von Gisela Reller
Wer kennt ihn nicht, den berühmtesten Gefangenen Russlands: Michail Chodorkowski. Der ehemalige Funktionär der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol wurde in den chaotischen neunziger Jahren – nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken – Milliardär. Er hat seine Milliarden in Öl gemacht.
Chodorkowskis Buch „Briefe aus dem Gefängnis“ beginnt mit rührenden Briefzeilen an die Mutter: „Meine gute, liebe Mamulja“, bittet der Sohn, „Du musst nicht nur aushalten, bis ich zurückkomme, sondern mir dabei helfen, das, was in diesen Jahren zerstört worden ist, wieder aufzubauen. Ich hoffe sehr auf Dich.“ Was ist „in diesen Jahren“ für Chodorkowski zerstört worden? Alles! Seine mit „vierzehnstündiger Arbeit täglich“ und sicherlich nicht immer mit ganz legalen Mitteln (Was war in den Neunzigern legal, was nicht?) aufgebauter Ölkonzern Jukos, das Leben der Eltern, seiner Frau und seiner vier Kinder.
„An Chodorkowski klebt Blut“, soll Ministerpräsident Putin gesagt haben, „der Dieb gehört hinter Gitter.“ Und auch die Worte, er solle „die Schleimsuppe“ der Gefängnisse „löffeln“, werden Putin zugeschrieben.
„Ich bin“, sagt Chodorkowski von sich, „keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch mit Ideen.“ In dem Kapitel „Warum ich dieses Buch geschrieben habe“ kann man die Karriere des 1963 in Moskau Geborenen nachverfolgen: „Ich komme aus einer ganz normalen sowjetischen Ingenieursfamilie, habe eine ganz normale sowjetische Schule besucht, habe studiert (Chemie und Volkswirtschaft) und bin nur durch Zufall mitten in die revolutionären Umwälzungen der neunziger Jahre geraten und zu einem Mitgestalter des neuen russischen Staates geworden.“ 1989 hat Chodorkowski eine der ersten Privatbanken gegründet, stand als Berater der ersten russischen Regierung Boris Jelzin nahe, hat zusammen mit dessen Leuten 1991 das Weiße Haus verteidigt, gehörte 1992 zum Beraterstab Jelzins, war 1993 stellvertretender Energieminister und gehörte 1996, während der schwierigen Wahlen wiederum zu Jelzins Mannschaft. Er habe, schreibt er, erst allmählich gelernt, was Demokratie wirklich heiße, was eine moderne Wirtschaft ausmache, wie man als Bürger seine Verantwortung wahrnehmen und sich auch für soziale Belange einsetzen müsse.
1997 wurde er Vorstandsvorsitzender des Ölkonzerns Jukos. Mit großer Dankbarkeit denke er in diesem Zusammenhang an die Mitglieder des Konzernvorstandes von Jukos. Im Aufsichtsrat von Jukos saßen im Jahre 2002 drei Franzosen, der Büromanager war Norweger, der Vizepräsident Amerikaner. „Sie haben mir weit mehr vermittelt als ein Verständnis für globale Wirtschaft, internationales Finanzwesen und gutes kooperatives Management.“ 2001 initiierte Chodorkowski die Stiftung „Offenes Russland“, die in der etwa vierzig Kilometer von Moskau entfernten Ortschaft Koralowo ein Internat für bedürftige und obdachlose Kinder unterhält, das derzeit von seinen Eltern verwaltet wird. Seine Auslassungen zur „Chancengleichheit der Kinder Russlands“ haben mich sehr angerührt: „Ich werde alles tun, was ich kann, damit bei uns in Russland alle Kinder die gleichen Chancen bekommen…Für dieses Ideal würde ich mein Leben geben.“
Chodorkowski wollte schon als Kind Betriebsdirektor werden. Als er dann Betriebsdirektor, sprich Ölmagnat des mächtigen Jukos-Konzerns ist, stellte er fest, dass Macht und Geld nicht alles sind und erwog, sich 2008 von diesem Posten zurückzuziehen. Doch: Am 19. Februar 2003 fand eine öffentliche Konferenz bei Präsident Putin statt, bei der es vor allem um das Thema Korruption ging. Im Auftrag des Russischen Unternehmer- und Industriellenverbandes hielt Chodorkowski „eine sehr polemische, ehrliche Rede…“ Schon im März begann die Strafverfolgung, er wurde zu Vernehmungen vorgeladen und im Juni festgenommen – wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Diebstahl von Ölfördermengen in Sibirien und Moskau. „Man drängte mich förmlich dazu, das Land zu verlassen, doch ich lehnte eine Ausreise öffentlich ab.“
2006 las ich in der „Berliner Zeitung“ ein langes Interview mit Jurij Schmidt – dem bekannten russischen Menschenrechtsanwalt – über Antisemitismus in Russland, den neuen Stalinkult und seinen „berühmten jüdischen Mandanten Michail Chodorkowski“. War der Eingesperrte bis dahin für mich einer von den stinkreichen Oligarchen, die ihr Geld wer weiß wie gemacht haben, so verfolge ich seit jenem Gespräch mit Sympathie, was mit und um Chodorkowski geschieht; denn Jurij Schmidt, ein Überlebender der Leningrader Blockade, bekennt dort, dass er für dessen Verteidigung den Rest seines Lebens opfern würde.
„Meine Verhaftung“, schreibt Chodorkowski, “und die darauf folgenden Strapazen haben viel verändert, sowohl in mir selbst als auch an dem Bild, das sich der gebildete Teil der russischen Gesellschaft von mir gemacht hatte.“ Davon zeugt in diesem Buch auch der Briefwechsel mit Ljudmila Ulitzkaja, eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Russlands. Sie gesteht: „Normalerweise mag ich die Reichen nicht … Aber ich habe ein sehr feines Gespür für soziale Gerechtigkeit.“ Im November 2008 schreibt sie an Chodorkowski: „Sie hoben sich für mich von den anderen Oligarchen ab, seit ich in einer Strafkolonie für Minderjährige einen von Ihnen finanzierten Computerraum entdeckte, und als ich später auf Ihre Stiftung ‚Offenes Russland‛ stieß. Vor einigen Jahren, Sie waren bereits verhaftet, war ich im Lyzeum Koralowo, lernte Ihre Eltern kennen und fand eine unglaublich wundervolle Insel für Waisen und Halbwaisen vor. Dergleichen hatte ich noch nirgendwo in Europa gesehen.“
Ein weiterer berühmter Autor, dessen Briefwechsel mit Chodorkowski abgedruckt ist, ist Boris Akunin, Philologe, Essayist, Romanautor, in dreißig Sprachen übersetzt, der mit seinem Detektiv Erast Fandorin und der Nonne Pelagia Kultfiguren schuf. Er stellt Chodorkowski die Frage nach dem Verhalten seiner Familie. Chodorkowskis Antwort: „Meine Frau und ich sind seit über zwanzig Jahren zusammen, und wir haben schon einiges hinter uns. Das ganze Jahr 2004 betete ich nur darum, dass die Familie durchhält. Wenn auch noch die Familie zerbrochen wäre, das wäre einfach entsetzlich gewesen. Meine Familie steht immer hinter mir. Und nicht nur sie. Vor über zwanzig Jahren habe ich mich von meiner ersten Frau getrennt. Mein Sohn Pavel ist inzwischen erwachsen, hat studiert und ist berufstätig. Er, meine Exfrau und ihre Mutter, sie haben mir all diese Jahre geschrieben und mich und meine Eltern unterstützt. Ich habe Glück mit den Menschen.“
Sowohl der geistreiche Briefwechsel mit der Ulitzkaja, Akunin und dem Science-Fiction-Schriftsteller Boris Strugazki als auch die für russische Medien geschriebenen ideenreichen Beiträge von Michail Chodorkowski – die ihm in der Regel Einzelhaft einbrachten – und der Essay von Erich Follath, der den Gefangenen persönlich kennt, lesen sich außerordentlich spannend. Follath: Ist Chodorkowski „wirklich die strahlende Ikone der Freiheit, der Märtyrer, zu dem ihn seine Bewunderer machen oder doch eher ein reichlich spät geläuterter Raubtierkapitalist, womöglich zum Teil sogar zu Recht von der Staatsmacht abgestraft?“
2003 verhaftet, war Michail Chodorkowski in mehreren Prozessen, zuletzt im Dezember 2010, zu vierzehn Jahren Lager verurteilt worden. Im Juni 2011 hofften die Anhänger Chodorkowskis auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – vergeblich, denn, so das Urteil, Chodorkowski habe nicht ausreichend beweisen können, das gegen ihn ein politisch geführter Prozess geführt wurde. Chodorkowski wird – wenn nicht noch ein Wunder geschieht – bis 2016 im sibirischen Straflager von Krasnokamensk einsitzen. Inzwischen 48 Jahre alt, sieht er älter aus, ist sehr mager geworden und ergraut.
Schon vor der diesjährigen Berlinale macht ein Film von sich reden: der Dokumentarfilm „Der Fall Chodorkowski“ von dem Berliner Regisseur mit russischen Vorfahren Cyril Tuschi, der für diesen Film fünf Jahre recherchierte und Russisch lernte.
Vielleicht sollte Michail Chodorkowski nach seiner Freilassung in die Politik gehen… Ich freue mich, noch erlebt zu haben, dass ein Farbiger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Ob ich noch erlebe, dass ein russischer Jude Präsident von Russland wird?
Michail Chodorkowski, Briefe aus dem Gefängnis, Aus dem Russischen von Birgit Veit und Ganna-Maria Braungardt, Albrecht Knaus Verlag, München 2010, 288 Seiten, 19,99 Euro
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Schlagwörter: Gisela Reller, Jukos, Jurij Schmidt, Ljudmila Ulitzkaja, Michail Chodorkowski