14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Zu nahe an der Macht

von Jens Berger

Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr 30 Milliarden Euro Steuern in betrügerischer Absicht hinterzogen werden. Einem Heer von 86.000 Steuerberatern stehen gerade einmal 2.600 Steuerfahnder entgegen. Jeder dieser Steuerfahnder erwirtschaftet im Schnitt jedes Jahr eine Million Euro für den Fiskus. Wer nun denkt, dass die Steuerfahndung, die gleichzeitig Verbrechen bekämpft und dem Staat Milliardeneinahmen verschafft, politische Protektion genießen würde, der irrt. Im Gegenteil – wie die Hessische Steuerfahnder-Affäre zeigt, wendet sich der Staat manchmal sogar mit allen nur denkbaren Mitteln gegen erfolgreiche Staatsdiener, die der Macht zu nahe kommen. Frank Wehrheim war einer dieser Frankfurter Steuerfahnder, die der Macht zu nahe gekommen sind. Sein Buch „Inside Steuerfahndung“ ist zugleich ein anekdotenreicher und erschreckender Einblick in das weitgehend unbekannte Feld der Steuerfahndung sowie in die hessische Steuerfahnder-Affäre, es ist gleichzeitig auch eine Abrechnung mit der Politik.
Wenn Frank Wehrheim am Beginn seines Buches feststellt, dass Steuerhinterziehung in Deutschland gesellschaftsfähig ist, muss man ihm leider zustimmen. Die Fälle, die Wehrheim in seinem Buch vorstellt, haben jedoch nichts mit kleinen Schummeleien, wie beispielsweise dem großzügigen Aufrunden der Entfernungskilometer bei der Pendlerpauschale, zu tun, sondern mit Straftaten, bei denen es um mindestens sechsstellige Summen geht und die größtenteils mit einer hohen kriminellen Energie begangen werden. Die Täter, denen Wehrheim in seiner 28-jährigen Tätigkeit als Steuerfahnder begegnet ist, haben vordergründig nur eins gemeinsam – sie gehören der Gruppe der Top-Verdiener an und halten es für selbstverständlich, Gesetze zu brechen und damit die Gemeinschaft zu schädigen.
Streng genommen hat Frank Wehrheim zwei Bücher geschrieben. Während er in der zweiten Hälfte des Buches ausführlich auf die hessische Steuerfahnder-Affäre eingeht, beschreibt er in der ersten Hälfte die alltägliche Routine der Steuerfahndung. Anekdotenreich schildert er dabei zahlreiche Fälle von mehr oder weniger durchdachten Betrügereien einer wohlsituierten Minderheit. Als Beispiel letztlich doch gescheiterter Fall sei der eines mittelständischen Handwerksmeisters genannt, der jahrelang seine Bücher frisiert hatte und dessen Frau ihn bei der Steuerfahndung anzeigte, als er mit einer jüngeren Geliebten durchbrannte. Auch wenn man vielleicht ein wenig Mitleid mit dem untreuen Schwerenöter haben mag, sollte man auch bedenken, dass er insgesamt eine dreiviertel Millionen Euro an den Fiskus nachzahlen musste. Oder um es anders auszudrücken: Die „doppelte Buchführung“ des Handwerksmeisters hatte immerhin das Volumen, um davon über Jahre eine volle Lehrerstelle zu finanzieren.
Dank Wehrheims zahlreicher Anekdoten, wie beispielsweise die von der hysterischen Ehefrau, die vor seinen Augen die Buchhaltung „verspeiste“, stellt die erste Hälfte des Buches ein kurzweiliges und unterhaltsames Psychogramm verschiedenster Steuerstraftäter dar. Über die NTG-Affäre (das hessische Unternehmen NTG half Pakistan bei dessen Atomprogramm), die COOP-Affäre, die Flick-Affäre und die hessische Parteispenden-Affäre bekommen Wehrheims Schilderungen jedoch auch einen zunehmend politischen Hintergrund, der schließlich in der hessischen Steuerfahnder-Affäre gipfelt.
Parallel zur fortschreitenden Politisierung der beschriebenen Fälle schildert Frank Wehrheim sein zunehmend schwindendes Vertrauen in die Politik und den Rechtsstaat. Was geht in einem Staatsdiener, der das Gesetz verteidigen soll, vor, wenn sein oberster Dienstherr selbst in einen Schwarzgeld-Skandal verwickelt ist und sein Landesvater eine „brutalstmögliche Aufklärung“ verspricht, nur um dann den Ermittlungsbehörden zentnerschwere Steine in den Weg zu legen? „Kann man vom Bürger Ehrlichkeit verlangen, wenn die politische Führung nicht vermag, ehrlich zu sein?“ Die Antwort überlässt Wehrheim dem Leser.
Den Startschuss zum bislang größten Steuerstrafverfahren, das in der hessischen Steuerfahnder-Affäre gipfeln sollte, gab paradoxerweise ein argloser Bankmitarbeiter, der im Auftrag des Commerzbank-Vorstandes beim BKA nachfragte, was die Bank im „hypothetischen Fall“ einer Erpressung tun solle. Erpressung – das hatten die Banker wohl vergessen – ist ein Offizialdelikt, bei dem die Behörden ohne Antrag des Opfers ermitteln müssen. Kaum hatte der Bankmitarbeiter das BKA-Gebäude verlassen, setzten die Beamten eine Ermittlung in Gang, in deren Verlauf alleine die Ermittlungen der Frankfurter Steuerfahndung zu Steuernachzahlungen von mehr als eine Milliarde Mark führten.
Am Morgen des 27. Februar 1996 stürmten bundesweit mehr als 200 Steuerfahnder Filialen der Commerzbank. Wehrheims Team nahm sich damals die Vorstandsetage vor. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte standen kleine Steuerfahnder in den Vorstandsbüros der Frankfurter Wolkenkratzer und nahmen keine Rücksicht auf Rang und Namen. Es war klar, dass diese Aktion, bei der wertvolles Beweismaterial sichergestellt werden konnte, ein politisches Beben auslösen würde.
Es kam, wie es kommen musste. Kein einziger Bankmitarbeiter – geschweige denn die Vorstände – landete je vor Gericht. In einem Deal erklärte sich die Commerzbank bereit, 500 Millionen Mark an den Staat zu überweisen, wenn im Gegenzug die Ermittlungen gegen das Institut eingestellt werden. Um auch die Verfahren gegen leitende Angestellte mit einem Vergleich abzuschließen, zahlten die Banker weitere sieben Millionen Mark. Der Erpresser, der diesen gigantischen Fall von organisierter Kriminalität „aufdeckte“, wurde indes zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt – gleiches Recht für Alle existiert offensichtlich nur in der Theorie. Die „Respektlosigkeit“ der Steuerfahndung Frankfurt hatte somit zwar keine strafrechtlichen Folgen für die Banker, brachte dem Fiskus aber eine halbe Milliarde Mark ein. Doch anstatt den Steuerfahndern eine Verdienstmedaille zu überreichen, gerieten sie nun selbst ins Fadenkreuz.
1999 gewann die CDU in Hessen die absolute Mehrheit, und bereits wenige Monate später lehnte das Finanzministerium den Wunsch nach einer personellen Aufstockung der Steuerfahndung ab. Im Jahre 2001 – die Ermittlungen gegen die Commerzbank-Kunden und weitere Geldinstitute liefen immer noch auf Hochtouren – erließ die Frankfurter Finanzbehörde die geheime Amtsverfügung 2001/18, mit der sie de facto einen Großteil der noch ausstehenden Ermittlungen im Keim erstickte: Fortan sollten nur noch Auslandstransfers mit einem Transfervolumen von mehr als 500.000 DM als steuerstrafrechtlicher Anfangsverdacht gelten. Vor Einführung der Verfügung 2001/18 konnten die Frankfurter Steuerfahnder in den Verfahren gegen Banken, die ihren Kunden bei der Steuerhinterziehung geholfen haben, alleine in Hessen 595 Millionen Euro Steuernachzahlungen zusammenbekommen – nach der Verfügung waren es gerade einmal noch 13,8 Millionen Euro.
Doch auch die Steuerfahnder selbst wurden bald Opfer der CDU-Regierung. Beamte der Frankfurter Steuerfahndung, die sich gegen ihre Entmachtung zur Wehr setzten, wurden in die neugeschaffene „Servicestelle Recht“ strafversetzt – anstelle Großkonzerne zu überwachen, durfte der hochqualifizierte Steuerfahnder Frank Wehrheim nun, wie er ironisch schreibt, „hochbrisante Kirchensteuerfälle“ bearbeiten, bei denen um 70 Euro gestritten wurde. Bewerbungen der Strafversetzten verschwanden auf dem Dienstweg.
Besonders perfide ist in diesem Zusammenhang jedoch das Vorgehen der Behörden gegen vermeintlich „renitente“ Steuerfahnder, die sich mit der behördlichen Gängelung nicht abfinden wollten. Wehrheims Kollege Rudolf Schmenger wurde beispielsweise nichts ahnend zu einem behördlich beauftragten Psychiater geschickt, der ihm nach einer 60-minütigen Untersuchung ein „klinisches Bild einer paranoid-querulatorischen Entwicklung“ attestierte, das sich „aller Voraussicht nach auch nicht mehr ändern [ließe]“ und daher als „Dienst- und auch Teildienstunfähigkeit“ anzusehen sei – eine „Nachuntersuchung [sei] nicht indiziert“. Schmenger und drei andere Steuerfahnder wurden also kraft Amtes für verrückt erklärt, stigmatisiert und abgeschoben.
Ein halbes Jahr später ließ sich Schmenger an der Universitätsklinik in Frankfurt erneut untersuchen. Die dortigen Psychiater kamen jedoch wenig überraschend zu einem komplett anderen Ergebnis. Bei den folgenden Gerichtsverhandlungen kam heraus, dass der Psychiater, der Schmenger und drei seiner Kollegen für verrückt erklärt hatte, gar keine eigene Praxis führte, sondern ausschließlich für die hessischen Verwaltungsbehörden Gutachten erstellte – 350 Euro je Untersuchung, drei Untersuchungen pro Tag, ein lukrativer Job. Er wurde vom Gericht zu einem Verweis und einer Geldbuße von 12.000 Euro verurteilt. Schmenger und seine Kollegen sind somit zwar gerichtlich rehabilitiert, auf eine Entschuldigung oder ein Wort des Bedauerns seitens der Behörden warten sie jedoch bis heute.
Frank Wehrheims Schilderungen sind ein bedrückendes Beispiel dafür, was in diesem Staat falsch läuft.

Frank Wehrheim: Inside Steuerfahndung. Ein Steuerfahnder verrät erstmals die Methoden und Geheimnisse der Behörde, Riva-Verlag, München 2011, 247 Seiten, 19,99 Euro

Erstveröffentlichung auf www.nachdenkseiten.de. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Autors. Redaktionell gekürzt.