von Eckhard Mieder
Ich lese zuviel. Zu viele Krimis, zu viele Zeitungen, das Fernsehprogramm, Fahrscheine, Kassenzettel und den Zettel, der neulich in Baden-Baden unter dem Scheibenwischer klemmte: „Sie haben sich strafbar gemacht! Die Einfahrt in diese Straße ist nur Anliegern erlaubt. Bei Wiederholung erfolgt Anzeige. Die Anlieger“. Soviel lese ich, es kracht nur so im Kopf. Es ist ein paar Tage her, da las ich: „Es ist eine banale historische Wahrheit, dass die Geschichte sich beschleunigt“. Meiner Ansicht nach ist es eine banale historische Wahrheit, dass der Mensch auf zwei Beinen läuft – nicht alle, das ist historisch auch wahr –, die Geschichte hingegen weder schneller noch langsamer. Was hätte sie von ‚langsamer’ oder ‚schneller’? Trainiert sie für die Olympischen Spiele im Sternkreis Orion, wo sie auf andere Geschichten trifft und sich misst in der Disziplin Journalistischer Eiertanz & Firlefanz?
Vom „arabischen Frühling“ las ich auch, von „Revolutionen“, und dass die „Welt sich schneller dreht“. Das wiederum ist länger her als ein paar Tage. Es hat sich inzwischen in den Redaktionen herumgesprochen, dass Arabien einerseits nach poetischer Arabeske schreit, die Düfte des Orients mischen sich in den Mief des Okzidents, andererseits ist eine Revolution ein definierter Begriff.
Aber Definitionen, weiß ich mittlerweile, sind ja nun das Letzte, das wir brauchen beim Stochern im Nebel und beim ständigen Behaupten, das Klackklack der Stange habe den Gral, die Goldader, das Nonplusultra getroffen: nebbich die Wahrheit des Seins. Oder wenigstens die Berechtigung unserer Kriegstreiberei und Geschäftemacherei. Den Nibelungenschatz der Nibelungentreue zu einer Gegenwart, die schon vorbei ist, kaum hat sie begonnen… Schade ist schon, dass aneinander vorbeipalavert wird und sich niemand an die chinesische Weisheit – wenn es denn eine chinesische ist – hält: Jedes Ding hat drei Seiten. Eine, die ich sehe, eine, die du siehst, eine, die wir beide nicht sehen. Die dritte Seite, die wär’s. Die rauszukriegen in vorurteilsfreier Debatte. Dass es so wäre und so ist, / das wünscht sich fromm der Atheist.
Freilich, nicht unbedingt ist die „Revolution“, wie es mir Frau Paschke, meine Geschichtslehrerin in der fünften Klasse beibrachte, ein Pudding. Der nebbich wird umgestürzt, das Unterste wird nach oben gekehrt, das Oberste nach unten. Das Heiße kühlt dann ab, und der Pudding ist noch immer ein Pudding, allerdings ein anderer. Das leuchtete dem Kinde ein. Heute nicht mehr so. Obwohl was dran ist. Und ich dachte mir, als ich von „Revolutionen“ hörte und las, kaum, dass sich Plätze mit Demonstranten füllten und Polizeiknüppel sausten und Schüsse fielen –, ich dachte bei mir, dass es vielleicht ein Miss(be)griff ist.
Auch dachte ich, dass es zu verstehen ist, wenn ein Journalist vom anderen Journalisten abschreibt, und euphorisch und empathisch wollen wir Menschen des Westens sofort sein. Und ganz gleich und sofort und nicht erst bald oder nach einiger Überlegung wollen wir von „Demokratie“ und „Freiheit“ und „Menschrechten“ lauthals in die Nacht und in den Tag dieses luftigen Planeten rufen. Ist doch (stern)schnuppe, wer da unten und aus welchen Gründen und gegen wen revoltiert. Begriffe gehen da koppheister über Bord oder werden als Patronen, knackknack, ins Magazin der rhetorisch-automatischen Handfeuerwaffe geladen. Aber dann wieder entschleunigt sich die Geschichte so blöde und so komisch. Oder die Welt dreht sich wieder langsamer. Saublöde und saukomisch. Es ist jedenfalls eine Weile nichts vom „arabischen Frühling“ zu hören – ist ja auch Sommer und Herbst und gleich Winter –, das Wort „Revolution“ ist aus dem Sprachgebrauch verschwunden; immerhin. Der ganze Kram da unten in Arabien landet auf dem Basar respektive auf den Propaganda-Flohmärkten des Westens.
Die Euphorie machte den Formel-1-Rennen Platz. Die Bundesliga fing wieder an. Spielt Ballack noch Fußball oder schon Golf? Hatten wir nicht eben den zehnten Jahrestag von Nineeleven. Lady Gaga ist weniger gaga, als wir so allgemein annahmen; aber wer das glaubte, war selber gaga. In welcher Finanz-, Staats-, Sinnkrise stecken wir grad?
Hallo, hallo! Erde ruft Ewigkeit! Die Geschichte beschleunigt sich, die Welt dreht sich schneller, ich habe Mühe mich am Balkon-Geländer festzuhalten und nicht den Topf mit den Zier-Mandarinen umzureißen, um nicht zentrifugal ins All geschleudert zu werden. Zu den Olympischen Spielen da irgendwo.
Was ist eine sich beschleunigende Geschichte beziehungsweise eine sich schneller drehende Welt? Was ist eine Revolution? Wenn jeder Gegenwarts-Verlauf, wenn jede überraschende Wendung, wenn jeder Protest Geschichte beschleunigt oder Revolution ist, dann muss ich mich nicht mal mehr vor mir selber dafür entschuldigen, dass ich in meinen Garten gehe und mir die Welt am Arsch vorbeigeht. Ob schneller, schneller, am schnellsten – ist echt Grillwurscht.
Da sammle ich Äpfel ein, pflücke Brombeeren und verscheuche mit einer Tageszeitung die Wespen. Obwohl ich Wespen mag. Tot schlage ich sie nicht. Ich schaue ihnen gern zu, wie sie gelbschwarz durch die Luft schwirren und sich festrüsseln an den Weinbeeren, die erstaunlich schnell zu Rosinen werden, wenn sie ihren Saft verlieren.
Schlagwörter: arabischer Frühling, Eckhard Mieder, Entschleunigung, Revolutionen