von Werner Richter
Es war eine seltsame Verknüpfung von Zufällen, die mich letztendlich wieder mal auf diese Seiten trieb. Noch nie bin ich persönlich so nahe an ein Buch geraten, und es wird in diesem Leben wohl auch nie wieder geschehen.
Lisl Urban, eine Lehrerin aus meiner Zöglingszeit an der Internatsoberschule Wickersdorf, steinalt geworden, aber inzwischen schon verstorben, hatte ihre Memoiren im Dingsda-Verlag Leipzig, in drei Büchern veröffentlichen lassen. Wie nur wenige Schüler war ich traumatisiert aus dieser Anstalt hervorgegangen, diese Zeit hat mein ganzes Leben nachhaltig geprägt und meine Erinnerung stets wach gehalten. So elektrisierte mich die Nachricht über das Buch regelrecht, keine Frage: Ich musste das lesen.
Verständlicherweise ließ Buch 3, in dem die Wickersdorfer Zeit zu gewärtigen war, auf sich warten; der Tod setzt unverrückbare Fristen. So begnügte ich mich notgedrungen zunächst mit Buch 1, später mit Buch 2. Ehrlich gesagt, erschließt sich mir bis heute nicht vollständig, warum Lisl Urban diese Erinnerungen geschrieben hat. Aber ein Grund wird in Buch 1 deutlich: Sie musste ihre in der DDR sorgsam verschwiegene Vita offenbaren, der Druck war vorbei. Deshalb lese ich auch ein gewisses Ätsch! Heraus: Ihr habt mich nicht erwischt! Eine mehrfach benutzte Photographie, die sie mit zur Kamera herausgestreckter Zunge zeigt, unterstützt diese Annahme. Klar ist, sie hätte mit ihrem Kaderrucksack nie Lehrerin werden können. Als Grund für Memoiren ist das allerdings etwas dürftig – zumal, was sie erzählt nicht unbedingt zu ihrem Ruhme ausfällt.
Ich entsinne mich an einen Aussage meines Vaters, der an einem Elternabend mit ihr ins Gespräch zu kommen versuchte, weil er an ihrer Aussprache die gemeinsame Herkunft aus den Sudeten erkannte. Zu seiner Verwunderung ließ sie ihn fluchtartig stehen. „Mit der stimmt was nicht!“, sinnierte er danach und – beließ es dabei. Das erste Buch schuf mir Klarheit. Dort beschreibt Lisl Urban die Kindheit in einer Gablonzer Unternehmerfamilie, ihr Erwachsenwerden und das beginnende selbstständige Leben als emanzipationsorientierte junge Frau. Sie schildert ungewohnt unpolitisch die Nazifizierung der Deutschen und den Gang „Heim ins Reich“. Das mag, wie auch die Schilderung der weiteren Ereignisse, ihre damalige Denkweise wiedergeben, keinesfalls ist es aber eine verarbeitete Wertung.
Schwer nachzuvollziehen erscheint mir deshalb ihr unschuldiges Bedauern des Schicksals, das der tschechischen Bevölkerung durch die deutschen Okkupanten, beschert wurde. Eine Schuldzuweisung an die Verursacher findet sich bei Urban nicht. Auch bei ihrer abschließenden Anklage der „Hasenjagd“ auf Deutsche lassen ihre Schilderungen kein Nachdenken über Ursache und Wirkung erkennen.
Zwischendurch heiratet Lisl Urban einen „Volksdeutschen“ und zieht mit ihm nach Prag. Mit einem Erich Steidtmann ist sie liiert, der ist SS-Offizier. Es fehlt nicht an einem Hinweis auf gute Beziehungen zu einem tschechischen Paar: Schließlich waren nicht alle Deutschen Nationalisten, ich schon gar nicht… Was die Reglementierungen oder gar das „Verschwinden“ von Tschechen betrifft, stößt man lediglich auf ein unverbindliches Bedauern. Die ganze Litanei also der „ach so Unschuldigen“, die nichts gewusst und gesehen haben. Mag das Gegenteil nachweisen, wer kann.
Lisls Mann ist inzwischen bei der Gestapo, sie selbst findet eine Anstellung als Stenotypistin bei selbiger „Behörde“. Diesem dann verborgen gebliebenen Faktum galt wohl das erwähnte „Ätsch“. Alles wird als normal banal geschildert, nichts Aufregendes, es ging seinen guten Gang. Steidtmann wird, der 2. Weltkrieg läuft mittlerweile, nach Warschau versetzt. Dort wird er im Ghetto gebraucht. Lisl besucht ihn sogar. Ihre Erinnerung daran enthält indes keine Schilderung irgendwelcher Beobachtungen, die sie garantiert gemacht haben muss, wenn sie nicht blind war.
Im Folgenden schildert meine ehemalige Lehrerin das sehr verworrene Schicksal ihres Geliebten, von dem sie sich – oder er von ihr – bald trennte und dessen Spur sich im Nebel des Verschollenseins verliert.
Einige Male fällt Lisl Urban in den Chor der rituellen Heimatverlustbeklager ein; ob ihr diese Nähe bewusst war oder schon Altersinfantilität am Werke war, wer weiß. Jedenfalls halte ich mich hier lieber an meinen Vater, obwohl wir selten in Frieden lebten. Keine Klagen gab er von sich, höchstens die Bemerkung: So, wie sich auch die Sudetendeutschen verhielten, hatten die Tschechen und die anderen das Recht, diese für immer ins Reich zu schicken.
Also nochmals die Frage: Warum dieses Buch? Der Menschheit bringt es nicht viel. Ihre damalige Sichtweise fast unverändert wiedergebend, gibt Lisl Urban den Prototyp jenes unschuldigen Deutschen, der sein Schicksal nach 1945 beklagt und der immer penibel darauf geachtet hatte, dass seine Schuhe nicht von den Blutlachen beschmutzt wurden.
Mit der Aussiedelung endet Buch 1, aber nicht die Geschichte des Buches. Die fängt erst richtig an. Die geplante Veröffentlichung entfachte 2007 einen nicht vorhersehbaren Sturm im Blätterwald. Alle „Organe“ der Meinungsführerschaft berichteten, im Internet unter „Lisl Urban“ gut nachzulesen. Obwohl per Pseudonym im Buch anonym gehalten, kam nun auch Steidtmann aus der Deckung und verklagte Verlag, Lektor und Lisl auf Schadensersatz wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung und versuchte außerdem, die Veröffentlichung gerichtlich zu verhindern. Das war ein gefundenes Fressen: Ein alter Nazi führt seinen letzten Kampf. Dem Verlag drohte der Verlust seiner Existenzgrundlage, der Verleger, Joachim Jahns, sah sich zu handeln gezwungen und recherchierte vor Ort. Er wollte die Verstrickung Steidtmanns in die Ermordung vieler und die Liquidierung des Warschauer Ghettos belegen können.
Quasi als Nebenprodukt dieser Nachforschungen fand er Widersprüche in der bisherigen Darstellung der Vernichtung in den Ghettos und der daran beteiligten Personen. Er stieß zum Beispiel auf Dokumente zu einem SS-Offizier Franz Konrad, der allgemein als ein pathologischer Judenschlächter galt. Die aufgefundenen Originalunterlagen zeigten jedoch ein völlig anderes Bild dieser Person und gaben Hinweise, dass an der Bilddarstellung von Beginn an kräftig manipuliert worden war. Konrad gehörte höchstwahrscheinlich der „ökonomischen Fraktion“ innerhalb der SS an, die nicht auf die rücksichtslose Vernichtung aller Juden setzte, sondern diese durch lukrative Sklavenarbeit ausbeuten wollte. Letztendlich lief auh diese Variante auf Vernichtung, nämlich durch Arbeit hinaus, hinaus: Mitgefühl für SS-Leute dieser Provenience ist also fehl am Platz.
Konrad war aber ziemlich sicher nicht der beschriebene Killer, sein Spitzname auch unter SS-Leuten – und das war für ihn nicht ganz ungefährlich – lautete „König der Juden“. Daher stammt auch der Titel des Buches von Jahns, in dem er die Rechercheergebnisse offen legt, sie einordnet, bewertet sowie Widersprüche und Fragen aufwirft. Warum zum Beispiel wurde aus Konrad dieses Monstrum gemacht und wer steht hinter dieser Lesart? Sollte hier ein relativ unschuldiger Bauer geopfert werden, um größere Unholde, an denen etwa die USA interessiert waren, aus der Schusslinie zu halten? Nahezu sensationell für Historiker dürfte sein, dass Konrad in den Besitz des bis heute als verschollen geltenden Endberichts von Jürgen Stroop über die Vernichtung des Warschauer Ghettos – Stroop hatte als SS-Gruppenführer dieses barbarische Kriegsverbrechen befehligt –, noch dazu des Himmlerschen Exemplars von nur drei gefertigten, gelangt war und dieses nach Kriegsende den Amerikanern übergeben hatte. Gleichwohl wurde Konrad von diesen gemeinsam mit Stroop den polnischen Behörden überstellt. Beide wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Joachim Jahns: Der Warschauer Ghettokönig, Dingsda-Verlag Querfurt, Leipzig 2009, 232 Seiten, 24,90 Euro
Lisl Urban: Ein ganz gewöhnliches Leben. 1. bis 3. Buch, Dingsda-Verlag Querfurt, Leipzig 2006, jeweils etwa 175 Seiten, je 16,90 Euro
Schlagwörter: Dingsda-Verlag, Franz Konrad, Joachim Jahns, Jürgen Stroop, Lisl Urban, Warschauer Ghetto, Werner Richter