von Hermann-Peter Eberlein
Es geht mir nicht um die Person Johannes Pauls II., der da am 1. Mai von seinem Nachfolger in Rom seliggesprochen wurde. Sein Platz in der Geschichte ist – wie bei jeder Person der Zeitgeschichte – noch nicht wirklich zu bestimmen; zu unterschiedlich sind die Facetten, zu abhängig ist man von der Perspektive, aus der heraus man auf dieses Leben schaut: als Katholik oder Atheist, als Pole oder Italiener, als Befreiungstheologe oder Traditionalist. Insofern kann man nur sagen: Wie es zu früh ist, ein historisches Urteil über den polnischen Papst zu sprechen, ist es jedenfalls viel zu früh, ihn religiös derart zu verklären, wie es eine Seligsprechung in der römischen Kirche impliziert.
Es geht mir auch nicht darum, den derzeitigen servus servorum Dei zu kritisieren. Er hat getan, was man unmittelbar nach dem Tode Johannes Pauls von ihm verlangt hat: sancto subito! Er hat dabei die Regeln eingehalten, die ein entsprechendes Verfahren in der Kurie durchlaufen muss. Er hat eine religiöse, theologische und kirchenpolitische Haltung kanonisiert, die seine eigene ist. Kurz: Er war zugleich populistisch, konsequent und korrekt.
Nein, es geht mir genau um dieses kirchliche Verfahren, um seine Regeln, um das, was sie hervorgebracht hat, und um die grotesken Ergebnisse, die sie zeitigen und die deutlich machen: Hier wird aus lauter Vorsicht und mit viel Vernunft zerstört, was doch eigentlich verstärkt und weiterentwickelt werden sollte: Religion, Glaube, Seligkeit.
Religion ist ein zutiefst individuelles, darum anarchisches Gefühl, beglückend und verstörend zugleich: das Gefühl der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ des eigenen Lebens, wie es Schleiermacher klassisch formuliert hat, von einem Anderen, sei es benennbar oder unbeschreiblich. Glaube bedeutet, sich auf das einzulassen, worüber ich nicht verfügen kann: ins Leben geboren worden zu sein, sterblich zu sein, Schuld und Entfremdung anheimzufallen, Gnade und Verzeihung zu erleben, zu lieben und sich selbst in der Liebe zu verlieren. Seligkeit ist das zeitlose Glück eines Kusses, in dem Zeit, Vernunft, Regeln und Ordnung jede Bedeutung verloren haben.
Für die katholische Kirche ist selig jemand, der zur ewigen Anschauung Gottes gelangt ist. Das beurteilen kann, wenn überhaupt jemand, allein dieser Mensch selbst. Andere können höchstens glauben, dass jemand selig ist. Das gilt für die Seligkeit mystischer Gotteserfahrungen wie für die hemmungsloser Küsse gleichermaßen.
Hiermit müsste es sein Bewenden haben, und eine Religionsgemeinschaft wäre gut beraten, an dieser Stelle das Geheimnis zu achten, die Freiheit des Gefühls zu ehren, der Macht der Liebe Respekt zu erweisen und demütig zu schweigen. Was aber tut die römische Kirche? In ihrer Angst vor dem Überschäumen der Gefühle, vor dem irrationalen Affekt versucht sie in Ordnung zu bringen, was doch jenseits jeder Ordnung liegt. Sie versucht das Paradox des Glaubens zur Vernunft zu bringen. Sie verbindet die unvereinbaren Größen Geschichte und Ewigkeit. Sie legt die Spontanität, die Freiheit des Glaubens (oder Unglaubens) in Ketten. Sie ersetzt die Anarchie des Heiligen durch eine heilige Hierarchie.
Zu den Voraussetzungen einer offiziellen Seligsprechung gehört ein durch den Kandidaten gewirktes bewiesenes Heilungswunder. Das allein ist schon Widerspruch in sich. Denn das Wunderbare zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es sich der Rationalität einer Beweisführung entzieht. Bewiesen kann dann nur noch werden, dass man eine Heilung rational eben nicht begründen kann. Wie klein macht man dabei beides, Wunder wie Vernunft: Das Wunderbare des Lebens schmilzt zusammen auf wenige unerklärliche Mirakel, der Vernunft werden Grenzen gesetzt, an denen ihre Autorität endet. Die Freiheit des Gefühls wird in die Fesseln einer notwendigen Voraussetzung geschlagen. Was dabei herauskommt, hat man gesehen: Eine naiv dreinblickende Nonne, deren Krankheitsbild nicht unbestritten klar war, muss herhalten, um einen Beweis zu erbringen und der Ratio Genüge zu tun. Der Verdacht, dass man hier fand, weil man finden wollte, wird auf dem Verfahren liegenbleiben und macht ein religiöses Gefühl gerade zunichte.
Der Seligsprechung voraus geht ein Prozess. Auch das ein Widerspruch in sich selbst: Sowenig wie sich hemmungslose Liebe einer Ordnung unterwirft, so wenig muss Seligkeit ihr Recht erweisen. Sie ist – hoffentlich – einfach da.
Die Seligsprechung versucht einem historischen Menschen ein Prädikat zuzuordnen, das die Wahrnehmung der vergehenden Zeit und damit das Historische gerade transzendiert: Wer sich im Siebenten Himmel fühlt, zählt keine Stunden. Im Falle höchster Seligkeit gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, nur noch Gegenwart. Nun aber bekommt die Geschichte eine ewige Qualität, müssen die Relikte der Vergangenheit für die Ewigkeit bewahrt werden: Reliquien eben. Leichenteile werden präpariert und konserviert, besonders verpackt und zur Schau gestellt. Reliquienkult hat etwas Makabres und Bizarres, damals wie heute. Denn der menschliche Körper ist nun einmal vergänglich und soll auch vergehen; das ist Teil der condition humaine. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube“ – so drückt es treffend die Begräbnisliturgie der Kirche aus, über die sich die katholische Heiligenverehrung gerade hinwegsetzt. Die Präsentation einer Phiole mit Blut, das man Johannes Paul vor seinem Tode abgenommen hat, erinnerte mich in ihrer Groteskheit an die Legende, dass man den großen Scholastiker und Kirchenlehrer Thomas von Aquin, einen sehr feisten Mann, unmittelbar nach seinem Ableben in einem großen Topf gekocht habe, um das Fleisch besser lösen und so schneller an Reliquien kommen zu können. Mit besseren technischen Möglichkeiten treibt der Reliquienwahn heute mindestens genauso abstoßende Blüten. Der Leiche Johannes Pauls hat man das Blut entzogen, um sie besser konservieren zu können – wo das enden wird, kann man am Leichnam Johannes XXIII. sehen, der seit seiner Seligsprechung im Jahre 2000 in einem gläsernen Sarg im Petersdom ausgestellt wird, bedeckt mit den Pontifikalgewändern und einer wächsernen Maske, weil man das Gesicht dem neugierigen Publikum wohl doch nicht zumuten zu können meint. Es geht die Mär, im Sarg müsse jede Nacht Helium nachgefüllt werden, damit kein Sauerstoff eindringt, der den Kadaver weiter zerstört. Die seligen Päpste entgehen dem Schicksal Lenins nicht. Mag man das einem Menschen wünschen?
Die Flut der Selig- und Heiligsprechungen seit dem Pontifikat Johannes Pauls II. hat ein offenkundiges kirchenpolitisches Ziel: Stärkung des Gemeinschaftsbewusstseins und die Fokussierung der Frömmigkeit auf Vorbilder, die erwünscht sind. Ob die Kurie ihr Ziel erreicht, scheint mir fraglich. Lauter Jubel auf dem Petersplatz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Katholiken mindestens in Westeuropa diese Versuche aus deutlicher Distanz heraus beobachten. Vielleicht spüren sie das Unmögliche, das hinter solchen Prozeduren steht. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, heißt es in der Geschichte vom zweifelnden Thomas gegen Ende des Johannesevangeliums, oder einfacher: „Wer glaubt, wird selig“, nicht, wer vor kirchlich approbierten Reliquien betet. Das macht alle Seligsprechungsprozesse zunichte. Vielleicht spüren die Menschen aber auch einfach nur die Absicht und sind verstimmt. Über die Person Johannes Pauls II. wird jedenfalls weiter diskutiert werden – vor allem über seine Rolle bei der Aufklärung oder Vertuschung pädophiler Straftaten in den Reihen des Klerus. Die Vorstellung ihm zu Ehren auf dem Petersplatz am 1. Mai war einfach nur degoutant.
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Johannes Pauls II., katholische Kirche, Papst, Religion, Seligsprechung