von Edgar Benkwitz
Es gibt von Peter Ustinov ein berührendes Filmdokument. Ende Oktober 1984 begleitete er die Premierministerin Indiens, Indira Gandhi, auf einer Wahlkampfreise. Er erlebte an zwei Tagen 17 grosse Veranstaltungen und sah, wie sie scheinbar mühelos die Massen beeindrucken und beherrschen konnte.
Am nächsten Tag, es ist der 31.Oktober 1984, erwartet Peter Ustinov in Neu Delhi die Ministerpräsidentin zu einem Interview. Er sitzt im parkähnlichen Garten ihrer Residenz, auf dem Nachbarstuhl liegt das Mikrofon, das ihr gleich um den Hals gehängt werden soll. Dann fallen Schüsse. Auf dem Weg zu ihm ist Indira Gandhi einem Attentat zum Opfer gefallen. Erst sechs Stunden später darf der erschütterte Ustinov den Ort verlassen.
Ein Jahr später ist er hier wieder zu Gast. Der gleiche Garten und ein Gespräch mit dem neuen Premierminister Indiens, Rajiv Gandhi, Indiras ältestem Sohn. Rajiv wurde noch am Todestag seiner Mutter für das mächtigste Amt im Staat eingeschworen. Sein ursprünglich dafür auserkorener Bruder Sanjay war 1980 mit seinem Sportflugzeug in Neu Delhi abgestürzt. Peter Ustinov ahnt nicht, dass sein Gesprächspartner nur einige Jahre später das gleiche Schicksal wie seine Mutter erleiden wird. Im Süden Indiens tötete 1991 eine Selbstmordattentäterin den letzten Hoffnungsträger der Nehru-Gandhi-Dynastie.
In Indien normalisierte sich das politische Leben nach dem Attentat auf Rajiv Gandhi schnell. Das riesige Land hatte zu viele Probleme, die die Aufmerksamkeit und Kraft der politischen Elite forderten. Das Andenken an die grossen Politiker blieb aber lebendig. Das neue Indien, 1947 unabhängig geworden, hat neben Mahatma Gandhi vor allem der Nehru-Gandhi-Familie viel zu verdanken. Jawaharlal Nehru, 21 Jahre in britischer Haft, war der Architekt des neuen Staates. Er fügte den territorialen Flickenteppich Indien zu einem einheitlichen Staat zusammen und schuf massgeblich dessen politische Strukturen. Indira Gandhi versuchte das Erbe ihres Vaters fortzusetzen. Das gelang ihr noch am ehesten bei der Festigung der territorialen Integrität des Landes. Mit dem Schlachtruf „Garibi hatao – Kampf der Armut“ erreichte sie eine beispiellose Mobilisierung der Massen. Sie verging sich jedoch an der bisher bewährten indischen Demokratie durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes 1975 mit seinen katastrophalen politischen Folgen. Ihr Sohn Rajiv Gandhi schliesslich, als früherer Pilot mit Wissenschaft und Technik vertraut, wollte Indien der neuen Zeit anpassen.Er stellte nationale wieder über Parteiinteressen, verfing sich jedoch im Gestrüpp der Parteipolitik und scheiterte letztendlich.
Das Indien von heute ist stolz auf seine führende Familie. Sie hat die Entwicklung des Landes wesentlich geprägt und ist aus ihrer Geschichte nicht wegzudenken. Das ist mit Instrumentalisierung und Mystifizierung verbunden. Wie soll man ansonsten erklären, dass die Frau von Rajiv Gandhi, Sonja, von Geburt Italienerin und Katholikin, nach dessen Ermordung von erfahrenen Politikern flehentlich gebeten wurde, die Geschicke der Kongresspartei in die Hand zu nehmen. Es spielte keine Rolle, dass sie politisch unerfahren war. Sie war aber Träger eines grossen Namens, den die Kongresspartei brauchte, wollte sie nicht im politischen Geschehen des Landes untergehen. Sonja stimmte erst 1998 zu, Präsidentin ihrer Partei zu werden.
Rajiv und Sonja haben zwei Kinder, Rahul und Priyanka, einst der Stolz von Indira Gandhi. Beide wuchsen unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen auf. Rahul musste unter Decknamen im Ausland studieren. Erst 2004 stieg er in die indische Politik ein und wird im Moment als der grosse Hoffnungsträger für die Parlamentswahlen in zwei Jahren angesehen. Seine Herkunft und die tragischen Umstände seiner Familie sind dabei der grösster Bonus. Aber er arbeitet auch hart für die Politikerkarriere. Seit 2007 hat er wichtige Funktionen in der Kongresspartei inne, 2009 wurde er in das Parlament gewählt. Ist die Kongresspartei 2014 erfolgreich, wird Rahul sicherlich einen einflussreichen Ministerposten übernehmen. Über das Spitzenamt entscheidet seine Mutter.
Seine knapp zwei Jahre jüngere Schwester, Priyanka, äusserte hingegen, dass sie kaum Interesse an der Politik habe. Die attraktive junge Frau ist mit einem Geschäftsmann verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Hin und wieder bereist sie die Wahlkreise ihrer Mutter und ihres Bruders und pflegt die Kontakte der Familie zu den Wählern. Mittlerweile ist sie bekannter und beliebter als die eigentlich Gewählten. Zur grossen Überraschung der Öffentlichkeit beteiligte sie sich kürzlich an der Wahlkampagne bei den Landtagswahlen in Uttar Pradesh. Ihr Pensum war enorm: innerhalb von zwölf Stunden absolvierte sie 32 sogenannte Strassenmeetings, sprich zehnminütige Rede, Händeschütteln, einige Wortwechsel, Winken, dann Weiterfahrt der Jeepkolonne. Journalisten waren von dem „Energiebündel“ beeindruckt, das trotz Strapazen entspannt und fröhlich wirkte. Ihr Auftreten „ erinnere an das von Indira Gandhi, die ihre Kraft aus der Menge saugen konnte“. Realität oder bereits Verklärung? Indische Kommentatoren sind sich einig, dass – sollten es die Umstände erfordern – Priyanka in die Politik wechseln würde.
Es gibt noch einen dritten Enkel, der der erklärte Liebling von Grossmutter Indira gewesen sein soll. Es ist Varun Gandhi, 32 Jahre alt, Sohn des verunglückten Sanjay. Mutter Maneka Gandhi, eine Sikh, überwarf sich Anfang der 80er Jahre mit Indira. Sie verliess die Kongresspartei und schloss sich der politischen Opposition an, bekleidete hier mehrfach Ministerämter. Wie seine Mutter gehört Varun der Bharatiya Janata Party (BJP) an. Die BJP ist mit 114 Abgeordneten die größte Oppositionspartei und der einzig ernstzunehmende Gegenspieler der Kongresspartei. Sie vertritt seit jeher hinduchauvinistische Ansichten, stellte aber von 1998 – 2004 an der Spitze von Koalitionen die Regierung. Während der Wahlkampagne zur Unterhauswahl 2009 trat Varun mit drastischen antimuslimischen Ausfällen auf. Er bestritt das zwar, musste aber für 21 Tage ins Gefängnis. Danach wurde er mit grosser Mehrheit ins Unterhaus gewählt. Es scheint, dass es neuerdings zwischen Varun und der altgedienten Funktionärselite der BJP Differenzen gibt. Varun wird politisches Talent bescheinigt. Wofür er es letztendlich nutzen wird, ist ungewiss. Für die Nehru-Gandhi-Familie mit ihrer säkularen Grundhaltung ist er im Moment ein Aussenseiter und politischer Gegner.
Die Enkel Indiras – Namensträger ihrer verdienstvollen Familie – sind in einem Alter, in dem sie an der Gestaltung der indischen Politik massgeblich teilhaben können. Vor allem aus parteipolitischen Gründen werden sie offensichtlich auch gebraucht. Es bleibt abzuwarten, ob sie die Fähigkeiten haben und die Umstände es gestatten, dass sie sich zu solch überragenden Persönlichkeiten wie die Grossen ihrer Dynastie entwickeln.
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