14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

„Roter Sturm…“ wirbelt Staub auf

von Gerd Kaiser

Reinhard Lettaus kurzer Text mit dem langen Titel trägt den Untertitel „Romanversuch“ zu Recht. Niedergeschrieben wurde er vermutlich zwischen 1947 und 1949. Sein junger Verfasser setzte damit die bereits in Erfurt begonnene literarische Arbeit fort, wo die biografischen und literarischen Anfänge Lettaus liegen. Da war er (Jg. 1929) Internatsschüler auf Schloss Bieberstein im Hessischen, wohin es die Familie Lettau vom sogenannten roten Sturm über Thüringen verweht hatte. Obwohl Lettau noch in den 50er Jahren, nunmehr Doktorand in Harvard, am Text gearbeitet hat, blieb dieser unvollendet. Man könnte es mit der Feststellung bewenden lassen: „Versuch misslungen“, und im sachkundigen „Nachsatz“ verweist Christina Onnasch auf unzureichende erzählerische Mittel des jungen Autors, auf unübersehbare stilistische und grammatikalische Schwächen des Textes.
Dieser ist jedoch nicht nur ein frühes Zeugnis literarischer Anfänge. Er ist ein Zeitbild, in dem sich des Autors Lettau (und nicht nur allein dessen) damalige Weltsicht manifestiert. Die meisten seiner literarischen Handlungsträger haben in der von ihm gewählten historisch kurzen Zeit zwischen Frühjahr 1945 und 1946/47 tatsächlich auf der politischen Bühne Thüringens agiert, ausgenommen wenige fiktive Personen, wie der als sowjetischer Agent und Mordgeselle geführte Klaus Nowag. Die seinen handelnden Personen im Zeit- und Schlüsselroman „angedichteten“ Gespräche, Gedanken und Gefühle widersprechen den Ergebnissen differenzierter historisch-biografischer Forschungen. Und das wird für einen zeitgenössischen Schlüsselroman zu einem inhaltlichen und gestalterischen Problem. Auch die dankenswerterweise von Christina Onnasch beigefügten und alphabetisch geordneten Kurzbiografien können das Kraut nicht fett machen.
In Lettaus einseitiger Figurenzeichnung  „rauft“ Heinrich Hoffmann, der unter anderem 1924-1933 dem Reichsbanner zur Verteidigung der Weimarer Republik angehört hat, auch die Interessen von Kriegsopfern des Ersten Weltkriegs wahrnahm und  für den unter anderem 1933-1935 widerständiges Verhalten gemeinsam mit seinen politischen Freunden der SPD belegt ist, „seine ewig schmutzigen Haare“, wie der frühere Friseurgehilfe einstmals „anderen“ die schmutzigen Haare „gerauft“ habe.
Der namentlich nicht genannte sowjetische General – vermutet werden kann, dass es sich um Iwan Kolesnitschenko handelt – ,der seine Gründe gehabt hatte, als Verteidiger von Stalingrad bis nach Thüringen zu marschieren, wo er als Chef der SMA amtierte, „setzt“ im Gespräch mit seinem deutschen Gesprächspartner nicht mehr und nicht weniger als „ein asiatisches Lächeln in sein Gesicht“.
Folgt man zwei zeitgenössischen Belegen in der Tageszeitung „Thüringer Volk“ (22. und 28. Februar 1947), besuchte Kolesnitschenko Rudolf Paul gleich zweimal an dessen Krankenlager und „übermittelte […] Grüße vom Marschall Sokolowski (dem damaligen Chef der SMAD) und „verbrachte“ am Krankenlager Pauls jeweils „einige Stunden in angeregter Unterhaltung.“
Dem eben aus der Emigration zurückgekehrten Theodor Plivier, der die Kunstform des zeitgenössischen Schlüsselromans wie sein Buch „Stalingrad“ beweist, den Lettau in der Tageszeitung „Thüringer Volk“ gelesen haben mag, vollendet beherrschte, wirft der Anfänger vor, dass dieser sowohl als Schriftsteller als auch als Landtagsabgeordneter aktiv war.
Das von Lettau gezeichnete Bild Sergej Tjulpanows, einflussreicher Chef der SMAD-Informations-Verwaltung wird der vielseitigen und dabei auch schillernden Persönlichkeit dieses Mannes ebenfalls nicht im entferntesten gerecht. Im öffentlich und konfrontativ geführten Gespräch des Ministerpräsidenten des Landes Thüringen Rudolf Paul wirft dieser seinem Gegenüber in noch nicht abgelegter Herrenmenschenmanier vor, eine „schlechte Figur“ zu machen: „Mit ihrer Politik, Herr Oberst, reüssieren Sie vielleicht in Osteuropa, vielleicht noch auf dem Balkan. Auf dem Parkett Westeuropas geben Sie eine schlechte Figur ab. Da fallen Sie dauernd hin.“… August Frölich, Mann des Widerstandes bereits in schwieriger Zeit zu Anfang der 20er Jahre, wird mit dem nicht eben eleganten Wortspiel abqualifiziert, er habe mit „fröhlicher Stimme“ dem „Roten Sturm über Thüringen“ gedient.
Man kann dem jungen Mann von damals zu Gute halten, dass er auch in diesem Fall nicht wusste, wer dieser August Frölich war: Bereits 1923 hatte dieser als Staatsminister (er leitete die Thüringer Landesregierung, eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und Kommunisten) einen Sperrriegel an Thüringens Grenzen gegen Bayern hin errichten lassen, in dem Landespolizei und Arbeiterwehren die Hitleranhänger zurückschlugen, die nach dem Münchener Putsch im Verein mit putschenden Reichswehrtruppen via Thüringen auf Berlin vorrücken wollten. Dies übrigens zu einer Zeit, als Paul noch beziehungsweise bereits ein subalterner Provinzbeamter war. Nach 1945 diente August Frölich, nicht lange nachdem er aus Gestapohaft entkommen war, seinem Land Thüringen als Landtagspräsident.
Dies alles und viel mehr hätte der Romanschreiber wissen können und wissen müssen, bevor er die Arbeit am Roman aufnahm. Nicht um zu zitieren und mit Fußnoten Quellenverweise anzuführen, sondern um seinem literarischen Urteil eine gesicherte Grundlage geben zu können. Nicht wissen konnte er beispielsweise, dass im Hauptstaatsarchiv zu Weimar, knapp 100 Aktenbände lagern, in denen die Dolmetscherdienste des Ministerpräsidenten Rudolf Paul Wort für Wort die Gespräche protokolliert hatten, die zwischen ihm und seinen Ministern mit den Vertretern der Besatzungsmacht geführt worden sind.
Der Verfasser dieser Zeilen erklärt sich den von keiner Kenntnis getrübten (von den literarischen Qualitäten gar nicht zu reden) bestimmenden Grundton des Romans aus den ideologischen Scheuklappen, die den Blick des Autors verstellten. Mir will scheinen, auch wenn er die Gesprächsprotokolle und dazu die ebenfalls in reichem Maße vorhandenen Akten zur Geschichte Thüringens gekannt hätte, würde er damals wohl doch bei seiner Darstellung geblieben sein. Sein Versuch reflektiert die Weltsicht einer Schicht, die mit ihrem Latein am Ende war und sich jedwedem differenzierten Urteil verschloss.
So handelt es sich bei diesem Relikt um ein frühes und eines der nicht seltenen Zeitzeugnisse für den Ungeist des kalten Krieges, von dem Reinhard Lettau sich in späteren Jahren gelöst hat. Und gerade deswegen verwiesen ihn die Regierungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 60er Jahre als unerwünschten Ausländer (er hatte die Staatsbürgerschaft der USA erworben) seines Heimatlandes, das er 1947 freiwillig verlassen hatte.

Reinhard Lettau: Roter Sturm über Thüringen – Deutschlands Herz wird rot. Ein Romanversuch. Bearbeitet und mit einem Nachsatz von Christina Onnasch, Wartburgverlag Weimar, Weimar 2011, 84 Seiten, 11,- Euro