15. Jahrgang | Nummer 5 | 5. März 2012

Premierminister im Praktikum

von Edgar Benkwitz

Uttar Pradesh,die „Nordprovinz“ Indiens umfasst mit 200 Millionen Einwohnern den größten Teil der fruchtbaren Ganges-Ebene. Mit Varanasi, Agra und Allahabad liegen auf seinem Gebiet einzigartige Kultur- und Pilgerstätten. Zur Kumbh Mela am Zusammenfluss der heiligen Flüsse Ganges und Jamuna strömten zuletzt 50 Mio Hindu-Pilger zusammen. In U.P. – wie es die Inder nennen – finden in diesen Wochen Wahlen zum Landesparlament statt. Seit Wochen beherrscht dieses Ereignis die Schlagzeilen und mit Spannung wird das Ergebnis erwartet. Die in Indien regierende Kongresspartei will verlorenen Boden gut machen, wurde sie doch in den letzten Jahren in ihrer einstigen Hochburg zu einer politischen Randfigur degradiert. Für die Nehru-Gandhi-Dynastie besonders schmerzlich, denn es ist ihre politische Heimat.
Der jüngste Spross dieser Dynastie, Rahul Gandhi, 41, soll nun den  Aufschwung schaffen. Selbst für asiatische Verhältnisse ist seine prominente Ahnenreihe imposant, sie reicht über 100 Jahre zurück. Am Beginn steht Motilal Nehru, Gefährte von Mahatma Gandhi im Widerstand gegen die englische Kolonialherrschaft und wiederholt Präsident der Kongresspartei. Ihm folgte mit dessen Sohn der neben Mahatma Gandhi wohl populärste indische Politiker, Jawarhal Nehru, der erste Premierminister des neuen Indien. Nach einer kurzen Interimszeit übernahm dessen Tochter, Indira Gandhi, die Staatsgeschäfte. Sie fiel 1984 einem Attentat zum Opfer. Das gleiche Schicksal erlitt der Nachfolger in ihrem Amt, ihr Sohn Rajiv Gandhi, der 1991 ermordet wurde. Doch dessen Frau, Sonja Gandhi, von Geburt Italienerin, stieg 1997 in die Politik ein und leitete bereits ein Jahr später die Geschicke der Partei. Bis heute steht sie an der Spitze dieser über 125 Jahre alten Organisation. Sie selbst, 64 Jahre alt und als Ausländerin und Katholikin immer wieder hinduchauvinistischen Angriffen ausgesetzt, verzichtete weise auf das ihr angebotene Amt des Premierministers. Stattdessen regiert ihr Vertrauter Manmohan Singh, der den Liberalisierungsprozess in der Wirtschaft einleitete. Sonja Gandhi, im letzten Jahrzehnt wiederholt als eine der „einflussreichsten Politiker“ dieser Welt eingestuft, bereitet nun ihren Sohn Rahul für die Nachfolge als Premierminister vor. Das wäre 2014, wenn in Indien die nächsten Unterhauswahlen stattfinden.
Rahul betätigt sich erst seit 2004 aktiv in der indischen Politik. 2009 wurde er ins indische Parlament gewählt. Er ist einer der Generalsekretäre der Kongresspartei und Chef ihrer Jugend- und Studentenorganisation. Bei der Parlamentswahl 2009 tourte er in kurzer Zeit 87.000 km kreuz und quer durch Indien und stellte den Erfolg seiner Partei mit sicher. Doch nun wird er einer neuen Prüfung unterzogen – in Vorbereitung auf das Spitzenamt in Indien. „Premierminister im Praktikum“ nennt ihn die Times of India schon einmal. Die jetzige Wahlkampagne ist ungleich schwerer als frühere Aufgaben: Will er den Anforderungen gerecht werden, muss er seiner Partei verlorenes Ansehen zurückerobern und die „Platzhalter“ aus dem Sattel heben.
Uttar Pradesh, mit fast 250.000 Quadratkilometern so groß wie ein mittleres europäisches Land, ist sehr dicht besiedelt. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Armut und Rückstand sind ausgeprägt, zeigen sich vor allem bei den Muslimen (fast 20 Prozent der Bevölkerung) und Angehörigen niedriger Kasten beziehungsweise Kastenlosen – gemeinhin als Dalits bezeichnet. Sie sind noch immer Diskriminierungen ausgesetzt, obwohl Verfassung und Gesetzgebung das nicht dulden, es viele Maßnahmen für deren Überwindung gibt. Das schwere sozialökonomische Erbe könnte nur mit spürbaren Fortschritten auf allen Lebensgebieten eingedämmt werden. Bis jetzt aber sind regionale Parteien die Nutznießer des bestehenden Zustandes. Die Bahujan Samaj Party (BSP) stützt sich vornehmlich auf die Dalits, die Samajwadi Party (SP) spricht generell die Armen an. Erstere, die BSP, errang bei den letzten Landtagswahlen 2007 die absolute Mehrheit. Parteiführerin Kumari Mayawati, selbst Dalit und erst 54 Jahre alt, wurde erneut Chief Minister (Ministerpräsident) des Staates. Für die Armen wurden Sozialprojekte aufgelegt. Allerdings sind  Vetternwirtschaft und Korruption tief eingesessen und werden mit viel Demagogie überdeckt. Frau Mayawati, aus einfachen Verhältnissen kommend, baut gezielt einen Personenkult um ihre Person auf. Mittlerweile ist sie so reich, dass Staatsanwaltschaft und Steuerbehörden sie regelmäßig im Visier haben.
Will Rahul Gandhi erfolgreich sein, muss er diese Positionen aufbrechen. Politische Beobachter in Delhi würden den Gewinn von 80 Sitzen (bisher 22) für die Kongresspartei als einen großen Erfolg einstufen. Rahul versucht, in den rückständigen Gebieten die Aufbruchstimmung zu vermitteln, die anderswo in Indien greift und Arbeitsplätze schafft. Er hat die enormen ungenutzten Ressourcen wie das Arbeitskräftepotential oder die Energieerzeugung im Blick. Indische Unternehmen sehen in der IT -Branche oder im Bau von Kraftwerken günstige Möglichkeiten. Rahul Gandhi stellt seine Partei auch als Heimstatt für Kasten, Religionen und Ethnien da. In der Vergangenheit schickte sie sowohl einen Muslim als auch einen Dalit in das Amt des Staatspräsidenten.
Rahul selbst ist das Produkt des modernen Indien. Er spricht mit seinen Ansichten vor allem die Jugend und die aufsteigenden Mittelschichten an. Besonders bemüht er sich aber um die Unterprivilegierten, die traditionelle Wählerschaft seiner Konkurrenz. Immer wieder suchte er die Dalits auf, nahm mit ihnen die Mahlzeit ein, übernachtete sogar in ihren ärmlichen Behausungen. Er will so in das traditionelle Wahlverhalten entsprechend der Kastenzugehörigkeit eine Bresche schlagen. Zum Abschluss der Wahlkampagne unterstützte ihn übrigens seine jüngere Schwester Priyanka, politisch bisher nur im Hintergrund tätig. Ihr werden eine große Ausstrahlungskraft und Organisationstalent bescheinigt. Es scheint, dass die Gandhi-Familie ein weiteres Eisen im Feuer hat.
Doch wird das alles reichen? Die Regierenden in Uttar Pradesh verweisen natürlich auf riesige Korruptionsskandale führender Kongresspolitiker, auf eine selbstherrliche Bürokratie in Neu Delhi, die Nichtkongressregierungen in den Unionsstaaten benachteiligt. Sich ihrer Stärke bewusst, wird daran gearbeitet, die Dalit-Partei als gesamtindische Partei zu etablieren und die clevere Frau Mayawati letztendlich als Herausforderer für das Amt des Premierministers in Delhi aufzubauen. Immerhin verfügt die BSP im indischen Unterhaus über 24 Abgeordnete (alle von Uttar Pradesh gewählt), in anderen Unionsstaaten gibt es regionale Ableger dieser Partei. Bei geschätzten 240 Millionen hinduistischen und muslimischen Dalits in Indien, das ist ein knappes Viertel der Gesamtbevölkerung, wahrlich eine Vision!
In Indien mit seiner ungeheuren Vielfalt ist vieles im Fluss. Immer wieder tauchen neue politische Kräfte auf, etablierte dagegen verschwinden. Trotz des scheinbaren Chaos gibt es einen mainstream, der sich zwar langsam aber stetig vorwärts bewegt. Für den europäischen Betrachter klar zu erkennen an der wachsenden wirtschaftlichen Stärke und des zunehmenden internationalen Gewichts Indiens. Anfang März wird die Öffentlichkeit Indiens gespannt nach Lucknow, die Hauptstadt von U.P., blicken, wo die Ergebnisse der Landtagswahl bekannt gegeben werden. Ist es nur Tagesgeschehen in dem riesigen Land, das bald vergessen sein wird oder kann es zum Auslöser größerer politischer Prozesse werden?