von Max Klein, Melbourne
Australische Geldscheine haben ein durchsichtiges Fenster. Als ich das einem Barkeeper in Melbourne gegenüber erwähnte, erkannte er mich als Ausländer und alsbald als Teilnehmer der Weltkonferenz für Hochenergiephysik, die 300 Meter entfernt tagt. Es war der 5. Juli 2012 und der junge Mann gratulierte uns zur Entdeckung des „Higgsbosons“. Am Vorabend der Eröffnung von „ICHEP2012“ hatten die Sprecher der beiden großen Experimente „ATLAS“ und „CMS“ am Institut für Kernforschung CERN in Genf in einem Seminar konsistente Hinweise auf die Entdeckung eines Teilchens vorgestellt, und offenbar las der Barkeeper Zeitung.
Ungewohnt viele Menschen weltweit erfuhren, dass am CERN das „Gottesteilchen“ gefunden worden sein sollte, der „letzte Baustein des Standardmodells“ der Elementarteilchenphysik, ein Teilchen, das die Masse des Universums erkläre. Physiknobelpreisträger Leon Lederman hatte einst von einem „goddamn particle“ geschrieben, das einige ungewohnte Eigenschaften und eine abstrakte Herkunft hat und schon lange gesucht wurde. Er war dann seinem Lektor gefolgt, der vorschlug, sich auf „god“ zu beschränken. Gott wird davon eher nichts gewusst haben, und doch ist die Nachricht aus Genf durchaus sensationell und wert, irgendwie begriffen zu werden. Zum wirklichen Verständnis wird es wohl einiger Jahrzehnte fortgesetzter theoretischer und experimenteller Forschung bedürfen, und zunächst sicherer Bestätigung.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts wussten wir, dass es Elektronen gab, und Atome galten als unteilbar. Im Jahre 1909 führten zwei Physiker, Geiger und Marsden, ein Experiment durch, das von Rutherford zwei Jahre später als die Entdeckung des Atomkerns interpretiert wurde, was er „the most incredible event in my life“ genannt haben soll, ein Ausspruch, der passt aber wohl nicht belegbar ist. Am Anfang dieses Jahrhunderts wussten wir, dass es sechs Leptonen gibt, unter ihnen das Elektron, und sechs Quarks, zwei ganz leichte, „up“ und „down“ genannt, und ein besonders mysteriöses („top“), das fast 200 mal so schwer ist wie das Proton. Hier waren es nun zwei Experimente, mit je etwa 3.500 Physikern, die von März 2011 bis Juni 2012 Daten am grossen Proton-Proton-Beschleuniger, dem „LHC“, in Genf aufzeichneten und analysierten, und deren vorläufige Ergebnisse zehn Tage nach Beendigung der Datennahme, am 4. Juli, bekanntgaben, nachdem sie in den letzten beiden Jahren bereits etwa 300 wissenschaftliche Resultate publiziert hatten. Der beim Seminar anwesende Peter Higgs, schottischer Theoretiker, sagte in die Mikrofone, dies sei ein „incredible event in my lifetime“, und es mag sein, dass er an Rutherford dachte. Dies gelte, so erwiderte spontan der Direktor des CERN, Rolf Heuer, für unser aller Leben.
Higgs hatte im Oktober 1964 eine Arbeit von 1,5 Seiten Kürze mit dem Titel „Broken Symmetries and the Masses of Gauge Bosons“ veröffentlicht, die sich auch auf einen Beitrag von Brout und Englert bezieht, der im gleichen Band von „Physical Review Letters“ 190 Seiten davor erschienen war. Im Jahre 2009 erhielten Brout, Englert und Higgs, aber auch Guralnik, Hagen und Kibble, gemeinsam den „Sakurai-Preis“ der amerikanischen phyikalischen Gesellschaft, in Anerkennung einer gemeinsamen theoretischen Entwicklung, die Namen wie Yang, Mills und andere einschliesst. Er sei einfach „overwhelmed“ sagte Hagen am 4. Juli in Genf, und Englert verwies auf die beachtliche Kunst der Experimente.
Das Rutherford-Experiment hat die Welt verändert, indem es die Kernphysik begründete. Die ATLAS- und CMS-Experimente könnten mit der jetzigen Entdeckung ein neues Kapitel der Physik aufgeschlagen haben. Welche Rolle das Higgsteilchen spielen soll, das kann man mathematisch einsehen, es hat aber auch eine interessante Geschichte.
Im Jahre 1930 schlug Wolfgang Pauli vor, den Satz von der Erhaltung der Energie beim sogenannten β-Zerfall des Neutrons in ein Proton und ein Elektron dadurch zu retten, dass ein unsichtbares Teilchen existieren sollte, das bald „Neutrino“ genannt wurde, und jene Energie mitnahm, die der Differenz aus der Neutron- und der Summe aus Proton- und Elektronenergie entsprach. Pauli nannte es einen „verzweifelten Ausweg“, nachdem sogar Niels Bohr erwogen hatte, diesen fundamentalen Erhaltungssatz aufzugeben. Enrico Fermi stellte dann eine Theorie der sogenannten schwachen Wechselwirkung auf, die, obwohl von der Zeitschrift „Nature“ 1935 als „verrückt“ abgelehnt, doch den β-Zerfall und die Streuung von Neutrinos, die 1952 an einem Reaktorexperiment entdeckt worden waren, im Wesentlichen richtig beschrieb. Fermis Theorie hatte jedoch einen wesentlichen Fehler, der erst bei hohen Energien sichtbar wurde: die Wechselwirkungswahrscheinlichkeit von Neutrinos, so schwach sie auch war, stieg mit deren Energie unvermindert an, was heiligen Grundsätzen der Physik widersprach. Die Reichweite der den β-Zerfall charakterisierenden schwachen Wechselwirkung ist sehr kurz. Das konnte man verstehen, wenn sie durch den Austausch eines schweren, „W-Boson“ genannten Teilchens vermittelt wurde, das auch den Anstieg der Neutrinowechselwirkungswahrscheinlichkeit mit der Energie dämpfte. Das W-Boson wurde schliesslich am CERN im Jahre 1983 gefunden, seine Masse ist etwa 90 mal so gross wie die des Protons. Nun aber ergab sich ein neues Problem, denn die Wechselwirkung von zwei solchen W-Bosonen stieg nun ihrerseits ungedämpft mit der Energie an. Das Higgsteilchen, so es denn existierte, würde nun die WW-Streuung beruhigen, ebenso wie das W-Teilchen die Neutrinostreuung beruhigt hatte.
Einige Jahre vor der Entdeckung des W-Bosons war man sich sicher, verstanden zu haben, wie die schwache Wechselwirkung mit der elektromagnetischen einheitlich beschrieben werden konnte. Warum jedoch waren das W, und sein neutraler Partner, das Z, so schwer, wenn doch das Photon masselos ist, Einstein’s Lichtteilchen, das die elektromagnetische Wechselwirkung vermittelt? Hierauf eine theoretische Antwort gegeben zu haben, die Analogien zur Supraleitungstheorie von Landau und Ginsburg hat, ist das Bemerkenswerte an der langen mathematischen Entwicklung, die berechtigt jedoch zu verkürzt mit dem Namen Higgs verbunden wird. Die Theorie ist fundamental, da ihre Gesetze aus Symmetriebeziehungen und deren Brechung abgeleitet werden, ein Vorgehen, das an der Wiege der Quantenfeldtheorie des Lichts stand, wo Raum-Zeit-Symmetrien die Ladungserhaltung begründen.
Die Nachricht vom 4. Juli ist zahlreich kommentiert worden. Man kann nicht zu Abstraktes hinzufügen, muss jedoch anmerken, das nicht jede vereinfachte Mitteilung noch korrekt ist, und Anderes ist so wichtig, das man es doch zu sagen versuchen möchte.
Zunächst ist festzuhalten, wie auch die Sprecher beider Experimente betonten, das diese Ergebnisse vorläufig sind. Die einzige, nachhaltige Form wissenschaftlicher Dokumentation ist die Publikation, Seminare dienen der Ankündigung, der Diskussion von Resultaten, sind also eher nicht endgültig, besonders in diesem Fall, da die Datennahme erst zehn Tage vor dem Seminar beendet wurde, was auf einen unglaublichen Aufwand von hunderten direkt und tausenden kaum weniger direkt beteiligten Physikern hinweist. Man erwartet die gleichzeitige Publikation beider Experimente in einigen Wochen, ein Zeichen von ausserodentlichem Elan und beidseitigem Anstand.
Ob, was in unseren Experimenten beobachtet wurde, das Higgsteilchen ist, kann zwar als sehr wahrscheinlich angesehen aber keinesfalls sicher bejaht werden. Für diese Annahme spricht vor allem, dass man den Zerfall des Teilchens in zwei Varianten gemessen hat, in zwei Photonen sowie in vier Leptonen und in einem Verhältnis, wie es etwa theoretisch vorhergesagt ist. Die Masse des Higgsteilchens liegt nahe dem erwarteten Wert und in einem theoretisch eben noch erlaubten Bereich. Das Ergebnis wird glaubhaft dadurch, dass sowohl ATLAS als auch CMS diese Beobachtung konsistent gemacht haben. Jede einzelne Messung muss jedoch viel genauer nachvollzogen und das Teilchen noch in mehreren anderen Zerfällen beobachtet werden. Die endgültige Identifikation des bebachteten Teilchens mit dem Higgsteilchen bedarf der Untersuchung weiterer Eigenschaften, der sogenannten Quantenzahlen, und einer Wahrscheinlichkeit seiner Erzeugung, die der Vorhersage genau entsprechen sollte.
Das Higgsteilchen, sollte es bestätigt werden, erklärt doch nicht die Masse des Universums schlechthin. Die Sterne und Planeten bestehen aus Protonen und Neutronen, deren Masse sich anders herleitet, nämlich aus der sogenannten Selbstwechselwirkung der Gluonen, die die starke Wechselwirkung innerhalb der Protonen und Neutronen durch die sogenannte Farbkraft vermitteln und also die Quarks binden. Das Proton besteht aus zwei up- und einem down-Quark, deren Masse nur etwa ein Prozent der Protonmasse ist. Eine ungewohnte Situation, ist doch im Allgemeinen die Masse eines Ganzen die Summe seiner Teile. Hier aber entsteht Masse aus der Energie der eingeschlossenen Gluonen. Und doch hat das Higgsteilchen auch etwas mit der Masse des Universums zu tun. Ohne den Brout-Englert-Higgs Mechanismus wären die Quarks masselos, dann wäre das Neutron nicht schwerer als das Proton. Das Neutron geht im β-Zerfall in ein Proton über, das jedoch stabil ist. Nur so können wir unsere Existenz begründen oder die Masse der sichtbaren Materie.
Das Higgsteilchen begründet auch, dass Quarks Massen haben, und es ist ihnen umso stärker, im Quadrat, zugeneigt, je grösser die Masse der Quarks ist. So ergibt sich plötzlich ein gewisser Sinn für das top-Quark: das Higgsteilchen wird fast ausschliesslich dadurch erzeugt, dass zwei Protonen zwei Gluonen abstrahlen, die ein sogenanntes virtuelles Paar von top-Quarks erzeugen, das dann das Higgsteilchen formiert – eine kaum glaubliche Entwicklung, die das lange unbekannte Gluon und das erst 1995 am Fermilaboratorium bei Chicago (USA) entdeckte top-Quark mit dem Higgs verbindet, die Quantenfeldtheorie der starken mit der der elektroschwachen Wechselwirkung.
Die sichtbare Materie erklärt nur etwa fünf Prozent der Masse des Universums. Die unsichtbare, dunkle Materie ist unaufgeklärt. Das Higgsteilchen könnte etwas mit ihr zu tun haben, ist doch seine eigene Masse im Standardmodell mathematisch erst stabil, wenn zum Beispiel neue Symmetrien eingeführt werden und assoziierte Teilchen, die unsichtbar, aber nachweisbar die dunkle Materie bilden könnten. So ist die nun wahrscheinliche Entdeckung des Higgsteilchens nicht das Ende der Theorie sondern ein weit über das Standardmodell hinausweisender Beginn, der wiederum mit Stabilitäten zusammenhängt, nicht ganz verschieden von der Einführung des W-Bosons zur Erweiterung der Theorie Fermis und des Higgsteilchens zur Dämpfung der WW-Streuung. Der Optimismus der Teilchenphysik und ihre Geduld sind ungebrochen.
Die Natur wird weitere Überraschungen bereithalten. Die Theorie, die gestern auch in der Lage war, die Nichtexistenz des Higgsteilchens zu begründen, das ATLAS und CMS beinahe schon ausgeschlossen hätten, sie wird weitere Varianten menschlicher Vorstellungskraft ausarbeiten. So gibt es zum Beispiel Vorhersagen, wonach das Higgsteilchen doppelt so häufig als im Standardmodell vorhergesagt in Licht zerfällt, wenn es neben Raum und Zeit noch weitere („extra“) Dimensionen geben sollte. Dem Experiment stehen Jahrzehnte weiterer Untersuchungen bevor, am LHC und an kommenden Beschleunigern mit Elektronen und Protonen, um Neues zu suchen sowie die Eigenschaften von W,Z,Higgs, top und Gluon zu erforschen. Diese könnten Strukturen besitzen, „supersymmetrische“ Partner haben, und die dunklen Seiten der Natur werden sich also weiter erschließen, durch Experimente an Beschleunigern und die weitere Untersuchung des Kosmos und seiner teilchenphysikalischen Eigenschaften.
Der 4. Juli 2012 war eine wichtige Stunde der Teilchenphysik, auch eine Bestätigung der herausragenden Bedeutung der Beschleunigertechnik, die ihre eigene grosse Geschichte und Zukunft hat. Ob es eine Sternstunde der Menscheit war, wie die Zeitungen der Welt am 5. Juli vermeldeten, und mein Barkeeper in Melbourne glaubte, das ist nun sehr wahrscheinlich, selbst wenn man wissen muss, dass Irrtum und Entdeckung, sowie Neugier und Verantwortung nahe beieinander liegen. Es war auch eine friedliche Meldung: über den ausserordentlichen Erfolg internationaler Kooperation und den Einsatz nicht unbedeutender geistiger wie materieller Mittel für die Bewahrung der Kultur und nicht zu deren Vernichtung, die so oft die Titelseiten beherrscht.
Unser Autor, Prof. Max Klein, hat als Leiter der ATLAS Gruppe Liverpool zu diesem Projekt des CERN beigetragen. Das Blättchen schließt sich den weltweiten Gratulationen an die beteiligten Wissenschaftler an.
Schlagwörter: CERN, Elementarteilchen, Higgsteilchen, Max Klein, Peter Higgs, Physik