit 1,25 US-Dollar festsetzt. Nach dieser Marke gäbe es in Indien 500 Millionen Menschen (oder 41,6 Prozent der Gesamtbevölkerung), die unterhalb der Armutsgrenze leben. Indien kam jedoch für 2009/10 nur noch auf 344,7 Millionen, eine Armutsrate von 29,8 Prozent. Damit fallen Millionen von Bedürftigen aus den offiziellen Wohlfahrtsprogrammen heraus. Dabei sind diese ohnehin im laufenden Haushaltsjahr auf verschiedenen Gebieten drastisch gekürzt worden.
Es nimmt daher nicht wunder, dass Indien auch international jede Gelegenheit wahrnimmt, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Auf dem Nachhaltigkeitsgipfel der UNO (Rio-20) im letzten Monat kritisierte Premierminister Singh die westlichen Staaten, ihre vor 20 Jahren gegebenen Versprechen nicht eingelöst zu haben und jetzt das Problem zu verdrängen. Damals verpflichteten sich die Industrieländer zu Entwicklungshilfe in Höhe von mindestens 0,7 Prozent ihres BIP. Singh betonte, dass die Bekämpfung der Armut nach wie vor Vorrang vor allen anderen Fragen haben müsse. Offensichtlich reagierte er damit auch auf Zahlen der Weltbank, wonach der Anteil der Menschen in tiefster Armut kontinuierlich zurückgehe und 2015 nur noch eine Milliarde Menschen betroffen seien.

Es scheint, dass Indien schwereren Zeiten entgegengeht. Sehr viel hängt vom Zustand der Wirtschaft ab. Experten meinen, dass nur zweistellige Zuwachsraten das Land auf die Dauer aus Armut und Unterentwicklung herausführen können. Der indische Nobelpreisträger für Wirtschaft, Amartya Sen, stellte kürzlich fest, dass Indien trotz 20 Jahren Wachstum nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt ist. Die genannten Zahlen, egal auf welcher Berechnungsgrundlage, beweisen das. Und es ist zu befürchten, dass es mit unserem aam aadmi nur sehr langsam aufwärts gehen wird.