15. Jahrgang | Nummer 2 | 23. Januar 2012

Reinhard Heydrich und die Wannsee-Konferenz

von Gabriele Muthesius

Am 20. Januar jährte sich zum 70. Male der Tag der Wannsee-Konferenz, ein Ereignis, das nach dem Zweiten Weltkrieg neben den Namen solcher Vernichtungslager wie Auschwitz, Birkenau, Majdanek oder Treblinka zu einem Synonym für die industrielle Ermordung von Menschen, in der Mehrzahl europäischer Juden, durch das faschistische Deutschland wurde. Fast wie auf das Ereignis hin terminiert erschien im Herbst 2011 die deutsche Übersetzung der ersten umfassenden wissenschaftlichen Biographie Reinhard Tristan Eugen Heydrichs, des Einberaumers und Gastgebers der Wannsee-Konferenz. Geboren wurde Heydrich am 7. März 1904 in Halle an der Saale und gestorben ist er am 4. Juni 1942 an den Folgen eines Attentats tschechischer Widerstandskämpfer in Prag. Die jetzige Biographie ist eine Arbeit des britischen Historikers Robert Gerwarth.
Heydrich entstammte einem kleinbürgerlich-arivierten, wohlhabenden Künstlerelternhaus – Vater und Mutter betrieben ein bis in den ersten Weltkrieg hinein gut gehendes Konservatorium in Heydrichs Geburtsstadt –, und er genoss in seiner Kindheit und Jugend eine entsprechende bildungsbürgerliche und natürlich auch musikalische Erziehung. Der finanzielle Niedergang des Elternhauses im Ergebnis der auf die Kriegsniederlage Deutschlands folgenden Krisenjahre sowie die politischen Wirren der Zeit machten aus Heydrich keinen Nazi der ersten Stunde wie andere Parteigänger Hitlers. Heydrich ging vielmehr zur Reichsmarine und schlug die Offizierslaufbahn ein. Mit der NS-Bewegung kam er erst nach seinem unehrenhaften Ausscheiden aus der Marine im Jahre 1931 – wegen einer Frauen-Affäre – in Berührung. Maßgeblichen Einfluss auf Heydrichs Hinwendung zur Nazi-Bewegung hatte seine spätere Frau, Lina von Osten, die bereits zu dem Zeitpunkt, als beide sich Ende 1930 kennen lernten, überzeugte Nazi-Anhängerin war. Entscheidend für Heydrichs rasanten Aufstieg in die Spitzenetage des Terrorapparates der Nazis wie auch für dessen systematischen Ausbau unter seiner Ägide war schließlich Heydrichs persönliche Bekanntschaft mit SS-Chef Heinrich Himmler, die auf den 14. Juni 1931 datiert. In ihren Memoiren schrieb von Osten 35 Jahre später über diese Begegnung: „Es war nicht nur mein Geburtstag. Es ist auch die Sternstunde meines Lebens, unseres Lebens.“ Die Chemie zwischen dem nur vier Jahre älteren Himmler, der ebenfalls einem bildungsbürgerlichen Haushalt entstammte, und Heydrich muss von Anfang an gestimmt haben. Himmler sollte später an Heydrichs Grab diesem für seine „unwandelbare Treue und für die wunderbare Freundschaft, die uns in diesem Leben verband“, danken. Am 31. Juni 1931 trat Heydrich der NSDAP bei – als Voraussetzung für seine Aufnahme in die SS, die am 14. Juli 1931 erfolgte.
Nach der Übernahme der Staatsmacht durch die Nazis Anfang 1933 wurde Heydrich zu einem der maßgeblichen Manager des politischen und physischen Terrors nach innen und der Völkermorde im europäischen Osten nach dem Überfall auf Polen und später die Sowjetunion. Heydrich als hervorragender Organisator mit ausgeprägtem Durchsetzungsvermögen und später Chef des so genannten Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) war nicht nur die rechte und die linke Hand Himmlers, sondern ob seiner im Vergleich mit den anderen nazistischen Führungschargen deutlich überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten zum nicht geringen Teil auch dessen Hirn. Bereits seit 1933, so Gerwarth, fungierte Heydrich de facto als Himmlers Stellvertreter; einen offiziellen gab es nicht.
Bis 1939 hatte Heydrich mittels der ihm unterstellten Sicherheitsorgane maßgeblichen Anteil an der inneren Konsolidierung der Nazi-Herrschaft durch nachhaltige Ausschaltung ihrer politischen Gegner durch Terror, Inhaftierung, auch bereits Ermordung sowie an der Intensivierung des flächendeckend praktizierten Antisemitismus bis hin zur von den Nazis so benannten „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938. Gerwarth zeichnet diese Jahre sehr detailliert und quellenreich nach.
Mit Kriegsbeginn stellte Heydrich durch die Bildung von zunächst fünf, später sieben so genannten SS-Einsatzgruppen, die der in Polen einfallenden Wehrmacht auf dem Fuße folgten, die Weichen dafür, dass Massenmorde an politischen Gegnern und Juden – anfänglich überwiegend durch Erschießungen, wobei Einsatzgruppen, Wehrmacht, Polizeieinheiten und andere Funktionselemente des Besatzungsregimes in der Regel Hand in Hand arbeiteten, – praktisch von Anbeginn der Aggression im Osten zum Alltag des Krieges gehörten. Schon zwischen September und Dezember 1939, so vermerkt Gerwarth, waren über 40.000 polnische Opfer zu verzeichnen, und insbesondere nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nahm die physische Ausrottung von Juden immer systematischere Züge an. Allein bis Ende 1941, so Gerwarth, waren in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion bereits zwischen 500.000 und 800.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet worden – allein beim Massaker von Babi Jar nahe Kiew am 29. und 30. September 1941 über 33.000, denen bis Mitte Oktober 20.000 weitere folgten.
Die Vernichtung der Juden Europas war, wie Gerwarth darstellt, also bereits angelaufen, als die Wannsee-Konferenz Anfang 1942 stattfand. Zur Konferenz selbst leitet Gerwarth unter anderem mit folgenden Bemerkungen über: „Am 20. Januar 1942, einem verschneiten Dienstagmorgen, begrüßte Heydrich vierzehn hohe Ministerialbeamte, Würdenträger der Partei und hochrangige SS-Führer in einer ehemaligen Industriellenvilla am Berliner Wannsee, die seit Oktober 1941 als Gästehaus der SS diente.
[…] Zunächst ging es darum, wie Heydrich in seiner Einladung Ende November geschrieben hatte, ‚unter Beteiligung der in Frage kommenden anderen Zentralinstanzen alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für eine Gesamtlösung der Judenfrage zu treffen’. […]
Heydrichs Gäste an diesem Morgen waren hochrangige und größtenteils akademisch gebildete Männer, mehr als die Hälfte hatte einen Doktorgrad erworben, hauptsächlich in Jura. Viele der Anwesenden nahmen in der Hierarchie des Dritten Reiches einen vergleichbaren Rang auf der Staatssekretärsebene ein wie Heydrich, auch wenn keiner eine Machtfülle wie der Gastgeber besaß. […]
Aus seinem eigenen Amt hatte Heydrich zwei für die operative Judenverfolgung zentrale Mitarbeiter hinzugebeten, nämlich Gestapo-Chef Heinrich Müller und seinen ‚Experten’ für Judenfragen, Adolf Eichmann.“
In der historischen Bewertung der Wannsee-Konferenz seit Kriegsende und bis in die 90er Jahre hatte der Tenor dominiert, die Zusammenkunft mit einer quasi Beschlussfassung über den Holocaust gleichzusetzen. Demgegenüber hatte der Historiker Eberhard Jäckel 1992 in einem viel beachteten Aufsatz in der Zeit geschrieben: „Das Merkwürdigste an jener vielgenannten Zusammenkunft, die erst nach dem Kriege die Bezeichnung Wannsee Konferenz erhielt, ist, daß man nicht weiß, warum sie stattgefunden hat. Die in der Öffentlichkeit noch immer verbreitetste Erklärung, es sei dabei die Endlösung der Judenfrage, also der Mord an den europäischen Juden, beschlossen worden, ist mit Sicherheit auch die unzutreffendste. Im Führerstaat wurden derart wichtige Beschlüsse überhaupt nicht in Besprechungen getroffen, und schon gar nicht von Beamten. Übrigens steht auch im Protokoll nichts von einem solchen Beschluß. Die Endlösung konnte aber auch deswegen nicht ‚beschlossen’ werden, weil sie bereits in vollem Gange war.“ Der von Heydrich erfolgte Zweck der Zusammenkunft habe vielmehr darin bestanden, die Federführung der SS bei der Judenvernichtung gegenüber anderen beteiligten Behörden und Institutionen sowie seinen ganz persönlichen Führungsanspruch in dieser Sache zu manifestieren. Zum Abschluss seiner Argumentation zitierte Jaeckel eine Einlassung Eichmanns während dessen Jerusalemer Prozess: „Jawohl, stimmt! Dies hier war eine Konferenz, wo Heydrich seine Ermächtigung bekanntgab.”
Während Jäckel seinerzeit einen Historikerstreit auslöste und sich unter anderem mit dem Vorwurf seines Kollegen Joachim Fest konfrontiert sah, dieserart die Bedeutung der Wannsee-Konferenz relativiert und damit quasi die Leugner des Holocaust aufmunitioniert zu haben, ist seine Bewertung heute Stand der Wissenschaft.
Heydrich, so Gerwarth, hatte die Konferenz mit dem erneuten Hinweis eröffnet, „dass Göring ihn mit der ‚Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage’ beauftragt habe. (Dies hatte Heydrich bereits in seiner Einladung zu dieser Zusammenkunft zum Ausdruck gebracht.) Die Besprechung diene allein dem Zweck, in grundsätzlichen Fragen Klarheit zu schaffen. Der Reichsmarschall erwarte von ihm einen ‚Entwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Belange im Hinblick auf die Endlösung der europäischen Judenfrage’. Dies erfordere auch und nicht zuletzt eine ‚Parallelisierung der Linienführung’ bei der Behandlung der ‚Judenfrage’ durch unterschiedliche Instanzen des Dritten Reiches. Heydrich stellte unmissverständlich klar, wer bei dieser ‚Parallelisierung’ den Ton angeben würde […] ‚Die Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage’, heißt es im Protokoll, liege […] beim Reichsführer SS und dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, also bei Heydrich. […]
Nach dieser allgemeinen Einleitung erläuterte Heydrich seinen Zuhörern das Ausmaß der Aufgabe, die vor ihnen lag. Über 11 Millionen Juden (aus ganz Europa, einschließlich neutraler Länder – G.M.) […].“
Und Gerwarths Fazit: „Insgesamt ist die historische Bedeutung der Wannsee-Konferenz für die Geschichte des Holocaust lange überschätzt worden. Im Hinblick auf die Entfesselung des europaweiten Genozids an den Juden markierte sie nicht den Moment einer grundlegenden Entscheidung, die mörderischen, vor allem gegen die sowjetischen Juden gerichteten Maßnahmen zu einem allumfassenden Völkermord an allen europäischen Juden auszuweiten. Keiner der Anwesenden, auch nicht der mächtige Chef des RSHA, hätte eine solche Entscheidung allein und ohne Hitlers ausdrückliche Zustimmung treffen können. Stattdessen spiegelte sich in den Diskussionen der anwesenden Vertreter aller mit der ‚Judenfrage’ befassten Zentralbehörden ein sich seit dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion abzeichnender Konsens, dass das ‚Judenproblem’ nur mit radikalen Mitteln gelöst werden könne. Auf der Grundlage dieses Konsenses sollten in den folgenden Monaten Entscheidungen von Hitler und der SS-Führung getroffen werden, die das Jahr 1942 zu einem der furchtbarsten Jahre systematischer Massenmorde in der Geschichte machen sollten. Bis zum März 1942 waren weniger als zehn Prozent der bei Kriegsende zu beklagenden Opfer des Holocausts umgekommen, die meisten von ihnen in der Sowjetunion. Bis zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht die Zahl der Juden, sondern vor allem die der toten sowjetischen Kriegsgefangenen, die infolge der bewussten Vernachlässigung […] in improvisierten Lagern in die Millionen ging. Dagegen sollten von Mitte März 1942, als das Vernichtungslager Belzec seine Arbeit aufnahm, bis Mitte Februar 1943 mehr als die Hälfte der fast 6 Millionen Juden ermordet werden, die während des Zweiten Weltkriegs den Nationalsozialisten zum Opfer fielen.“
Nach dem Krieg ist Heydrich nicht selten als „Todesgott“, das „Gesicht des Bösen“, „die blonde Bestie“ und ähnliches dämonisiert und dadurch mit dem Nimbus des Solitären versehen worden. Das war Teil – oder spielte zumindest nolens volens – der speziellen Art der Vergangenheitsbewältigung in der alten Bundesrepublik von den späten vierziger bis Mitte der Achtzigerjahre Jahre in die Hände: Ja, so einen gab es – das war ja auch kaum zu leugnen –, aber eben nur diesen und ein paar andere. Dass der so tot war wie Hitler, Himmler, Goebbels und die wenigen in Nürnberg und abderswo Gehenkten – umso besser. Das exkulpierte die vielen anderen Rädchen und Räder im Getriebe des industriellen Massenmordes.
Umso mehr aber sind Robert Gerwarths Anspruch und die Tatsache, dass seine Biographie diesem gerecht wird, würdigend zu unterstreichen: „Bei der Annäherung an das schwierige Thema wurde ein Ansatz gewählt, der sich am besten als ‚kalte Empathie’ beschreiben lässt: Es ist der Versuch, Heydrichs Leben mit kritischer Distanz zu rekonstruieren, ohne jedoch der Gefahr zu erliegen, die Rolle des Historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegsverbrecherprozess zu verwechseln. Die zentrale Aufgabe des Historikers ist es, Handlungsmotivationen, Strukturen und Kontexte zu erklären, weshalb ich mich bemüht habe, den teilweise reißerischen Ton früherer Biographien zu vermeiden. Heydrichs Handlungen, seine Ausdrucksweise und sein Verhalten sprechen ohnehin für sich und offenbaren uns einen […] genozidalen Massenmörder aus der Mitte der deutschen Gesellschaft.“

Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie, Siedler Verlag, München 2011, 478 Seiten, 29,99 Euro