14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Feng-Shui-Fußgänger

von Reinhard Mohr

Quietschende Reifen, Vollbremsung, laute Stimmen. „Das ist eine Straße hier!“, brüllt der Fahrer des Kleintransporters einer Mutter hinterher, die mit ihrem fünfjährigen Töchterlein auf dem Bürgersteig steht. Über diesen verzweifelten Aufschrei der gequälten Kreatur, im Kern ein lautstark vorgebrachter sachdienlicher Hinweis, ist die Dame ihrerseits im höchsten Maße empört. „Sie können ja mal Rücksicht auf das Kind nehmen und anhalten!“, gibt sie Paroli und stellt damit die Dinge genial auf den Kopf. Denn selbstverständlich hat der Fahrer angehalten, sonst wären Mutter und Kind schon auf dem Weg ins Leichenschauhaus. Ein älterer Herr, Augenzeuge der Szene am Berliner Kollwitzplatz, erregt sich seinerseits über das raffinierte Ablenkungsmanöver und schimpft über die Mutter, die offensichtlich gar nicht geschaut hat, ob die Straße frei war, bevor sie sie überquerte. Doch die erzieherische Intervention läuft ins Leere, während sich Mutter und Kind, im persönlichen Rechtsempfinden zutiefst beleidigt, krakeelend vom Tatort entfernen.
Immer schon liefen Menschen unachtsam über die Straße. Neu ist, dass daraus jetzt – im Wege einer gewohnheitsmäßigen Inanspruchnahme – eine Art positives Landrecht wird, das Fußgängern ganz selbstverständlich gestattet, über die Straße laufen zu dürfen, wann immer, wo und wie lange sie wollen. Das Risiko trägt der Rest der Welt: Autofahrer, Versicherungen,
Fast achtzig Jahre ist es her, dass Sebastian Haffner jene Fußgänger als „die wahren Helden der Verkehrsschlacht „ feierte, in denen „noch einmal der listige, unverschämte und mutige Geist des schmächtigen, wehrlosen einzelnen Menschen über die brutal gehäufte Übermacht der Materie“ einen letzten Triumph zu erringen schien.
Heute ist die Verkehrsschlacht, jedenfalls in den meisten Städten, längst flächendeckend beruhigt, und so hat sich das Gefahrenbewusstsein umgekehrt: Sicher fühlt sich nun der Fußgänger, während der Automobilist an jeder zweiten Ecke fürchten muss, zum unfreiwilligen Totschläger zu werden.
Der moderne Fußgänger freilich will davon gar nichts wissen. Er vertraut auf sein Gehör, auf das akustische Feng-Shui seiner intrinsischen Weltwahrnehmung. Vernimmt er kein bedrohlich nahendes Dröhnen eines Vierzigtonners oder wenigstens ein durchdringendes Nebelhorn, allenfalls die Mark und Bein erschütternden Sirenen der Feuerwehr, dann geht er logisch stringent davon aus, dass keinerlei Gefahr droht. Andere Sinneseindrücke und intelligible Eigenschaften wie Sehen und Denken wären nur redundante Zeitverschwendung.
Gilt diese tendenziell esoterische Welt- und Rechtsauffassung im Straßenverkehr schon für erwachsene Einzelpersonen – Herbert Grönemeyers Forderung „Kinder an die Macht!“ hat sich damit erfüllt –, so fühlen sich erst recht ganze Menschengruppen befugt, ihr subjektives Sound Wohlsein zur Grundlage einer ganz eigenen, empirisch fundierten Rechtssetzung zu machen. In Berlin- Mitte etwa erobern sie, Bierflasche und angebissenen Burger in der Hand, in lauen Sommernächten ganze Straßenzüge. Selbst routinierten Radfahrern mit ausreichenden Englischkenntnissen fällt es zuweilen schwer, einen mehrsprachig verständlichen Hinweis auf die eigentliche Hauptfunktion der Straße anzubringen, um den Weg gefahrlos fortsetzen zu können.
Nicht selten ernten die radelnden Spätaufklärer bloß ein multikulturell enttäuschendes „Fuck off, God damn Nazi!“ Diese Verwirrung von Sinn und Verstand ist kein Wunder, denn die faktische Umkehrung der Verhältnisse zieht eine moralische nach sich: Wer darauf beharrt, dass eine Straße im Prinzip eine Straße sei und kein Bürgersteig, weder Asphaltstrand noch Flaniermeile, der setzt sich ins gefühlte Unrecht, ist ein Spießer und Blockwart, Spaßbremse und Kinderfeind, rücksichtsloser Raser und Lawand-Order-Nazi. Pech für ihn.
Der neuzeitliche Fußgänger aber, der auf Gott und sein inneres Feng-Shui vertraut, geht unbeirrbar weiter seinen Weg. Aufhalten könnte ihn allenfalls der kinderfeindliche Fahrer eines extrem leisen Vierzigtonners, der schlecht sieht und gerade „Highway to Hell“ in voller Lautstärke in den Ohrstöpseln seines iPhones hört.
Das wäre dann Pech für den Fußgänger.

Aus dem schon zwecks fröhlicher Wiedererkennung (natürlich der Anderen) empfehlenswert schwarzhumorigem Buch von Reinhard Mohr: „Meide deinen Nächsten – Beobachtungen eines Stadtneurotikers“, wjs-Verlag, Berlin 2010, 147 Seiten, 14,90 Euro. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.