15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Die Diktatur des Motorrads

von Eckhard Mieder

Sie sind wieder unterwegs, die Akustik-Terroristen. Wo ich zu Fuß unterwegs bin, gut gelaunt und süchtig nach Wald und Flur, da sind sie schon. Nach Minuten der Stille, ich stehe auf dem Orensfelsen in der Südpfalz, eben will mir das ultimative Gedicht zum Unterschied von Größe, Länge und Höhe einfallen – da! Rmmmmm! Fort ist das Gedicht, gestrichen der Platz im Conrady. Dschmmmm!
In den Tälern sind sie unterwegs. Die Berge hoch scheuchen sie ihre eisernen Pferde. Der Prall ihrer Motoren kracht durch die Wälder, steigt auf die Gipfel, hallt von Schluchtwand zu Schluchtwand, legt sich über die Wiesen und Felder, als gäbe es mich nicht. Als brauchte es mich nicht. Als wäre ich die Laus im Pelz des 21. Jahrhunderts und nicht sie. Ich, der Trottel zu Fuß.
Was sind das für Idioten, die am Wochenende die Wälder und Berge durchsägen wie starke Schnarcher das Mobiliar und die Harmonie ihrer Ehen?
Es sind vermutlich keine Idioten. Sie nehmen die Helme ab, und ich blicke schaudernd auf ergraute und halb- oder unbehaarte Schädel, beherbergend das Hirn eines Studienrates, Apothekers oder Kriminalkommissars. Sie reißen ihre Lederkleidung auf, um Luft zu lassen an den dampfenden Körper, und befreit dehnen sich die Bäuche von Redakteuren, Verwaltungsbeamten und Gewerbetreibenden.
Oder sind es doch Idioten? Ist ja nicht auszuschließen, dass auch Redakteure, Apotheker, Kommissare, Lehrer, Verwaltungsangestellte – Vollhorste und Vollpfosten sind. Logisch ist auch, dass der Mittelstand Motorrad fährt; die Dinger sind teuer. Die Krad gewordene Penunse durchbraust die Natur, derweil die Karosse in der Remise geschont wird.
Es gibt einen Haufen von Leuten, die sich über den Lärm eines auszubauenden Flughafens aufregen. Oder gegen die Vibrationen und den Lärm der Züge, die durch ihr Schlafzimmer und ihren Weinkeller rauschen. Oder gegen das Froschgequake, das aus dem Zierteich des Nachbarn aufklingt wie Höllengeschrei. Oder gegen das Huiiiissssmmmm der dreiflügeligen Windenergieanlagen.
Das regt sich auf. Das formiert sich juristisch, gruppiert sich auf der Straße, bildet Zellen des Widerstands in den Sälen der Bürgerhäuser.
Warum formieren sich nicht die Gegner des Biker-Lärms? Ich glaube, ich weiß es. Weil diejenigen, die gegen den Lärm von Flugzeugen, Zügen, Fröschen protestieren, auch die sind, die Motorrad fahren. Das ist die Freiheit der Freizeit oder die Freizeit von der Freiheit. Ich protestiere, wogegen ich will. Ich fahre Motorrad, wo und wann ich will. Ich bin jetzt mal ein bisschen diktatorisch, auch wenn ich mein Vergnügen so nicht nenne; die Diktatur des Motorrads.
Grrrmmmm! tönt die Freiheit der Easy-Rider und Heavy-Biker, und der Himmel zerbirst nicht, und die Natur hält still. Nicht ein Baum schlägt sein Kleid aus Blättern erschrocken um sich. Nicht ein Pilz duckt sich ins Moos. Der dämlichen Natur ist es wieder mal egal. Ich weiß gar nicht so genau, wer mir mehr auf den Senkel geht: der laute Biker, die gleichgültige Natur oder ich mir selber.
Es ist die Freiheit der Andersfahrenden. Oder es ist ein Sport, eine Verabredung unter Sinngleichen. Oder ein Heraufholen der Jugend, verbunden mit der Verweigerung, sonntags am Kamin zu sitzen und den Apfelkuchen zu essen, den Mutti frisch gebacken hat.
Apropos Mutti. Die Lärm-Barbaren sind nicht nur Männer. Wenn Helme fallen und Jacken sich öffnen, dann kommt es zu überraschenden Einsichten. Beid- und breitbrüstige Amazonen des 21. Jahrhunderts entblättern sich im Verbund mit all den PS-Achills, denen die Wampen über den Lederhosenbund fallen. Manche Kriegerinnen sind natürlich auch schlank, sehnig und supersexy.
Am Wochenende vor der Pfalzwanderung. Auf dem „Galgenberg“ in hessischer Höhe. Zwei Frauen, zwei Männer, nebeneinander auf einer Bank. Alle in auseinander klaffendem Leder, alle versunken in den Anblick des Tals und des Örtchens zu ihren Stiefeln. Hinter ihnen standen die Kräder auf der Landstraße und knurrten und murrten. Die Menschen brauchen diese romantischen Pausen, die Motoren nicht. Der Biker empfindet Schönheit und Stille, wenn der Motor vor sich hingrummelt. Ja, jubelte ich, die Biker sind keine kostümierten Autisten! Sie treten auch als Pärchen auf, ja! Im Sommer des Lebens, ja! Im Herbst des Lebens, im Frühling für alle!
Der Beginn der Biker-Saison ist auch der Beginn der Todesnachrichten. Regelmäßig, zuverlässig, jedes Wochenende trägt es einen oder eine oder mehrere aus der Kurve. Im Polizeibericht steht dann, dass der achtundfünfzigjährige Fahrer „infolge von Aquaplaning und vermutlich nicht angepasster Geschwindigkeit die Kontrolle verlor“. Die schwere Kawasaki ZZR 1400 rutschte ihm unterm Arsch weg, er wurde gegen die „am rechten Fahrbahnrand befindliche Leitplanke geschleudert und verstarb wenig später im Uniklinikum Gießen an schwersten Kopfverletzungen. Das Motorrad hat nur noch Schrottwert.“
Eines muss ich der Natur lassen: Sie ist und bleibt bei sich, weicht nicht aus, und eine Taunus-Fichte von zwanzig, dreißig Jahren fürchtet sich nicht vor einem heran fliegenden Motorrad plus Weich- und Ersetzteil Mensch.