von Ines Fritz
Meine Freundin Bea Noczynski ist eine liebe, nette und großherzige Frau. Sie und ihr Mann haben zwei eigene Kinder und zwei Pflegekinder, etliche Tiere und ein Haus zu versorgen – in in Osterweddingen im Sülzetal, einer Einheitsgemeinde in der Magdeburger Börde. Neben Familie und Geschäft organisiert Bea Babybörsen, eine Theater-AG an der Grundschule im Dorf, arbeitet ehrenamtlich im Jugendclub der Gemeinde und hat noch Zeit, sich ab und an mit mir zum Kaffee zu treffen. Ihren An- und Verkauf für Kinder- und Babysachen musste sie wegen fehlendem Umsatz vor ein paar Jahren schließen und ist seitdem Hausfrau. Bea hat eigentlich alle Hände voll zu tun und wer sie kennt, wundert sich über die unglaubliche Energie, die sie – wie sie sagt – aus dem Alltag mit ihrer Familie schöpft. Ich habe sie sehr gern, auch wenn ich sie immer ein bisschen zu nett finde und Bedenken pflege, dass sie sich von allem und jedem zu sehr ausnutzen lässt. Meiner Einschätzung nach kam sie selbst immer ein bisschen zur kurz und ließ sich die Butter vom Brot nehmen. Sie sollte einfach stolzer sein auf das, was sie kann und tut. Aber Bea ist eben lieber freundlich, sehr nett, nur selten radikal, und sie war immer ein bisschen leise.
Leise allerdings ist Bea heute nicht mehr.
Als sie in der Volksstimme liest, dass der Standort für die Grundschule im Ort gefährdet ist, gründen sie. ihr Mann und andere betroffenen Eltern quasi am Küchentisch eine Protestbewegung, die sich mit Stuttgart 21 messen kann. Allerdings wurde im Sülzetal dabei niemand verletzt. Unbedeutender ist der Protest im Sülzetal nicht. Es geht nur nicht um einen Bahnhof, sondern um drei Grundschulen in der Gemeinde, die hinter einem Grundschulzentrum zurückstehen sollen, das für die Schüler längere Anfahrtwege und einen erheblichen Mehraufwand bedeutet.
Der Erhalt der Grundschulen hängt von der Mittelvergabe der Gelder aus dem sogenannten Konjunkturpaket II ab. Im Februar 2010 sorgten schon 800 gesammelte Unterschriften für ein Versprechen des Gemeinderates, alle drei betroffenen Grundschulen erhalten zu wollen und die Fördermittel über insgesamt 395.000 Euro aus dem Konjunkturpaket II in die baufällige Grundschule in Osterweddingen zu investieren. Acht Monate lang passiert nichts. Im Oktober 2010 eskaliert die Situation, als der Gemeinderat nach monatelanger Wartzeit einen Vergabeplan vorlegt, der eine Aufteilung der Fördermittel vorsieht und im eklatanten Widerspruch zu dem Versprechen steht, die Grundschulen zu erhalten. Bea schreibt ihren ersten wütenden Leserbrief an die Lokalredaktion der Volksstimme und beschließt, zu protestieren.
Bea organisiert Straßentheater und Kundgebungen, schreibt weitere Leserbriefe, bindet Schüler und Freunde in die Proteste ein, malt Plakate und Transparente, druckt Handzettel, pflegt Kontakte zur Presse und erfindet ganz neue Aktionsformen, die so Großstadtrebellen wie mir gar nicht in den Sinn kämen. Vor einer Gemeinderatssitzung bildet die Elterninitiative ein Spalier aus Schubkarren, gefüllt mit Pferdemist, denn „es stinkt im Sülzetal bis zum Himmel“. Die Schüler der Grundschulen malen Wunschzettel und behängen damit einen Weihnachtsbaum. Ein Auto-Anhänger wird als Transparentträger an strategisch günstigen Plätzen geparkt. Es werden Kondome bedruckt und verteilt und Warnwesten bemalt, die zum optischen Signal einer Gegenbewegung in den völlig überfüllten Sitzungsräumen werden. Die Eltern entwerfen in Eigenregie und Zusammenarbeit einen alternativen Verteilungsplan für die Mittel aus dem Konjunkturpaket II, organisieren einen runden Tisch, binden interessierte Gemeinderatsmitglieder ein und entwerfen – selbstständig und selbstbewusst – einen Gegenentwurf zum Vorschlag des Gemeindebürgermeisters, der zur Schließung der Grundschulen geführt hätte. Über Monate war Beas ganze Familie damit beschäftigt, sich dafür zu engagieren, dass die Grundschule im Ort auch für zukünftige ABC-Schützen erhalten bleibt, und meine liebe Bea bekam noch weniger Schlaf als sonst.
Ob auch der Gemeindebürgermeister in dieser Zeit wenig geschlafen hat, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich fand er das alles nur sehr, sehr lästig und irgendwie überflüssig, denn immerhin hatte man ihn ja gewählt, eben solche Entscheidungen zu treffen. Proteste gegen seine Arbeit wirken da wie entzogenes Vertrauen. Und genau das passierte dann ja auch.
Wenn Bea heute das Wort ergreift (und das macht sie gut und erfolgreich), wirkt sie souverän und selbstbewusst, und sie spricht zu Bürgermeistern, Gemeinderäten, Eltern und Presse mit der Selbstsicherheit einer Frau, die weiß, wie man sich auch gegen ignorante Repräsentanten durchsetzt, und die bereit und in der Lage ist, erfolgreich zu widersprechen!
Schaden nahmen im Sülzetal nur das Ego des Gemeindebürgermeisters und – bei Wählern und Nichtwählern – die Glaubwürdigkeit seiner Person sowie die allgemeine Akzeptanz des Gemeinderates als Vertreter der Bürgerinteressen. Der Erfolg der Proteste unter dem Namen „Sülzetal 21“ blieb alles in allem überschaubar und die bewegten Eltern bescheiden, aber die Aktion und die Protestformen sind bemerkenswert und das Engagement und das Potenzial der Beteiligten sehr überzeugend. Staunend ließ „Sülztal 21“ die Beobachtenden zurück, und dabei vor allem mich, die sich schon leicht selbstgefällig für eine qualifizierte und geübte Protestierende hielt. Denn dass „so was“ einfach so geht, ein zielgerichteter Protest aus dem Nichts, war das Erfreulichste und Erfolgreichste daran! Und dabei sein zu können, hat auch mich erheblich motiviert, noch mal ´nen Zahn zuzulegen.
Schlagwörter: Bea Noczynski, Ines Fritz, Protest, Sülzetal