14. Jahrgang | Nummer 6 | 21. März 2011

In memoriam Wolfgang Sabath – Vater, Freund und Kollege

Fotos: privat

In memoriam Wolfgang Sabath

Liebe Kinder und Kindeskinder Wolfgang Sabaths.
Liebe Anverwandte.
Liebe Freunde, Kollegen, Gefährten.
Verehrte Trauergemeinde.

Die eben verklungenen Psalmen wurden von Nonnen eines Klosters der Orthodoxen Kirche in der Nähe des Peipus-Sees gesungen. Christine und Wolfgang brachten sie von einer ihrer Reisen im Baltikum mit. Nach dem Tod seiner Christine, wurden sie zu dem Musikstück des Atheisten Wolfgang Sabaths, der seine letzten Lebenstage, vorbildlich betreut, in einem Hospiz der Caritas verbrachte, und sehr wohl zwischen Kunst und Kirche, zwischen Kirche und Gläubigen, zu unterscheiden wusste.
Wir  haben uns zusammengefunden, um Abschied von Wolfgang zu nehmen, seiner zu gedenken. Euch,  Steffen und Frank, Anna und Juliane, dir Juliane mit Marco, dir lieber Paul und euch, den lieben Enkeln eures Opas Wolfgang – Karian,  Hanka und Klara, euch, und allen Anverwandten, wollen wir besonders in dieser gemeinsamen Stunde des Abschieds das Gefühl geben, dass ihr in eurem Schmerz nicht allein seid.
Im Guten wie im Bösen, im Sieg und in der Niederlage, im Glück und im Unglück, führt der Weg eines Menschen über den Tod hinaus, führt in die Zukunft. Unser Erinnern bezieht sich auf Vergangenheit, unsere Hoffnung auf Zukunft. Unser Gedenken an Wolfgang soll Vergangenheit mit Zukunft verbinden. Er hat des Süßen und des Sauren gekostet, und des Sauren war wohl mehr. Deshalb stand er in seinem Leben und Wirken, in seinem Alltag, auf seinen politischen und beruflichen Wegen, nicht selten allein. Das machte ihm viele seiner Entscheidungen nicht leicht und seine Lebenswege über Höhen und durch Tiefen zeitweise schwierig.
Wolfgang, dessen Erdenweg sich vollendete, hat diese Musik zum „Pan Tadeusz“, dem Nationalepos der Polen, sie  besingt beziehungsvoll den Tod des Jacek Soplica, oft und oft gehört… War wie dieser ein Kämpfer. Hatte Rückgrat, war unverzagt. Setzte sich uneigennützig für sozial Schwache und politisch Ausgegrenzte ein, war parteifern, aber sich selbst und seinen Überzeugungen treu. Wolfgang, eine ehrliche Haut, redlich, in seinem Wesen  warmherzig, wirkt durch sein gelebtes Beispiel über den leiblichen Tod hinaus.
Handeln in seinem Sinne, über den Tag hinaus. für die Ideen eines demokratischen Sozialismus, denen Wolfgang, geistig produktiv bis kurz vor seinen Tod, sein Leben widmete, dazu braucht es einen langen Atem. Eines viel längeren Atems, als Wolfgang und seinesgleichen ursprünglich angenommen hatten. Dazu braucht es auch neuer, erst noch zu erschließender Wege. Wolfgang suchte danach. Eine Zukunftshoffnung:
„Geschlagen gehen wir nach Haus
Die Enkel fechtens besser aus.
Es wird ihnen gelingen!“
Welchen Lebensweg Karian, Hanka und Klara einschlagen, werden  sie selbst, und nur sie, entscheiden.

Wolfgang, Jahrgang 1937, kam im Familienverband der Sabaths und der Kreths auf die Welt. Die war in seiner Kindheit von den Orten Drewitz, Kladow und Babelsberg markiert. Wolfgang durchmaß sie, der Not gehorchend, häufig barfuß. Jahrzehnte später, unterwegs, sei es im Sächsischen, in Franken oder in der Uckermark, wo immer auch, oft hielt er sein Autochen an, und lud müde Studenten oder Arbeitsleute ein, ein Stück Wegs mit ihm zu fahren. Mit seiner plebejischen Herkunft kokettierte er nicht, er hatte sie sich an seinen Fußsohlen abgelaufen. Sie prägte, auch in ihren anarchischen Verästelungen, sein Leben.

Die Jahre seiner Kindheit waren Zwischenkriegs- und Vorkriegszeit, gefolgt von sechs Kriegs- und schwierigen Nachkriegsjahren. Auch in den Familien Sabath und Kreth sorgten sich vor allem die Frauen darum, dass die Kinder etwas zu essen hatten, wenigstens in der kalten Jahreszeit beschuht waren, wärmende, selbstgestrickte, Strümpfe anziehen konnten. Wolfgangs Mutter Thekla war in der Familie Kreth nicht die einzige, bei der die Lungentuberkulose nach dem Leben griff. Sie verstarb, sehr jung noch, gerade mal 26-jährig, Anfang März 1943.
Wolfgang, der gestern seinen 74. Geburtstag gehabt hätte, war damals Sechs. Großmutter Thekla, Jahrgang 1880, – sie trug den gleichen Vornamen wie die Tochter –  und Großvater Max Kreth, Jahrgang 1872, Vater von 12 Kindern in zwei Ehen, nahmen  ihn auf. Man kann sich Wolfgang, mit Verlaub, nur schwer als Nesthäkchen bereits betagter Großeltern vorstellen. Aber, sie nahmen ihn in ihre Obhut. Nun umsorgte Großmutter Thekla, in den zunehmend schweren Jahren des Welt-Kriegs Nr. 2 und in den Nachkriegsjahren, liebevoll ihren Enkel Wolfgang, der sie zeitlebens liebte. Brot und Kartoffeln waren in den ersten Nachkriegsjahren, die kein Zuckerlecken waren, oftmals die einzige Entlohnung für den betagten Zimmermann Kreth. Bei seinen Arbeitsfahrten übers Land begleiteten ihn sein Enkel Wolfgang, ein Sabath, und der Enkel Klaus, ein  Kreth. Die vielfach erlebte Hartherzigkeit der Großbauern in der Prignitz vergaß Wolfgang nie.
Die plebejische Herkunft, den Sabaths wie den Kreths eigen, potenzierte sich – auch bei Wolfgang – mit politischem Engagement. Walter Paul Sabath, Wolfgangs Vater, war Kommunist, nicht der einzige im Familienverband. Des Großvaters Gustav Wort hatte Gewicht in der Gewerkschaftsbewegung Berlins und Deutschlands. Andere Familienmitglieder waren Sozialdemokraten. Einige der Familienmitglieder verließen die DDR, andere kamen aus Westberlin in die DDR. Tiefe gesellschaftliche Einschnitte zogen tiefe Furchen in die Lebenslinien.

Politische Streitgespräche gehörten zu den Familientreffen der Kreths. Das mag in der Kindheit an Wolfgang vorbeigegangen sein. In seinem späteren Leben spielten sein Nachdenken und Streitgespräche um einen demokratischen Sozialismus und eine emanzipatorische Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle.
Im Streit um die Wege in die Zukunft hat Wolfgang oftmals, in der DDR wie in der BRD, niemals bequem, aber immer aus eigener Entscheidung, nicht nur zwischen zwei, sondern zwischen allen vorhandenen Stühlen, und weiteren Sitzgelegenheiten dazu, Platz genommen. Nicht wenige politische Realitäten der DDR machten ihm schwer zu schaffen.
Sein Schulkamerad und Vetter Klaus Kreth erinnert sich an Wolfgang als einen begabten Schüler.  Dass er als heller Kopf in den ersten Nachkriegs- und frühen DDR-Jahren, zur Hochschulreife gelangen konnte, darin, auch in der Familie, keineswegs eine Ausnahme, war für ihn ein wichtiges Hoffnungszeichen einer Gesellschaft in Wandlung. Er wollte, forderte und förderte auf vielfältige Weise zeitlebens Bildung für alle. Dem Töchterchen vietnamesischer Nachbarn in der Breiten Straße half er deshalb, in die Geheimnisse der deutschen Sprache einzudringen
Dem Urteil seiner Lehrer im Abiturzeugnis von 1956 zufolge, zeigte er sich, offen, ehrlich und sehr kameradschaftlich. Nach dem Abitur verdiente er, bis zum Studiumbeginn, seinen Lebensunterhalt so gut es ging, selbst. Als Beifahrer auf einem LKW oder als Hilfsarbeiter bei der Deutschen Schallplatte Babelsberg. Noch als Student der WiWiFak der Berliner Humboldt-Universität, arbeitete er für ein Zubrot im EAW Treptow. Nach Berlin, wo er von 1959 bis 1963 studierte, war er von einem Tag zum anderen und aus eigenem Entschluss, zuerst zu Mariechen, einer Schwester seiner Mutter gekommen. Die Erfahrungen seiner kargen Lebensverhältnisse im Studentenwohnheim, in das er bald einzog, oder seltener Schlemmereien mit Pferdewurst, vergaß er nie.

In den Jahren an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät entstand die feste Freundschaft zwischen Wolfgang und Heerke Hummel. Dieser überlieferte, dass Wolfgang hartnäckig studierte und sich  vor allem für „die Sache“ interessierte. Dass er das Studienfach „Rechnungswesen“ bis zuletzt negierte, macht ihn nur noch sympathischer.
Ab 1963, nach Universitätsabschluss, arbeitete Wolfgang, erneut aus eigener Entscheidung und nicht kaderpolitisch ferngesteuert, als Redakteur und Journalist. Sein Arbeitsplatz für mehr als ein Jahrzehnt, bis 1977 – die  Studentenzeitung „Forum“. Günter Baumgart war ihm in den Forum-Jahren und später ein guter Freund. Seine Freundschaften waren, wie man sieht, von Dauer. Wolfgang nahm Menschen so an, wie sie waren. Er war geradlinig, frei von Dünkel,  unumwunden, zuweilen auch ungehobelt. Normierung war ihm eine Gräuel, die sogenannten Formen nicht seine Stärke. Für Nähe brauchte er Zeit und Erfahrung, bevor er sich öffnete.
1977, als er den Verlag der Jungen Welt verließ, bestätigte man ihm: „Er verfügt über ausgeprägte Schreibfähigkeiten… Ihn zeichnen konstruktives und originelles Denken aus … Vor allem liegen ihm solche Genres wie Reportage, Porträt und Feuilleton.“ Soweit – so gut. Weiter im Text hieß es jedoch: „In seinem Urteil ist er zum Teil sehr absolut. Das führte gerade in komplizierten politischen Situation dazu, dass sich der Prozess, den politischen Kern einer Sache zu erkennen – und das war zumeist des Pudels Kern! – verzögerte.“
Mit diesem kaderpolitischen Rucksack kam er für anderthalb Jahrzehnte zur kulturpolitischen  Wochenzeitung „Sonntag“. Sie wurde vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung zuerst Deutschlands, dann der DDR, herausgegeben, den Wolfgang kurz und bündig B.f.K., Bund für Kultur und Hobbywesen nannte. Im ironisch-sarkastischen Rückblick, galt der „Sonntag“dem Zeitzeugen Sabath, als philosophisches Wochenblatt für Guppykunde, Zeitgeschehen und Kultur. Näheres und Erhellendes ist im Büchlein „Das Pissoir“ nachzulesen. Es erschien in zwei Auflagen, 2001 und 2005.

In den sechziger und bis Ende der siebziger Jahren, einer Zeit beruflicher Bindung an „Forum“ und „Temperamente“, schließlich an den „Sonntag“, wuchsen Wolfgang in einer Ehe mit Ursel, die Söhne Steffen und Frank, und nach der Scheidung von ihr, in einer Lebensgemeinschaft mit Regina, die Tochter Anna zu. Diese Jahrzehnte waren sowohl für die Kinder, als auch Wolfgangs Partnerinnen und schließlich für Wolfgang selbst, sowohl glückliche als auch schwierige Jahre. Schwierig nicht nur in den Lebensbedingungen, sondern schwierig auch in den Beziehungen …
Ab 1980 begann in Ahrenshoop, wo Wolfgang mit Anna und Steffen Erholung suchte, verhalten zuerst, die Liebesbeziehung zwischen Wolfgang und Christine, der Anfang einer glücklichen Verbindung. Mit Christine kam Juliane in die neuentstehende Familie, 1982 folgte Paul als jüngstes Familienmitglied. Der „alleinerziehende Vater“ ging in der Familie auf. Alle Kinder gingen, suchten und fanden, Widrig- und Schwierigkeiten zum Trotz, ihren eigenen Weg, alle bissen sie sich durch. Ihr Verhältnis zu Wolfgang gestaltete sich Schritt für Schritt zu einem vertrauensvollen, kameradschaftlichen und letztendlich liebevollen Verhältnis. Das gab auch ihm Rückhalt.

Als die schwierigen Zeiten des „Waaaahnsinns“ anbrachen, wäre Wolfgang nicht Wolfgang gewesen, hätte er nicht die Chancen des Umbruchs, wieder einmal eine Revolution von oben in deutschen Landen, erkannt und genutzt. Nicht für sich, wie die Schnäppchenjäger unterschiedlichster coleur, sondern für „unsere Sache“ wie nicht nur sein Freund Heerke erinnert. Wolfgang schrieb nunmehr für den „Straßenfeger“ – solange seine Arbeit Obdach- und Arbeitslosen zugute kam. Wolfgang, der weder der SED noch einer anderen Partei angehört hatte, trat nunmehr, als die Waschkörbe vor oder in den Parteibüros von den Mitgliedsbüchern der vorgeblichen „Kampfgemeinschaft Gleichgesinnter“ überquollen, in die Partei des demokratischen Sozialismus ein – solange, bis ihm die Fisimatenten neuer Bestimmer über waren. Seine Kolumne für die „Utopie kreativ“ führte er selbstverständlich auf die ihm eigene Art streitbar, zur Debatte anregend, geschliffen und sarkastisch weiter.
Kurzum: er leistete sich auch unter grundlegend anderen Bedingungen, nicht nur den Luxus eigener Meinung und eigener Wertmaßstäbe, er handelte auf diesem Fundament produktiv und rigoros. Dieser schöpferische Impetus hieß ihn gemeinsam mit Jörn Schütrumpf, Heinz Jakubowski und einem Fähnlein der Aufrechten, dem Freundeskreis, an der Wiege des „Blättchens“ stehen, das die  demokratische Zeitschriftentradition der „Weltbühne“ nicht im Orkus der Wende versinken ließ. Jörn Schütrumpf und Heinz Jakubowski haben aus gegebenem traurigem Anlass an die Entstehungsgeschichte des „Blättchens“ erinnert. Jörn über Wolfgang: „Er war das „Blättchen“, Heinz: Ohne ihn  hätte es das „Blättchen“ nach 2009 nicht mehr gegeben. Wer von den “Milchbärten” nachlesen will, was Wolfgang etwa im Jahrzehnt zwischen 1997 und 2007  publiziert hat, dem sei der Sonderdruck ans Herz gelegt, den Jörn Wolfgang zu dessen 70. dediziert hat. Ein biografischer wie bibliographischer Leckerbissen. Unbezahlbar.

In der Nachfolge Jörns wurde Wolfgang 2009, für die kurze, ihm noch gegebene Zeit, Steuermann und Kapitän des „Blättchens“, saß dabei wie immer auf der Ruderbank und legte sich in die Riemen. Blieb allzeit primus inter pares und spiritus rector in einem.
Blieb  fleißiger Autor, erst Recht nach der Wiederauferstehung in einer Online-Version, seinem nunmehr endgültig letzten Kind, das von einer neuen, jedoch vertrauten Redaktion und der Autorenschar aller zwei Wochen ins Netz gehievt wird. Wünschen wir dem „Blättchen“ Unsterblichkeit, „der Sache“ wegen, der Wolfgang einen Großteil seines Lebens widmete.

Zunehmend nahm er sich mehr, unterm Strich betrachtet, insgesamt zu wenig, Zeit für sich, für die Familie. Mit Christine, die er in deren letztem Lebensjahr hingebungsvoll pflegte, oder mit seinen Kindern ging er, nunmehr nicht mehr wie früher mit dem Fahrrad oder dem Moped, auf Reisen. Mit Christine in das nahegelegene, ihm wie ihr nahe, am Herzen liegende Polen. Von den Waldkarpaten im Länderdreieck zwischen Polen, Ukraine und der Slowakei, bis nach Mielno an der Ostseeküste. Mit Steffen fuhr er zum Fischfang, in die Uckermark, zu den Rohrdommeln. Mit Paul und Frank ging es in die USA.
Früchte dieser und weiterer Reisen sowie Begegnungen, erschienen als Bücher oder, wie die „Ausflüge in Galizien“, im „Blättchen“. Nach Waren fuhr er zu Julianes und Marcos Familie, freute sich auf die Enkelbesuche dort, wie auch auf gemeinsame Musestunden mit Anna und Karian im heimatlichen Pankow. Zeit nahm er sich für Konzertbesuche und Bücher, nicht nur, aber sehr oft polnischer Autoren. Zeit nahm er sich auch für Diskussionsrunden und  für Wanderungen an der und hinter die Oder. Für`s Collegium Polonicum (Slubice), der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/O., stiftete er eine von Christine angelegte Dia-Sammlung zur Kunstgeschichte in Polen. Zeit nahm er sich zu Begegnungen mit Freunden, kam gerne zur Jause oder zum Mittagessen, oftmals nicht ohne Selbstgebackenes als Mitbringsel. Zeit nahm er sich auch für den wöchentlichen Einkaufsbummel auf dem Pankower Wochenmarkt wo er von der polnischen Kioskbetreiberin ebenso freundschaftlich willkommen geheißen wurde, wie vom Eierhändler aus Buchholz.
Dieser Alltag und Neubeginn Wolfgang Sabaths wurden vor nunmehr einem Jahr durch eine schwere, wie sich bald herausstellte unheilbare Krankheit, einen Hirntumor, unterbrochen. Wolfgang wäre nicht Wolfgang gewesen, wenn er nicht den Kampf auch gegen diese Bedrohung aufgenommen hätte. Unterstützt von seinen Kindern, die ihn umsorgten, ihm das Gefühl von Wärme, Geborgenheit, gaben, bis in die letzten Stunden um Wolfgang waren. Unterstützt auch von den Freunden, die ihn nicht allein ließen. Sie erzählten ihm, der zuletzt nicht mehr lesen und zu allerletzt auch nicht mehr sprechen konnte, was es Neues, vor allem auch im „Blättchen“, gab.
Ihm, dem es gegeben war, in  seinen Texten und Gesprächen die richtigen Worte zu finden, ihm, mit dem nicht nur gut Nachdenken und Reden, sondern auch gut Schweigen war, dürfte es eine besonders schwere Bürde gewesen sein, sich nicht mehr artikulieren zu können. Er trug sie, zornig manchmal, aber mannhaft.
Im Hospiz der Caritas verbrachte Wolfgang, umsorgt von Pflegerinnen und  Physiotherapeuten, zusehends schwächer werdend, seine letzten Lebenstage.
Er ging, ruhig, erhobenen Hauptes – seine geballte Faust war ein letzter, ein stummer Ruf.

Möge die Erde ihm leicht sein!

(Trauerrede, gehalten von Gerd Kaiser am 29.04.2011.)

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Um Worte warst Du nie verlegen. Geradeaus, unumwunden und zuweilen ungehobelt bekam sie jeder zu hören – wirklich egal wer. Und dass Dir die Krankheit gerade die Sprache als erstes genommen hat, war das Schlimmste für Dich. Als Du gemerkt hast, dass die Wörter nicht so aus Dir heraus kamen, wie Du es wolltest, hast Du eben nichts mehr gesagt. Du hast Dich geweigert, mit Gesten auszuhelfen. Das war nicht Deine Sache.
Bei unseren letzten Ausflügen schob ich Dich mit dem Rollstuhl durch Pankow – doch Du wolltest nicht in den Park, Du wolltest was erledigen. Zielstrebig lotstest Du mich in die Drogerie zu den Lesebrillen. Also kauften wir eine, weil du hofftest, damit endlich wieder lesen zu können. Es half nicht. Auch nicht die zweite Brille, die wir bei Deinem allerletzten Ausflug kauften. Dennoch hast Du bis zuletzt die Tageszeitungen um Dich gescharrt. Wie früher. Und wenn ich Dir erzählen wollte, was so in der Welt passiert ist – hast Du abgewinkt. Du wusstest es schon längst. Woher auch immer. Dass man Zeitung zu lesen hat und dass einen die Welt was angeht, hast Du uns, Deinen Kindern, mitgegeben. Du hast uns beigebracht, dass man dich abends, wenn Nachrichten im Fernsehen kommen, nicht stören darf. Aber auch, dass Lohn nicht immer Geld bedeutet.
Jahrelang, bis Du es wegen der Krankheit nicht mehr konntest, hast Du mit den vietnamesischen Nachbarskindern Lesen und Schreiben geübt – einfach so. Weil Du es richtig fandest.
Und als der „Sonntag“ zum „Freitag“ wurde und immer weniger so, wie Du es wolltest, hast Du Dich lieber in den „Vorruhestand“ schicken lassen als Dich zu verbiegen. Ruhe hast Du trotzdem nicht gegeben. Hast weiter geschrieben, für den guten Zweck. Im Handumdrehen bedientest Du gleich mehrere Kolumnen, schriebst Artikel und auch Bücher. Da gab es kein Gewese drum. So etwas wie eine Schreibblockade kanntest Du nicht. Du musstest Dich einmischen. Mit stoischer Gelassenheit und ohne Klagen hast Du dem „Blättchen“ auf die Welt verholfen und es ein gutes Dutzend Jahre wie ein Kind umsorgt und gepflegt. Auf dass es immer weiter geht.
Ich bin dankbar, dass Du mein Vati warst – dass Du mir jeden Morgen den Grießbrei gekocht hast (mit viel Zucker!), mit meinem „Kippelbett“ geschaukelt, mir allabendlich Volkslieder gesungen, mir Radfahren und Schwimmen beigebracht hast, sonntagnachmittags „ums Karree“ spaziert bist – genau so, wie ich nun mit meinem Kind. All die immer wieder kehrenden alltäglichen, kleinen, liebenden Dinge. Darin warst Du wunderbar.
Wenn Du mich morgens in den Kindergarten brachtest, hatte ich nur bis zur nächsten Ecke Zeit, um die Richtung vielleicht noch zu ändern. Ich wollte nie nach rechts in den Kindergarten, sondern lieber mit „auf Arbeit“, also nach links zur U-Bahn. Manchmal hatte ich Glück. Dort, in der Redaktion am Hausvogteiplatz, habe ich mit Dir meine ersten Schreibversuche auf der Schreibmaschine gemacht. Alles, was ich für meinen Beruf gelernt habe, habe ich von Dir: Frei von Dünkel neugierig und unbestechlich sein. Ich will’s versuchen!

Anna Scheer

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Er redete nicht viel – nicht über sich selbst, über seine Partnerschaften, über seine Kinder. Es bedurfte immer eines Anlasses: eines Namens, eines Ereignisses, eines Textes. Auch dann sprach er meistens nur in Nebensätzen. Beim Durchblättern neu eingetroffener Bücher hielt er einmal inne und zeigte auf ein Bild: Das hier sei sein Großvater. Es war ein Foto von der Einweihung der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes bei Bernau 1928 – in der Mitte ein alter Mann mit Stock: Gustav Sabath (1863–1952), Urgestein der deutschen Arbeiterbewegung, erster ADGB-Vorsitzender von Berlin und vor 1933 letzter Berliner SPD-Vorsitzender, 1917 bis 1922 Mitglied der USPD.
Wolfgang wußte von der Arbeiterbewegung mehr als all die bestallten Parteihistoriker, hatte alles gelesen und konnte wunderbar über die gut gepflegten Blindstellen, Lügen und Entstellungen zyneln – ohne je zynisch zu werden.
Nein, in die SED sei niemand aus der Familie gegangen; alle seien Sozialdemokraten geblieben. Die Sozialfaschismusbeschimpfungen ließen sich einfach nicht vergessen; nie hätten sich die Kommunisten dafür entschuldigt. Was nicht hieß, dass es mit einzelnen Kommunisten nicht Umgang gegeben hätte. Hermann Duncker und sein Großvater hätten sich gelegentlich auf Fahrten an die Ostsee, auf denen ihn Wolfgang als Kind begleitete, auch privat getroffen.
Er redete viel – wenn es nicht gerade um ihn ging. Für den Reporter der Studentenzeitschrift „Forum“ hatten nach der Barbarei der 11. Plenums (Dezember 1965) die Genossen aus dem Zentralkomitee eine eigene Lex erlassen: Als einzigem Journalisten der DDR wurde dem Achtundzwanzigjährigen der Zutritt zu jeglichen staatseigenen Betrieben untersagt. Seine Reportagen hatten Unwohlsein ausgelöst, denn er schrieb über das arbeiterbewegungslose Arbeiten und Leben der Arbeiter im Arbeiter-und-Bauern-
Staat – und verletzte damit eines der am besten gehüteten Staatsgeheimnisse der „Diktatur des Proletariats“. Als ich ihn darauf ansprach – ich hatte die „Lex Sabath“ in den Akten gefunden –, war er ganz erstaunt: Er hatte sie vergessen, es war ihm nicht wichtig. Sollten andere von ihren Heldentaten reden, er schrieb.
Und wie! Artikel, Bücher, Porträts, Reisebeschreibungen – nach deren Lektüre man oft mehr wußte, als wäre man selber auf Reisen gegangen. Wolfgang schöpfte nicht nur aus einem großen Fundus, sondern bereitete sich jedes Mal vor; still, zäh, diszipliniert – und trotzdem mit viel Lust. Denn nichts bereitete ihm so viel Lust wie die Befriedigung seiner Neugier.
Er konnte rauh sein. Aber selbst dann noch hatte er Stil. Im kleinen Finger hatte er mehr Geschmack und Stilsicherheit als die meisten selbsternannten Ästheten. Daß ihn viele für einen Juden hielten, hatte er früh gelernt, nicht zu kommentieren. Denn oft hatten Anspielungen auf seine vermeintliche jüdische Herkunft eine wenn auch nicht greifbare, so doch spürbare antisemitische Note. Sich mit solchen „Ariern“ gemein zu machen, war ihm zuwider.
Als ich ihm den bevorstehenden Bankrott des „Blättchens“ bzw. meine Unfähigkeit, weiteres Geld in das Unternehmen zu pumpen, eröffnete, erwartete ich, daß er im Netz weitermachen würde – und das erklärte er mir auch sofort ohne Nachzudenken. Denn er war das „Blättchen“. Ich gab ihm das Versprechen, daß ich mich ganz zurückziehen und ihm und künftigen Mitstreitern nie reinreden würde. Leute, die nicht loslassen können, waren ihm genauso ein Greuel wie mir.
Sein Anruf wenige Monate später traf mich ins Mark: Ja, es habe ihn erwischt. Was jetzt kommen würde, hatte ich schon mehrmals erlebt. In der Erinnerung überdecken die letzten Bilder alles davor Gewesene – es ist einer der gemeinsten Streiche, den uns unser Hirn spielt.
Als Konrad Wachsmann, der Architekt von Einsteins Haus in Caputh, mit Hilfe Einsteins endlich in die USA einreisen konnte, empfingen ihn Freunde mit dem Rat, Einstein so in Erinnerung zu behalten, wie er ihn aus Berlin kannte – der Anblick seines Persönlichkeitszerfalls mache die einstige Größe des Menschen vergessen. Und helfen würde es Einstein auch nicht. Wachsmann gab widerstrebend nach.
Ich habe es auch so gehalten.
Danke, Wolfgang.

Jörn Schütrumpf

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„Paul Oswald ist zurück“, hieß es im Probeheft des Blättchens; damals verlegenheitshalber noch mit zierlichem Schriftzug auf dem Umschlag versehen und noch unvollkommener als heute; jawohl, das ist möglich! Wie es eben ist, wenn man ohne Zeit und Geld, dafür aber mit Lust und Leidenschaft daran geht, eine Zeitschrift zu gründen, die in der Landschaft zu fehlen schien – gottlob nicht nur den Akteuren. Die Freude an Paul Oswalds Mittun war wohlbegründet. Wolfgang Sabath, von dessen Zweitnamen die Rede ist, hat sowohl Denkungsart als auch Feder, die jedem Druckwerk, dessen Macher sich – weitgefasst – als Linke verstehen, gut zu Gesicht stehen: anregend und streitbar; wunderbar zu lesen sowieso.
Und so war Wolfgang dabei, als nach der Nullnummer vom Dezember 1997 wenige Wochen später am Heft 1 gebastelt wurde. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn in Pankow saßen fünf Leutchen mit den Einzelblättern jenes Heftes stundenlang an einem runden Tisch, sortierten, falteten und legten die Seiten so zusammen, dass Jörn Schütrumpf, Begründer und Herausgeber des Heftes, sie dann an der Maschine der Druckerei falzen und klammern konnte; eine Maßnahme zur Kostenersparnis, die schon ab der Nummer 2 beim Mehrfachen der zaghaft bemessenen Startauflage nicht mehr praktikabel war. Bald schon standen aber dann regelmäßig Sabaths Texte im Heft. Und wie allseits erwartet: Sie zu lesen, machte Spaß, wenn auch nicht unbedingt jenen, die er textlich mit gewöhnlich ätzendem Spott bedachte. Indes: Wolfgang war alles andere als ein Zyniker, dem Häme als Perspektive seiner Weltenschau Genüge tat. Dafür war er – im wahrsten Sinne des Wortes allzeit – viel zu gradlinig; eine jener menschlichen Eigenschaften, die nominell hoch im Kurs stehen, real aber erheblich seltener anzutreffen sind. Sabath vermochte eine Menge über eben jene Ehrlichkeit zu veranschaulichen, die hier gemeint ist. Zu hören, was jemand ohne taktisches Kalkül denkt, ist schließlich – spätestens, wenn man der Gegenstand solcher Aussagen ist – nicht immer nur angenehm. Das haben auch all jene erfahren, die vergeblich versucht hatten, Wolfgang Sabath für die Mutter aller Siege, die Partei der Arbeiterklasse, zu gewinnen oder ihm mit ihr zu drohen. Wolfgang Sabath blieb draußen – und war wohl dennoch ein sehr viel besserer, weil ehrlicher Mitstreiter als sehr viele derer, die das Parteibuch vorzugsweise als Vorzeigegewissen mit sich führten.
Mit Offenheit, wie Sabath sie praktizierte, ist ein unschätzbarer Vorzug verbunden: man weiß, woran man ist; so oft kommt das nicht vor. Wer empfindlich ist, wünscht sich Leute wie ihn gelegentlich zum Teufel. Aber wer zugleich auch zu schätzen weiß, sich an jemand anderem zu reiben, wenn dieser nur klug genug ist, auf dass sich solche Reibung lohnt, der möchte irgendwann einen solchen Wetzstein nicht missen.
Wolfgang konnte – was so selbstverständlich klingt, dies aber überhaupt nicht ist – sich als Autor in einer wunderbaren Sprache klar ausdrücken, unprätentiös ohne Originalitätshascherei, und trotzdem originell. Ironie, ohne die es bei ihm kaum abging, ohne sich je darauf zu reduzieren, wusste er dabei als feine Klinge ebenso einzusetzen wie als Ätznatron mit Tiefenwirkung. Nun ja, und wenn Wolfgang mit seinen geliebten Granteleien mal offenkundig danebenlag, dann rollte man halt die Augen und verstummte besser. Man war dann chancenlos, weil der auch sich selbst nicht ausnehmende Ironiker „bekennender Verteidiger und Pfleger seiner Vorurteile“ war.
Ohne Wolfgang Sabath wäre das Blättchen nicht nur um einen geistvollen und streitbaren Autoren ärmer gewesen. Ohne ihn hätte es eine ganze Reihe von Autoren nicht gegeben, die er für die so verlockend honorarfreie Mitarbeit gewonnen hat und mit denen er eine ansonsten eher vernachlässigte Kontaktpflege betrieb. Ohne ihn hätte es in der ohnehin höchst unorthodoxen Redaktionspraxis nicht den profunden Überblick über Gedrucktes und Ungedrucktes gegeben. Ohne ihn hätte es deutlich weniger von produktivem redaktionellen Streit gegeben, ohne ihn aber auch nicht jenes fast blinde Zu- und Vertrauen zueinander, das uns so reibungslos und in allem Wichtigen fast naturwüchsig im Einverständnis sah. Und das galt, auch wenn die dreiköpfige Redaktion des gedruckten Heftes in Alter und beruflicher Biografie etliches an Verschiedenheiten aufzuweisen hatte. Ohne ihn, ach ja, ohne ihn …
Zumal, ohne Wolfgang Sabath wäre das Blättchen nach der Einstellung seiner gedruckten Existenz bereits Geschichte. Seine Liebe zu dieser kleinen Zeitschrift, die – was nicht so schrecklich viele andere von sich sagen können – wirklich unabhängigen Journalismus betreibt, hat ihn Ende 2009 sogar über den Schatten seiner mangelnden IT-Kenntnisse springen und sich auf eine Online-Variante einlassen können, wie diese in nun zweiter Fassung hier vorliegt.
„Es nutzt zwar nichts, macht aber Spaß“ hatte mir Wolfgang als Widmung in jenes Bändchen geschrieben, in dem seine Blättchen-Texte der Jahre 1997 bis 2007, dem Jahr seines 70. Geburtstages, versammelt sind. Gewiss: Der Nutzen dieser Publikation ist überschaubar, mindestens aber schwer messbar; Illusionen oder gar hochfliegende Ambitionen haben wir diesbezüglich nie gehabt, bis heute nicht. Dass der Nutzen aber doch über dem Null-Punkt der Interessensskala liegt, haben wir nicht zuletzt der großen Zahl des Bedauerns über das seinerzeitige Print-Ende entnehmen können und aus den damaligen Wünschen, es doch wenigstens online zu versuchen. Dass dieser Wunsch erfüllt wurde, ist – neben der erforderlichen technischen Hilfe, die wir dafür erhalten haben – Wolfgang Sabath zu danken.
Nun hat die Redaktion des Blättchens also ihren Doyen verloren, ich selbst jemanden, der mir in den vergangenen 14 Jahren zum Freund geworden ist.
Salut, Wolfgang! Wir werden uns Mühe geben, Dich nicht zu enttäuschen. Denn ein bisschen nutzt das Blättchen ja vielleicht doch …

Heinz Jakubowski

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Das erste Bild, das mir spontan beim Gedanken an Wolfgang Sabath einfällt, ist eine Szene im Wohnzimmer des damaligen Blättchen-Herausgebers Jörn Schütrumpf, das zugleich als Redaktionsstube diente. Es war der Frühsommer 2000, es war heiß, draußen donnerte in regelmäßigen Abständen die S-Bahn über die Schönhauser Allee. Wir saßen um einen kleinen Tisch, diskutierten die nächste Ausgabe, tranken wie immer viel zu viel Kaffee. Wolfgang hielt Ausdrucke in der Hand, er ging sie zügig durch, er las alle eingehenden Texte immer sofort. Aber wenn ihm etwas gegen den Strich ging, er etwas „blödsinnig“ fand (und davon gab es immer einiges), war ihm die Zeit egal: dann diskutierte und stritt er leidenschaftlich. Doch bei allen Debatten, Redaktions- und Korrekturarbeiten vergaß er nie, sich aufmerksam und liebevoll nach meinem kleinen Sohn und dem Befinden meines dicken Bauches zu erkundigen – ich erwartete gerade mein zweites Kind, und Wolfgang, selbst Vater von fünf Kindern, nahm auf rührende Weise Anteil.
Er hatte mich 1998 in die Redaktion des frisch gegründeten Blättchen geholt. Kennengelernt hatten wir uns ein paar Jahre zuvor bei der Arbeit für die Obdachlosenzeitung „Strassenfeger“, in der Wolfgang regelmäßig eine Kolumne schrieb: Sie hieß „Schnittstelle – die alternative Presseschau“. Es war eine typische Wolfgang-Kolumne: Nachdem er unglaubliche Mengen von Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichten durchforstet hatte, pickte er sich die interessantesten politischen, gesellschaftlichen oder auch einfach skurrilen Meldungen heraus und schrieb darüber voller Lust und mit Witz, mit spitzer Feder, leichter Hand und geschliffener Sprache. Ganz beiläufig brachte er politische Analyse und Kritik in ein paar pointierten Sätzen unter. Es war immer ein Genuss, die „Schnittstelle“ zu lesen, die jedes Mal mit den Worten „schneuzfest und gefühlsecht“ endete. Und über der Kolumne war ein typisches Wolfgang-Foto zu sehen: langer grauer Rauschebart, Augen, die klug über den Rand seiner auf die Nase geschobenen Brille schauten.
Inzwischen hatte er auch einige Bücher veröffentlicht, wie „Peanuts aus Halle“: eines der ersten Bücher, das bereits in den 90er Jahren die unglaublichen Goldgräberbetrügereien westlicher Geschäftemacher im Osten beschrieb.
Es wunderte mich deshalb gar nicht, dass Wolfgang nun eine Zeitschrift machte, die die Tradition der „Weltbühne“ von Jacobsohn, Ossietzky und Tucholsky fortsetzen wollte: eben das „Blättchen“. Ein zunächst abenteuerliches Unterfangen, vom Wohnzimmer aus betrieben, natürlich ehrenamtlich, mit viel Improvisation, aber wir kannten das ja nicht anders mit all den Projekten nach der Wende. Wolfgang, der zu DDR-Zeiten bei so renommierten (und einem der wenigen kritischen) Zeitungen wie dem „Sonntag“ gearbeitet hatte, stand in seiner Art zu schreiben in guter Tucho-Tradition: feuilletonistisch, politisch, kommentierend. Er hatte Freude an den kleinen „Bonbons“, den oft aberwitzigen Auswüchsen des Politik- und Medienbetriebs, die er aufpieksen konnte, beispielsweise in den Antworten und Bemerkungen.
Aber vor allem war er ein aufmerksamer Redakteur und umtriebiger Kümmerer, der unermüdlich den Kontakt zu Autoren hielt, Texte organisierte, redigierte und korrigierte, ein richtiger „Blättchenmacher“ eben. Debattieren konnte man mit ihm ganz wundervoll, zum Beispiel über so umstrittene Themen wie damals die „Green Card“, die die rot-grüne Bundesregierung einführte. Wolfgang war durchaus polemisch, auch cholerisch, aber nie ausfallend oder unsachlich. Manches war ihm einfach zu hektisch, zu „neumodisch“, aber er verlor nie das Wichtigste: Humor und die Fähigkeit zur Selbstironie. Wolfgang war komplett uneitel, und er nahm sich selbst nicht bierernst. Das machte das Arbeiten mit ihm bei allem Stress so heiter: Es machte einfach Spaß, mit einem so klugen Kopf zusammen Zeitung zu machen, von dem man eine Menge lernen und mit dem man viel lachen konnte. Mit ihm zusammen Redaktion zu machen, zu redigieren und zu korrigieren war wie gelungenes Ping-Pong, bei dem man sich gegenseitig Bälle zuspielt.
Dass ausgerechnet ein so kluger und leidenschaftlich belesener Kopf wie Wolfgang durch die Krankheit plötzlich nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben, nicht mehr sprechen konnte – diese Tragik lässt sich nicht in Worte fassen. Es hat in den letzten Jahren viele schreckliche Verluste gegeben, Menschen, die starben, viel zu jung, die man immer vermissen wird.
Jetzt gehört Wolfgang auch dazu.

UIrike Steglich

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Das wäre für Wolfgang Sabath keine Option gewesen. Ihn interessierte nicht, ob er sich beliebt oder unbeliebt machte. Ihn interessierte, ob er seine Meinung halbwegs deutlich formulieren und seinem Gegenüber vermitteln konnte. Das war oft gar nicht so einfach, denn er suchte den kurzen Weg. Was heißt, er präsentierte den Endpunkt seiner Überlegungen, ließ offen, wie er dahin gekommen war. Das provozierte bei dem einen oder anderen Missverständnisse (gern auch bei den jeweiligen Chefredakteuren), die gelegentlich in lautem Disput ausgeräumt wurden. Dabei schälte sich meist eine bedenkenswerte Logik heraus, die so oder ähnlich ohne ihn nicht beachtet worden wäre.
Als Wolfgang Sabath vom gerade eingestellten Forum zum Sonntag kam, ging ihm der Ruf eines Querkopfes voraus. Gerade so einen konnte der Sonntag gut brauchen, der sich gern als quer sah, aber selten quer war. Sabath verabscheute Floskeln und vorgestanzte Sätze, das ganze „Parteichinesisch“ kam ihm nicht über die Lippen. Seine Zugeständnisse an den in der DDR üblichen Pressebetrieb erschöpften sich darin, gelegentlich auch einmal still zu bleiben. Ansonsten schrieb er: Reportagen, die hinter die Fassade schauten, Kommentare, die sich an Details festmachten und den üblichen Strich verweigerten, Feuilletons, die – entgegen dem Eindruck, den der Mann so gerne hinterließ – einfühlsam, fast sanft daher kamen, Gute-Nacht-Geschichten für Kinder. Sein soziales und politisches Engagement galt immer denen, die selbst keine Stimme hatten. Das war in der DDR so, das blieb so im vereinigten Deutschland. Er konnte nicht anders. Er war einer derer, die Deutungen und Fakten streng unterschieden, sich so von äußeren Einflüssen frei halten konnten, aber niemals die eigenen Erfahrungen vergaßen. Er war geprägt von Herkunft und den 68-Diskussionen an den DDR-Universitäten. Sein umtriebiger Geist sammelte Fakten, stellte sie in das eigene Koordinatensystem und zog seine eigenen Schlussfolgerungen. Der Sonntag profitierte davon. Vor allem in den Wendejahren. Das Wahnsinn-Geschrei beeindruckte ihn wenig. Er verfolgte, was darüber hinaus passierte. Entwarf und betreute sofort eine Seite „Wochenchronik“, in der die Thesen und Debatten rund um die Veränderungen dokumentiert und kommentiert wurden, richtete die journalistische Aufmerksamkeit auf das, was an den trunkenen Wendegewinnern nach der überstürzten Maueröffnung vorbeischwappte. Für ihn war sehr schnell klar, das Interesse der Bundesrepublik würde nicht ewig dauern, wer sich unter die Fittiche von Großkonzernen begibt, gibt sich selbst auf. Eine so kleine Redaktion wie der Sonntag hätte da auch gleich schließen können.
Die Kontakte zur Volkszeitung, die schließlich in der Fusion beider Zeitungen und zum Freitag führten, stellte er her. Dass es diese gegen den Mainstream gebürstete Stimme heute noch gibt, ist mit sein Verdienst. Auch wenn ihm diese Zeitung später nicht mehr angriffslustig genug und oft nicht ausreichend sozial engagiert erschien. Er zog daraus den Schluss, es müsse mehrere Stimmen im linken Spektrum geben und beteiligte sich von Beginn an am Blättchen.

Regina General

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Gemeinsames Studium „Volkswirtschaft/Politische Ökonomie“ vor 50 Jahren an der WiwiFak der HU Berlin, und dann nie aus den Augen verloren! Was nun bleibt, sind Erinnerungen an Wolfgang Sabath, den immer Unangepassten, Grundehrlichen.
Er wusste schon damals, dass er zur Zeitung gehen würde. Ihn interessierte die Sache, unsere Sache, und alles in der Welt, was Menschen betraf – das Rechnungswesen nicht. Diesem Fach verweigerte er sich ebenso wie der Mitgliedschaft in der Partei. Als parteilosen Kommunisten sah er sich. Das ging. Doch ohne Abschluss „Rechnungswesen“ gab es kein Diplom. Wolfgang lehnte dennoch alle gut gemeinten Angebote einer Nachprüfung ab. Er hasste Formulare und Formalitäten, erwartete Verständnis für solche Haltung und blieb konsequent.
Das Wort Treue hörte ich aus seinem Munde nie. Er sprach nicht von ihr, er lebte sie – anderen, seiner Familie und vor allem sich selbst gegenüber. So werde ich Wolfgang, trauernd um diesen Freund, im Gedächtnis behalten.

Heerke Hummel

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Die Wiedergründung der „Weltbühne“ in Gestalt des „Blättchens“ war ein Glücksfall Ende der 1990er Jahre. Angesichts der Einfalt der Argumentationsfiguren der spätbürgerlichen Meinungsführerblätter und der offen zur Schau getragenen Selbstgefälligkeit des Neoliberalismus, dem nun auch die von Sozialdemokraten und Grünen gebildete Bundesregierung voller Eifer folgte, bedurfte es alternativer Medien dringender denn je, insbesondere solcher, die zwischen der Tagespresse und den langen, in aller Regel langweiligen linken Analyseartikeln liegen, eben des Formats der „Weltbühne“, auf den Punkt geschrieben, aber nicht nur auf Tagesaktualität aus, kritisch und polemisch, aber nicht mit „Schaum vor dem Maul“, wie es in vielerlei altlinker Publizistik im Westen üblich geworden war, mit einer gewissen Spannung zwischen Engagiertheit und Ironie. Die Erfahrung des historischen Scheiterns und Neubeginns 1989/90 bot eine entsprechende Grundlage. Unter der Federführung von Wolfgang Sabath und Jörn Schütrumpf konnte dies umgesetzt werden, zur Freude der Leser wie der Autoren.
Dabei war Wolfgang immer auch ein streitbarer, zur Debatte anregender Partner. Ein Beispiel ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ende 2007/Anfang 2008 hatte die CDU in Deutschland schon einmal eine gegen jeglichen Sozialismus gerichtete Kampagne orchestriert, ähnlich der Anfang 2011 zum Stichwort Kommunismus. Auf dem CDU-Parteitag im Dezember 2007 behauptete Frau Merkel, Sozialismus ende notwendig totalitär. Ich schrieb darauf im ersten Blättchen 2008, es sei zunächst auf die Geschichte zu verweisen. Der reale Sozialismus in Sowjetrussland entstand aus den Gemetzeln des ersten Weltkrieges, für den nicht er, sondern die kapitalistischen Regierungen der europäischen Staaten verantwortlich waren. Jener „reale Sozialismus“ war das Spiegelbild des Kapitalismus seiner Zeit und selbst Teil der gewaltsamen Verhältnisse der „westlichen Zivilisation“. Heute dagegen, schrieb ich, lebten wir unter der Voraussetzung von grundgesetzlich verankerten Freiheits- und Mitwirkungsrechten. Mit dem „realen Sozialismus“ sei nicht jeglicher Sozialismus untergegangen. Allerdings stehe fest: „Es kann nur ein ‚demokratischer Sozialismus’ sein, oder es ist keiner. Das ist die sozialistische Folgerung aus dem Scheitern jenes ‚realen’ einerseits und der nach wie vor zutreffenden Kapitalismus-Analyse, die von Marx herkommt, andererseits. Es bleibt dabei, dass Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist; nur kommt die Alternative nicht aus den Gewehrläufen selbsternannter Avantgarden, sondern aus mühseligen Prozessen politischer Mehrheitsverhältnisse, die unter der Voraussetzung der Demokratie immer wieder neu zu schaffen sind.“
Der Artikel erschien, wie ich ihn geschrieben hatte. Wolfgang Sabath aber war mit der Folgerung nicht einverstanden. Er wollte jedoch nicht seine Sicht in meinen Text reinredigieren, sondern antwortete in einem eigenen Text vier Wochen später und wandte ein: „Aber woher wissen wir eigentlich, dass es nicht – etwa außerhalb Europas – eines Tages Entwicklungen gibt, die uns und unsere mitteleuropäische Selbstgewissheit, um es salopp auszudrücken, alt aussehen lassen werden? Es sei denn, wir begreifen Demokratie als Selbstzweck und nicht als Methode, um Wohlfahrt, Gerechtigkeit und dergleichen zu erreichen. Aber Demokratie an sich?“
Schauen wir uns in der Welt von heute um, so ist zu sagen, Wolfgang hatte recht, und ich war zu sehr auf die scheinbar ruhigen Verhältnisse in der Mitte Europas fixiert. Als 2009 die Kraft nicht mehr ausreichte, die Druckausgabe des Blättchens fortzusetzen, war es vor allem Wolfgang Sabath zu verdanken, dass es mit der Online-Variante weiterging. Er kann nicht mehr dabei sein, aber die Fortsetzung liegt in seinem Sinne, ist das, was er wollte. Ich denke an ihn und beteilige mich weiter.

Erhard Crome

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Nur entfernt und namentlich bekannt, sahen wir uns auf einer Veranstaltung. Es mag Ende 1997 gewesen sein. Er ging schnurstracks auf mich zu und fragte ohne Einleitung: „Was ist los, Frau Hoffman, sind Sie in Schreibstarre verfallen?“ Sofort regte sich meine Schreiberseele. Und fortan verband uns das Forum des „Blättchens“.
Reger Austausch und gegenseitige Besuche kamen hinzu. Er brachte Blumen mit und eine handgefertigte Köstlichkeit: Selbstgebackenes Brot. Es war noch warm, als er es überreichte – und in kürzester Zeit aufgezehrt.
Ich lernte sehr bald Wolfgang Sabaths anregende Art schätzen. Mit Fotos und einem Bücherstapel über den polnischen Teil Galiziens und die schöne Landschaft weckte er Neugier und Reiselust. Seither geistert eine Fahrt dorthin durch meine Pläne.
Als gewissenhafter Redakteur bot er sich an, mir über die Hürde der digitalen Übermittlung von Schriftgut zu helfen. Er tat es – vom technischen Teil abgesehen – auch mit ermunterndem Zuspruch. Aus der Korrespondenz:
„Lieber Herr Sabath, mit dem Ulmer Beitrag gebe ich mein E-Mail-Debut und hoffe, dass die mathematisch-physikalischen Gedanken darin ordnungsgemäß nach Pankow in ihre Hände gelangen …“ Postwendend folgte die Antwort: wsabath@aol.com, Re: „Liebe Frau Hoffmann, es ist alles gut angekommen, vielen Dank. Sehen Sie, nun brauchen nicht mal Sie noch die „handgeschmiedeten“ Disketten – so erwischt es jeden … Herzliche Grüße aus Pankow – auch an Ihr (Mit Verlaub) Gespons – Wolfgang Sabath.“ – Und ein wenig später, mit der Übersendung des „Blättchens“ 13. Jahrgang Nr. 1: „Liebe Frau Hoffmann, vielen Dank für den Artikel. Wenn ich nicht irre, ist es der erste Text, den Sie – sozusagen – elektronisch auf den Weg brachten. Gratulation. Ihr Wolfgang Sabath.“
Ich mochte ihn und seinen hintersinnigen Humor, seine geschliffenen Beiträge und die Schlagfertigkeit im Gespräch.
Er wird mir sehr fehlen.

Renate Hoffmann

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Ob wir beide mal richtig einer Meinung waren, weiß ich nicht. Doch, natürlich: Wir wollten beide, daß es das Blättchen gibt und daß es ihm gut geht. Aber was da drin stehen soll? Da knirschte es. Woraus Sabath kein Hehl machte. Ob es mir geschmeckt habe, fragte er süffisant, beim Dankeschön-Nachmittagskaffee der Witwe. Wo bitte? Ach ja. Ich hatte einen Nachruf verfaßt. Auf einen DDR-Betriebs- und Institutsdirektor. Der war ihm nicht nur zu glatt, der schien ihm ganz und gar überflüssig. Und meine China-Texte waren ihm schon lange nicht kritisch genug, und meine Kuba-Texte sowieso, und überhaupt. – Ja, überhaupt. Wir kamen aus unterschiedlichen Welten. Er, der Journalist mit Leib und Seele, sein Ethos geschult an den Großen der Zunft und geschliffen in den Selbstbehauptungskämpfen in der DDR. Ich der Gelegenheitsschreiber, in der DDR aus seiner Sicht viel zu sehr eins mit der Macht. Da mußten Funken stieben. Aber: Sie stoben! Und immer wieder! Mit Lust auf beiden Seiten! Und eh noch der Verriß des Gedruckten – na klar: des Gedruckten; das war es ja, daß er das ausgehalten hat, das Nicht-Gewollte dennoch gedruckt zu sehen – richtig verhallt war, kam schon die Bitte, ach was, die Forderung, wieder was rumzuschicken.
Was für ein Glück, mit ihm gearbeitet zu haben.

Wolfram Adolphi

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Das Wichtigste an Dir war Deine Unbestechlichkeit. Wie ein Kompass, nie manipulierbar, immer die richtige Richtung anzeigend.
Wenn wir uns nicht sicher waren, brachtest Du uns Haltung entgegen. Politisch, journalistisch, kulturell.
Und nie pathetisch. Davon stand nichts drin in all der Zeit.
Du warst Berliner, und du hattest wenig Sinn für Feierlichkeit.
Schade, dass Du nicht mehr da bist. (Du hättest auch genau gewusst, wen wir zitieren. Gemeint ist es aber genau so.)
Gib Deine Waffen weiter, W.S.!

Detlef Kannapin/Hannah Lotte Lund

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Manchmal meint man mit Menschen vertraut zu sein, obwohl man sie nie persönlich kennengelernt hat. Mir geht es so mit Wolfgang Sabath. Er sei der “Herr über die Texte” hatte mir ein Blättchen-Autor vor einigen Jahren gesagt und der große Respekt, mit dem das gesagt wurde, war unüberhörbar. Später, nunmehr als Redaktionsmitglied, galt in der Redaktionsarbeit – auch in Streitsituationen – als entscheidend: „Wolfgang Sabath empfiehlt folgendes Vorgehen…“
„Was hätte Wolfgang Sabath gemacht?“, werden wir uns in Zukunft fragen – und fordern. Den direkten Rat schmerzlich vermissen.

Margit van Ham

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Wer in den 1980er Jahren zum Beispiel die Telefonnummer 2 08 06 81 in BerlinHauptstadtderDDR anrief, bekam ein kurzes Knurren „JaSabattt?“ zu hören und man wusste, man hatte den zuständigen Redakteur „Lebensweise“ des Sonntag an der Strippe. Das war Wolfgang Sabath. Bei ihm konnte ich gelegentlich das eine oder andere unterbringen. Manches musste ich „dienstlich“ – Anfang der achtziger Jahre war ich Mitarbeiter im Bundessekretariat des Kulturbundes –, manches machte ich freiwillig, wie ein Loblied des Plattdeutschen, das mir auf der Spurensuche nach Wolfgang dieser Tage wieder in die Hände fiel. Auf jeden Fall trieb er mir gründlich den Gebrauch von Sprechblasen aus und auf manch Versammlung, die wir mit der Sonntag-Redaktion gemeinsam zu überstehen hatten, immer mal wieder einen kleinen Splitter Widersetzlichkeit zusätzlich ein. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Im Nachwendejahrzehnt verloren wir den Kontakt zueinander. Als ich wieder zu schreiben begann, erfuhr ich, dass Wolfgang Sabath das Blättchen betrieb – mit der Weltbühne hatte ich mich Mitte der achtziger Jahre überworfen –, meldete mich bei ihm und die Stimme war so vertraut wie die Abwehr von Phrase und Liebedienerei vor welcher Scheinautorität auch immer. Von da an „lieferte“ ich gelegentlich. Regelmäßig wurde es, als er mich in der ersten Phase der online-Arbeit des Blättchen einmal anrief: „Der Herr sehen sich wohl lieber gedruckt?“ Ich hatte in Folge zwei größere Arbeiten im Neuen Deutschland platziert, das fraß Zeit und W.S. meinte wohl, ich würde nun aus Gründen publizistischer Eitelkeit das Blättchen sausen lassen. Mitnichten, ich bin jetzt heftiger dabei denn je zuvor und Schuld ist Wolfgang Sabath mit seinem knurrigen Anruf und so manches Mal riefe ich jetzt ganz gerne die „Lebensweise“ an und fragte, ob man dies nun so oder doch besser so machen könne… Einen guten Konjunktiv, nicht den der deutschen Politiker, sondern den des Deutschen, den hat er übrigens geschätzt.

Wolfgang Brauer

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Wolfgang Sabaths Rolle als eine der tragenden Säulen des Blättchens vom Anbeginn seiner Existenz bis hin zum Neustart im Internet und seine selbstverständliche, zugleich aber völlig unprätentiöse Art, diese Rolle auszufüllen, habe ich als Autor sehr schnell schätzen gelernt. Das von ihm wesentlich mit geprägte Profil des Blättchens bot immer wieder den intellektuellen Anreiz, sich mit Fragen der Zeit auseinanderzusetzen. Sich nun redaktionell in seinen Fußtapfen zu bewegen, ist eine Ehre und eine Herausforderung.

Wolfgang Schwarz

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Blättchen-Texte von Wolfgang Sabath

Die guten Durchsteller

Zuweilen sind wir betroffen oder überrascht, wenn uns zugetragen wird, was andere Zeitgenossen über uns denken, oder wie sie uns sehen. Mit diesen Urteilen läßt es sich ja leben, wenn nicht gerade Geschäfte oder berufliche Vorhaben durch üble Nachrede Schaden nehmen. Aber da wir gemeinhin nicht einmal ahnen, zu welchen Urteilen wir provozieren, finden wir uns natürlich allemal gut und sind in der Regel einigermaßen bis sehr zufrieden mit uns.
Eine derartige Selbst-Zufriedenheit berührt nun allerdings nicht nur unsere Privatsphäre, sondern auch unser öffentliches Dasein. Auch Personen des sogenannten öffentlichen Lebens wissen oft nicht genau, was über sie gedacht oder gesprochen wird, welchen Eindruck sie machen. Ob gedacht wird, er oder sie sei zickig, hysterisch, cholerisch, freundlich, gerecht, ungerecht, lustig, langweilig oder er/sie sei ein Weichei, ein Radfahrer, ein Anscheißer oder eine ausgesprochene Pfeife – es bleibt den Beurteilten in der Regel verborgen. Und da kann denn so eine Angelegenheit mitunter eine politische Dimension bekommen. Insbesondere dann, wenn die Personen, über die wir urteilen, herziehen und klatschen, in andere Lebensumstände geraten sind, die auch ihr Verhalten gegenüber ihren Mitbürgern umstülpen. Obwohl das sehr verkürzt ist, könnte man fast sagen: Die Verhältnisse haben sich geändert, ergo auch das Verhalten. Die Einschränkung „fast“ ist insofern angebracht, als natürlich Pfeifen immer Pfeifen bleiben werden und Choleriker immer Choleriker. Aber die Frage ist doch, ob diese Leute mit ihrem Verhalten in andere Leben eingreifen können oder ob wir uns einfach nur über sie ärgern – und damit basta.
Nehmen wir zum Beispiel jene Reste von einstigen DDR-Aktiven, die sich heute noch öffentlich politisch betätigen: Wenn es das Jahr 1989 und die folgenden nicht gegeben hätte, hätte unsereiner doch nie erfahren, was für nette Kollegen, Genossen, Jugend- oder Bundesfreunde das sind! Was denn, Du bist der Genosse X aus der Abteilung Agitation, bei dessen scharfen Anrufen („glasklar und knallhart!“) mein Chefredakteur immer regelmäßig Herzflattern bekam?
Und Du, Du bist jener Abteilungsleiter aus dem FDJ-Zentralrat, bei dem die Redaktion geschlossen anzutanzen hatte und der dafür sorgte, daß Ausgaben der Zeitung eingestampft wurden, und mein Kollege, der Redakteur Dr. rer. oec. Klaus Z., schließlich und endlich Bauschutt durch Berlin fuhr, weil er „nicht einsehen“ wollte? Ach so, und Sie sind der einst leitende Bundesfreund, der sich mal auf einer Betriebsversammlung des Kulturbundes nicht entblödete, anläßlich des von der Obrigkeit ungeliebten Urenkel-Buches den alten Jürgen Kuczynski maliziös einen „gewissen Professor“ zu nennen? Ach – Sie waren der Intendant, der sich immer im Großen Haus über uns beschweren ging, weil die Zeitung seine Inszenierungen nicht gut genug gefunden hatte?
Alles Schnee von vorvorgestern. Inzwischen sind das alles liebe, freundliche, umgängliche, dir auf der Straße die Hand gebende und sich demokratisch anstellende Zeitgenossen. Denn sie haben ja niemanden mehr anzuleiten, sie haben nichts mehr „durchzustellen“, und sie haben keine „personellen Konsequenzen“ einzufordern, sie haben kein Großes Haus mehr, wo sie sich vergewissern könnten. Diese, ihre derzeitige Machtlosigkeit sollten wir genießen. Wenn du dir eventuell ein Herz nähmest und wolltest diese Idylle stören, indem du sie an einst erinnerst: Ich glaube fast, sie wüßten gar nicht, wovon du sprichst. Sie glauben einfach nicht, daß sie mal Durchsteller, Anscheißer, Anleiter oder was auch immer waren. Ich fürchte, sie gäben sogar vor, nicht zu wissen, daß sie – selbstverständlich in unterschiedlichem Maße – die Macht hatten, gelegentlich auch Schicksal zu spielen.
Unsereiner glaubt es ja fast selber nicht mehr. Doch was soll’s: Da geht es den Menschen wie den Leuten. Weiß ich denn, in welcher Briefmappe jene Antwortschreiben des Redakteurs Wolfgang S. vor sich hin gilben, mit denen der einst Artikel mit fadenscheinigen Gründen ablehnte („kein Platz“), die er aus politischen Gründen für undruckbar hielt? Weiß ich denn, als was für einer ich mich den Empfängern derartiger Briefe eingeprägt habe? Sabath, diese Pfeife? Nun gut, jetzt bin ich – wie andere auch – ein lieber und umgänglicher Mensch. Bilde ich mir jedenfalls ein.

Aus: Das Blättchen 23/98

 

… hat immer noch recht

Es ist schon wie ein Ritual: Fast immer, wenn es politische Ereignisse oder Umstände gebieten, daß der PDS-Vorsitzende Bisky oder ein anderer aus dem sogenannten Reformflügel des Vorstandes zu einer Meinungsäußerung ansetzt, scheinen etatmäßige Kritiker aus den eigenen Reihen die gespitzten Federkiele schon bereitzuhalten. Anders nämlich kann ich es mir kaum erklären, daß deren regelmäßige Repliken meist schon vierundzwanzig Stunden später in den Leserbriefspalten des Neuen Deutschlands auftauchen. Dagegen ist nichts einzuwenden, Disput und Differenz beleben das Geschäft.
Neulich erst, die CDU-„penden-Affäre“ war gerade am Hochkochen und Fernsehen so spannend, wie das DDR-Fernsehen in seiner Endzeit – jeden Abend eine neue Enthüllung –, schaffte es Bisky wieder einmal, mit seiner Meinung Unmut aus den eigenen Reihen auf sich zu lenken.
Er äußerte nämlich, in der DDR hätte ein derartiger Skandal wie der jetzige um Kohl & Co. niemals debattiert werden können, öffentlich schon gar nicht: „Daß jetzt alles so konsequent rauskommt und aufgedeckt wird, wäre in der DDR nicht möglich gewesen.“ Postwendend die Leserbriefe. Der Ironiker Hermann Kant: „Wie wahr, Lothar! Nicht mal die Leuna-Werke hätte dieser Krenz verkauft!“ Und Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform der PDS, einst Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin – nach heutiger Diktion müßte es wohl Sekretärin heißen, aber das könnte zu Mißverständnissen bei Altbundesbürgern führen, die dann womöglich annähmen, es habe sich dabei nur um eine Schreibkraft der SED gehandelt – merkte an, was den „Parlamentarismus substanziell“ gefährde, könne „nicht Ausdruck seiner Stärke“ sein.
Woher der Schriftsteller und die Sekretärin ihre Gewißheiten nehmen, ist mir unerfindlich. Schließlich hatten DDR-Verantwortliche vor allem in den letzten Jahren ihres Politdaseins, als dem Land ökonomisch gesehen das Wasser Oberkante-Unterlippe stand, bereits damit begonnen, für Devisen die merkwürdigsten Sachen zu verscherbeln, Stichwort: Pflastersteine.
Darum halte ich es für denkbar, daß Egon Krenz auch die Leuna- Werke zur Disposition gestellt hätte – wenn das Politbüro und er zu der Ansicht gelangt wären, dieses geschähe zum Wohle der DDR; zwar wäre Leuna dann vermutlich nicht schnöde „verkauft“ worden, aber die Erfindung einer Wirtschaftssonderzone Leuna hätte es womöglich auch getan …
Gut, das alles können wir nun nie mehr klären. Auch deshalb können wir ja jetzt allesamt so munter drauflos mutmaßen. Doch die Leichtfertigkeit, mit der Hermann Kant und Ellen Brombacher in ihren Bisky-Leserbriefen die Verfaßtheit dieser Bundesrepublik bedenken, will ich nicht unwidersprochen lassen.
Selbstverständlich ist von Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern kaum zu erwarten, Demokratie als einen Wert an sich zu akzeptieren; von jemandem, der in der Suppenküche ansteht, sollte das auch nicht verlangt werden. Und es ist um so weniger zu verlangen, als jetzt hierzulande geradezu stündlich erlebt wird, daß insbesondere jene, die seit Jahrzehnten die große Demokratieglocke schwingen und die parlamentarische Trommel rühren, nicht Demokratie meinten, sondern ihre Brieftaschen und die Konten ihrer Parteien.
Alles zugestanden. Aber daß sich jetzt ausgerechnet auch solche Demokratiekritiker hämisch zu Worte melden, die zu ihrer Zeit jegliche Kritik – an sich oder an „der Partei“ – heftig abblockten und, selbstredend in unterschiedlichem Maße, ihren jeweiligen Einfluß gegen Kritik verschiedenster Art zu gebrauchen wußten, macht mich denn doch einigermaßen mürrisch. Und hilflos. Außerdem verwundert es mich. Denn ich verstehe ihren Mangel an Bescheidenheit nicht.
Natürlich ist Bescheidenheit eigentlich eine untaugliche und ziemlich lächerliche Kategorie. Dennoch wünschte ich, daß wir alle, die wir vor zehn Jahren aus den Tempeln gejagt wurden, mehr darüber nachdächten, warum uns solches widerfahren ist. Fein sind nur die raus, die sich nie auf nichts eingelassen und Sozialismus hatten Sozialismus sein lassen. „Alles zum Wohle des Volkes!“ – und dann von ebenjenem in die Wüste geschickt: Sollte uns das nicht wenigstens peinlich sein?
Hermann Kant hat in der Wende als einen Hauptgrund für die Feindseligkeit, mit der die Alt-BRD vierzig Jahre lang die DDR bedacht hatte, in das sehr treffende Bild gesetzt: „Wir haben uns den anderen weggenommen.“ Und das haben sie uns natürlich, bis heute, nicht vergessen. Doch Kant übersieht, daß es genügend Leute gab, die allerlei und ausreichend Gründe hatten, sich auch ihm wegzunehmen. Und Ellen Brombacher.
Jeder von uns, der auf dieses Land DDR gehofft und in ihm und an ihm mitgetan hatte – und dafür hatte es schließlich tausenderlei anständige Gründe gegeben! –, könnte Menschen finden, die sich ihm weggenommen haben. Und die heute diese Chance weidlich nutzen. Auch ich, obwohl damals zur Revolution getragen, habe mich schließlich welchen weggenommen. Das genieße ich nun.
Natürlich weiß ich auch um die neuen Zwänge und bin – hier vermutlich mit den Brombachers und Kants einig – davon überzeugt, daß wir längst nicht am Ende der Geschichte angelangt sind. Aber ob die „Summe der Repressionen“ wirklich „immer gleich“ bleibt, wie eine ostdeutsche Journalistin vor etlichen Monaten befand, bedürfte denn doch eingehenderer Analyse. Denn allein schon der Umstand, daß H.K. und E.B. – und all die anderen – ihrem Parteichef jetzt risikolos öffentlich widersprechen können, müßte sie doch den derzeit herrschenden Zuständen wenigstens etwas abgewinnen lassen.
Ich jedenfalls freue mich darüber, daß es jetzt kein SED-ZK mehr mit einem Kurt Hager gibt, bei der sich der Bücher- und Leserbriefschreiber K. über diesen Artikel hier beschweren könnte und demzufolge keine Konsequenzen für das Blättchen zu befürchten sind; und ich freue mich aufrichtig, daß eine Ellen Brombacher auf die Kommunistische Plattform der PDS zurückgeworfen ist und nie mehr kraft einer ideologischen Wassersuppe wird das Programm des Kabaretts Die Distel zensieren oder mit einer institutionalisierten Partei-Besserwisserei Künstler nerven dürfen.
Sollen sie weiterhin also Leserbriefe schreiben. Die tun niemandem weh. Höchstens Bisky. Aber das ist ja nun wirklich nicht unser Ding.

Aus: Das Blättchen 3/2000

 

Deutschland,
einig Opferland

Die Urlaubskarte kam aus dem Kurort S´wieradów Zdrój. Da auch die Zeitungen auf dem Gebiet der einstigen besonderen politischen Einheit DDR seit langem alles daransetzen, die – nun schon seit einem halben Jahrhundert geltenden – polnischen Ortsbezeichnungen ihren Lesern die sie sich zuvor fleißig angeeignet hatten, wieder auszutreiben und ihnen statt dessen die alten deutschen einzubleuen, wissen immer weniger Leute, was mit diesem S´wieradów Zdrój gemeint ist. Auch das Neue Deutschland macht da, insbesondere auf seinen Reiseseiten, keine Ausnahme. Gemeint ist das einstige Bad Flinsberg im Isergebirge.
Auf der Ansichtskarte wurde mitgeteilt, daß die Schamschwelle von deutschen Polenreisenden enorm gesunken zu sein scheint: „… Wir sitzen an einem Tisch mit zwei (West-)Berlinern. Gestern abend erinnerte sich der eine an das Lied Es steht ein Soldat am Wolgastrand, der andere an In einem Polenstädtchen. Es ist zum Verzweifeln.“ Vermutlich fand der Schreiber die geographische Zuordnung der Polit-Rülpse („Westberliner“) wichtig, weil er sich davon eine Erleichterung der Art versprach: Westberliner, na ja …
Indes: Damit läge er, so denn meine Vermutung zutrifft, etwas daneben. Denn diese Denkungsart ist natürlich kein „Westprivileg“. Allerdings hat derartiges Volk in den sogenannten Altbundesländern einen Vorsprung, der kaum wettzumachen sein wird: Als in der DDR dumm-völkisches Liedgut nur gesummt werden konnte, durfte im Westen schon gesungen werden. Für Witze mag das gleiche gelten. Und laute Reden hatten sie natürlich im Westen auch, vorzugsweise alljährlich zu Pfingsten.
Doch es fehlte nach 1989 mitnichten an Lernfähigen und Lernbereiten. Wer sich aufmerksam in Ostdeutschland umsieht, dem werden in sächsischen und thüringischen Dörfern die aufgeschmuckten Kriegerdenkmale zum Weltkrieg I auffallen, manchmal mit einer Tafel zu Weltkrieg II ergänzt. Immer frische Blumen, immer geharkt. „Unseren Helden“. Auch im Osten trauen sie sich wieder.
Gesamtdeutsch scheint sich eine neue Qualität anzubahnen. Es wird auf die Opferrolle gepocht. Grass, der Luftkrieg, die Vertreibung nebst eines dazugehörigen „Zentrums“ – es handelt sich um ein Geflecht von Opfertum. Endlich: wir die Opfer!
Die ausländische Öffentlichkeit ist ob dieser Vorgänge irritiert. Insbesondere bei den polnischen Nachbarn reibt man sich die Augen und schärft die Stimmbänder, fragt nach und stellt gewisse Angelegenheiten richtig. Das wurde letztens besonders bei der Absicht deutscher Vertriebenenfunktionäre deutlich, ein Vertriebenenzentrum in Berlin zu errichten. Besonders Marek Edelmann redete Tacheles (von Präsident Aleksander Kwas´nieski und Premier Leszek Miller dürfen solche offenen Worte nicht erhofft werden, denn die stehen für eine Gutwetterpolitik und sind außerdem vollauf damit beschäftigt, ihre real-polnische Sozialismusvergangenheit vergessen zu machen). Marek Edelman also, letzter noch lebender Kommandant der Warschauer Ghettoaufstandes. Konsequent rigoros und undiplomatisch erklärte er in einem Interview mit der katholischen Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny unter anderem:
„Die Deutschen haben für ihre Politik – unter anderem die Unterstützung Hitlers – mit der Vertreibung bezahlt.“
Dieserart Widerstände geben den Befürwortern eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ die treffliche Gelegenheit, in eine zweite deutsche Lieblingsrolle zu schlüpfen und die von aller Welt Unverstandenen und Mißverstandenen zu geben.
Gewiß, es hat besonders nach Grassens Krebsgang und vor allem nach der Publikation über den alliierten Bombenkrieg, wochen- und monatelange Debatten über das Für und Wider gegeben. Und in der Tat: Einfache Antworten sind da nicht immer zu haben. Insbesondere dann nicht, wenn bei derartigen Erörterungen (zu Recht) auch in Betracht gezogen wird, daß Völker, Bevölkerungen, „die einfachen Menschen“ sozusagen, häufig schicksalhaft in Abläufe verwickelt sind, die ab bestimmten Punkten von ihnen in der Regel nicht mehr beeinflußbar sind. Dieses Geworfensein einmal konzediert, bleibt für mich immer noch das unerklärliche (und dennoch natürlich erklärbare …) Phänomen, daß ich in den vergangenen gut vierzig Jahren noch nie – nie! – auf einen früheren Wehrmachtsangehörigen gestoßen bin, der getötet hat. Die, die ich traf, waren immer in der Etappe oder in Frankreich, oder sie waren Koch oder Schreiber. Oder Musiker; mir ist auf ewig unvergessen Hermann Kants Geschichte von jenem Manne, der vor Moskau in Gefangenschaft geriet und den Sowjetsoldaten mit dem Spruch „Ich nicht Soldat, ich Tätteretä“ entgegentrat.“ Ich bin in meinem Leben bislang nur auf Tätteretäs gestoßen.

Aus: Das Blättchen 18/2003

 

Meine lieben Polen

Krzysztof Wojciechowski, Leiter des Collegium Polonicum in Sl⁄ubice nannte seine im Westkreuz-Verlag Berlin-Bonn erschienene Text-Sammlung Meine lieben Deutschen. So denn mag, wer will, Meine lieben Polen als Paraphrase dazu auffassen. Bei Wojciechowskis Beobachtungen Deutschlands und der Deutschen handelt es sich nicht, wie der Titel des Buches vermuten lassen könnte, um Satiren; doch auch die schwer-blütige Erörterung sind des Autors Ding nicht. Er gelingt Balance, und er teilt uns mit, was er von uns hält, wie er uns sieht, was er mit und unter uns hat erleben dürfen und erleben müssen – alles intelligent, nachdenklich, humorvoll und vor allem sehr unaufgeregt. Auch bei Themen, die sich gemeinhin derartiger Betrachtungsweise sperren.
Da der Autor seine Erst-Ehe mit einer deutschen Professorentochter (Ost) vollzog, blieben ihm auch Rituale deutschen Familienlebens sowie Alltagsangelegenheiten nicht verborgen. Und da sich polnische Studenten und junge Wissenschaftler relativ rechtzeitig in der Welt (und also auch in der deutschen Westhälfte) umtun konnten, was, wie wir wissen, den Sozialismus in den Farben Polens auch nicht rettete …, kann Wojciechowski von „meinen lieben Deutschen“ berichten, weil er in Ost und West Erfahrungen machte – und auch die Unterschiede registrierte.
Das Buch reiht sich ein in immer wiederkehrende Bemühungen aufgeklärter Zeitgenossen zu (fast) allen Zeiten, gegen Stereotype anzudenken und anzuschreiben, Vorurteile abzubauen, Brücken zu schlagen. Doch so rühmlich und ehrenwert derartige Intellektuellen-Versuche schon immer waren: Ich glaube inzwischen nicht mehr an ihre Dauerwirkung. Denn jene Bevölkerungsschichten, die all überall in der Welt mit den Stereotypen über ihre Nachbarvölker leben, sie pflegen und hegen und – wo es sich anbietet – gegebenenfalls immer wieder neue dazuerfinden, lesen keine Bücher, und solche schon gar nicht. Und nehmen also solche oder andere Versuche diesbezüglicher Art kaum wahr.
Und wie dünn der Lack selbst bei jenen ist, die sich für aufgeklärt halten oder die für aufgeklärt gehalten werden, zeigt sich regelmäßig dann, wenn eine krisenhafte Situation das Verhältnis zwischen Ländern belastet. Kurzum: Gegen Stereotype scheint mir keinerlei Kraut gewachsen. Was wiederum bedeuten würde: Wir hätten sie zu akzeptieren und zu lernen, mit ihnen halbwegs zivilisiert umzugehen. Wenigstens das.
Auch das bedürfte einiger Voraussetzungen. Dazu gehört – und das ist nur scheinbar ein Widerspruch in sich – der Abbau bestimmter Stereotype. Unlängst wurde auf einer Veranstaltung der Kulturinitiative Berlin e.V. der polnische Germanist und Publizist und weithin geschätzte und beachtete Adam Krzemin´ski (Polityka, Warschau) erwähnt, der einmal auf einer offenbar ähnlich gelagerten Veranstaltung eine deutsche Nachfrage nach Antisemitismus in Polen mit dem Verweis auf Auschwitz abgeblockt haben soll.
Ich bin mir nicht sicher, ob Krzemin´ski korrekt zitiert worden ist, doch macht die Bemerkung immerhin auf ein Dauerproblem in polnisch-deutschen-deutsch-polnischen Diskursen aufmerksam: auf ein (historisch natürlich zu erklärendes) Ungleichgewicht.
Dem huldigten offensichtlich auch die beiden Referenten der Kultur-Initiative-Veranstaltung, zwei junge deutsche Wissenschaftler, die an der Toruner Universität tätig sind und an dem Abend über deutsche Polen-Stereotype im Lichte des Problems der Versöhnung referierten. Sie nämlich waren der Ansicht, es gelte in diesem Zusammenhang nach wie vor eine Art von deutscher „Bringeschuld“. Das halte ich für einen etwas diffusen Begriff; aber vielleicht ist damit nur eine spezielle deutsche Verantwortung gemeint.
Aber wenn wir es wirklich ernst meinen mit dem Hin und Her und Drüber und Rüber, dann, bitte sehr, sind beide Seiten gefordert und aufgefordert, sich zum Beispiel ihrer Geschichte und ihren Geschichten zu stellen, in voller Gänze, grenzüberscheitend.
Und zwar nicht – man muß sich ja wegen der allseits so beliebten Mißverständnisse immer doppelt und dreifach erklären … – einer ominösen Auf- beziehungsweise Gegenrechnung, sondern des gegenseitigen Voneinanderwissenwollens wegen. Ich vermag die diesbezügliche Situation in Polen nicht real zu beurteilen; aber was in Deutschland über polnische Geschichte und polnische Angelegenheiten alles nicht gewußt wird, ist zum Gotterbarmen.
Das mag zum einen daran liegen, daß es schlicht und ergreifend nicht interessiert, und zum anderen daran, daß es auch in der polnischen Historie (selbstverständlich) Vorgänge gibt, über die nicht gerne geredet wird. Und Deutschen gegenüber schon gar nicht.
Die Einmaligkeit von Auschwitz hat als Axiom zu gelten, und an dem sollte auch jedwede Relativiererei abprallen. Aber das wird mich nicht daran hindern, auch folgendes zur Kenntnis zu nehmen:
„Die Forderung, dem Judentum alle Rechte abzuerkennen und es ins Getto zu drängen, hat längst im Rechtsgefühl der legitimen Herren dieses Landes Fuß gefaßt und wird auch verwirklicht werden. Die Schaffung von Sondergesetzen für Juden steht zwar im Widerspruch zur gegenwärtigen Gesetzgebung, doch schließlich können Gesetze von der dazu befugten Regierung geändert werden. Wenn wir uns gegenseitig alles Gute zum neuen Jahr wünschen, dürfen wir nicht die Einführung antijüdischer Gesetze in der Republik vergessen.“ (Przegla˛d Katolicki vom 2. Januar 1938, zitiert nach: Henryk Grünberg: Drohobycz, Drohobycz, Paul Zsolnay Verlag 1997)
An Auschwitz war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu denken gewesen. Aber vielleicht schon an Jedwabne …?
Und außerdem möchte ich, daß mir ein polnischer Nachbar endlich einmal den Überfall Polens auf die Tschechoslowakei 1939 erklärt (unter anderem erwähnt in dem Artikel aus NIE, den wir im Blättchen 12/ 2003 nachdruckten). Und – und – und – und … – tausend Fragen.
Der Festbankette sind nun wirklich genug veranstaltet, der diplomatischen Floskeln ausreichend gewechselt, und auch weiterer gegenseitiger Beteuerungen bedarf es nicht. Weder jener deutsch-regierungsamtlichen gönnerhaften, die zu suggerieren versuchen, daß Polens EU-Beitritt weitgehend unproblematisch sei, noch jener, in denen polnische Eliten von der „Rückkehr nach Europa“ schwadronieren. Müssen wir wirklich gegenseitig auf unsere Macken Rücksicht nehmen?
Daran, daß Polen zu Europa gehört, hat doch nie jemand ernsthaft gezweifelt. Außer, vielleicht!, den Polen selber. Was nun wahrlich ihre Angelegenheit ist. Übrigens: Ich halte auch Rußland für Europa (da bekommen meine lieben Polen einen tüchtigen Schluckauf …). Aber das nun ist schon wieder ein neues Thema.
Nun denn, meine lieben Polen, und meine lieben Deutschen: An die Arbeit! Nein, leicht wird das alles nicht.

Aus: Das Blättchen 15/2003

 

Ausflüge in Galizien (I)

Der Bahnhof von Nowy Łupków liegt in der Prärie. Kniehohes Kraut, Brache. Keine Aufsicht, kein Hund, kein Huhn, kein Hahn. Der Ort einige hundert Meter abseits. Im mit Sprüchen beklierten kahlen Innenraum an der Wand ein Fahrplan. Tatsächlich, hier kommt wirklich der Personenzug von Rzesów/Polen – Kosice/Slowakei durch. Die Schienen sind blank. Nowy Łupkówin den Bieszczady ist kein Dorf mehr, sondern eine Siedlung mit inzwischen heruntergekommenen, einst Urbanität vortäuschenden Wohnblocks. „Von der Kommune“, wie die hiesigen Wendeaktivisten stets so lautmalerisch wie verächtlich zu formulieren wissen, für Wald- und Sägewerksarbeiter gebaut. Den Wald gibt es noch, die Arbeiter auch. Nur mit der Arbeit ist es vorbei. Nowy Łupków ist in Polen nicht unbekannt. Hier waren während des Kriegsrechts Regimegegner interniert.
Im Tante-Emma-Laden neben dem Bahnhof ist schon Betrieb. Das Angebot ist unüblich spärlich. Eine Reaktion auf die besonders spärliche Kaufkraft der Einheimischen? Die „Bar“ – der Imbiß – ist noch geschlossen. Sonst hätten wir vielleicht noch rasch einen Kaffee getrunken. In einem polnischen Führer war Ch. letztens auf die spöttische Bemerkung gestoßen, diese „Bar“ hier sei eine der „5. Kategorie“. Doch wegen der Völkerfreundschaft und dergleichen sei ausdrücklich darauf verwiesen, daß es gemeinhin in Polen – und in Ost- und Südostpolen schon gar – keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Qualität des Kaffees und dem Zustand der Örtlichkeit gibt, an dem er gebrüht wird. Immer nur schön um „po turecku!“ bitten, dann steht der Löffel im Glas, egal, ob in 1. oder 5. Kategorie.
Die ersten Alkis versorgen sich mit Büchsenbier. Schnaps? Ziemlich unbezahlbar momentan. Aber es gibt Hoffnung: Die Polityka titelte gestern: „Rodacy! Wódka bie˛dzie tan´cza!“ – Landsleute! Der Schnaps wird billiger! Dieses „Rodacy!“ erinnert die Polen an Giereks erste große Rede als 1. Sekretär der PVAP im Dezember 1970, in der er vor begeisterten Zuhörern (wo sind sie geblieben …?) mit großer Geste gefragt hatte: „Rodacy! Wollt ihr mir helfen?“
Auf dem Trampelpfad vom Ort her nähert sich eine junge Person, weiblich, überquert die Gleise, schließt eine Seitentür des Bahnhofs auf und öffnet den Schalter. Zweimal Medzilaborce und zurück. Die Bahnbedienstete hantiert an einem Trumm von Apparat. Der gibt einen dumpfen Stanzlaut von sich – und schwupp hast du nicht einen dieser zu Hause üblichen Compterausdrucke in der Hand (wenn wir die Bahn AG weiter so agieren lassen, wie bisher, dann wird uns Bahnchef Mehdorn eines Tages vielleicht noch mit parfümierten oder eßbaren „Fahrausweisen“ kommen …), sondern eine gleichsam „handgeschmiedete“ Fahrkarte, braun, dicker Karton. Kindheitserinnerungen.
Der Zug ist gut besetzt, die Mehrzahl der Reisenden hat wenig Gepäck, Tagesausflügler. Nach wenigen Viertelstunden fahren wir durch einen über vierhundert Meter langen Tunnel, erbaut in den siebziger Jahren des vorvorigen Jahrhunderts. Als es wieder hell wird, sind wir in der Slowakei. Grenzbahnhof Łupków. Nicht sehr groß, aber neu, piekfein bis zur letzten Türklinke. Die Personenzugverbindung gibt es erst wieder seit einem Jahr. Wahrscheinlich hat die EU (unter dem Rubrum Euroregion Karpathen) den Polen und Slowaken diesen Bahnhof spendiert, mitten im Wald. Einen Ort Łupków gibt es schon lange nicht mehr.
Wir sind an einem der in Westeuropa schon selten gewordenen Übergänge, wo noch richtig Grenze gespielt wird. In Łupków werden Zugpersonal und Lokomotive gewechselt. Die polnischen Grenzer und Zöllner scheinen die ganze Sache etwas lässiger anzugehen, sie „winken durch“. Kunststück, sie können ja demnächst an der ukrainischen Grenze Macht und Stärke zeigen. Wer zum Beispiel im grenznahen Ustrzyki Górni die neue riesige Kaserne in Form eines Forts – wie sinnig – gesehen hat, ahnt, daß sie gewillt sind, die EU-Auflage zu erfüllen, Westeuropa vor den Hungerleidern zu bewahren. Den slowakischen Grenzern hingegen ist scheinbar aufgetragen, den neuen Staat zu repräsentieren – strenge Mienen, strenge Blicke in die Dokumente, strenge Fragen. Auch das hat Gründe. Man lese – nur als Beispiel – die ungarische deutschsprachige Zeitung Der Neue Pester Lloyd: Es vergeht kaum eine Ausgabe, in der nicht Verheugens Mustereuropäer über Slowakisches (und auch Rumänisches) nörgeln – was ein aufrechter ungarischer Patriot ist, der hält (insgeheim, immerhin) die Verträge von Trianon nach wie vor für Unrecht und die Slowakei für Oberungarn …
Medzilaborce ist ein kleines Städtchen. Sehr still, und sehr aufgeräumt. Es steigen sechs Personen aus. Sonst weit und breit keine Menschenseele. Auch keine „Bar“, kein Kiosk, totales Nichts. Sind wir hier wirklich in der Stadt mit dem bekannten Andy-Warhol-Museum? Die Hauptstraße. Wenige Läden. Linker Hand eine zweistöckige Ladenpassage, vielleicht aus den siebziger Jahren. Die einst staatlichen Läden nur zur Hälfte vermietet. Und in denen, die einen Betreiber fanden, kaum Kundschaft.
Rechter Hand das Rathaus. Zweisprachige Beschriftung – slowakisch und ukrainisch. In einem Schaukasten feiern sich auf Farbfotos Notabeln von diesseits und jenseits der Grenze. Das Volk auf den Bildern ist wie immer bei solchen Gelegenheiten tümlich angescheußelt und darf Brot und Salz reichen; der Anlaß des Prominentenauftriebs: die Eröffnung der Bahnverbindung Rzesow – Kosice.
Ab und an bringt eine Gruppe parlierender Zigeuner Leben auf die Straße. Viele tragen pralle Netze mit Zwiebeln von irgendwoher nach irgendwohin. Ein Stück weiter steht an der Hauptstraße eine frisch gebaute Nobelherberge und heißt Eurotel. Gäste scheint es noch nicht zu geben. Jedenfalls stehen auf dem Parkplatz nur Wagen mit hiesigen Nummern. Auch das Restaurant U Andy ist neu – und sehr leer, so leer wie die Straßen. Wir essen Knödel, und wir trinken ein Bier. Mit dem Patriotismus des Besitzers ist es nicht weit her: Wir erhalten ungefragt ein tschechisches, kein slowakisches. Vielleicht wirtschaften hier bekennende Kosmopoliten.
Das Warhol-Museum ist ein weißer Riesenbau – und wir in ihm die einzigen Menschen. Außer der Frau an der Kasse natürlich und jenen stillen Angestellten beiderlei Geschlechts, die immer mal wieder mit Teegläsern über leere Flure huschen und lautlos hinter Türen verschwinden, an denen die Namen und Titel stehen.
Warhol ist werbetechnisch professionell präsentiert, Warhol rauf und runter, Kopien der bekannten Arbeiten und zig Quadratmeter Kopien von Familienfotos und -dokumenten, Familiengeschichte lang und breit und breit und lang. Doch eigentlich ist das Ganze ein Fake: Der Maler ist nämlich gar nicht „von hier“. Sie behaupten es auch nicht, tun aber so. Doch Julia Warholova, seine nach Amerika ausgewanderte Mutter, die stammt – auch nicht von hier. Sondern aus dem Nachbardorf. Wer sich nach dem Rundgang mit Katalogen, Postkarten, Plakaten oder mit Warhol-Schnickschnack eindecken möchte – welcher Künstler würde sich dafür besser eignen als Warhol –, fällt in heftige Depressionen: eine Postkarte, ein Plakat, kein Katalog, keine Schlüsselanhänger, keine Krawatte, kein Kartenspiel, kein T-Shirt, kein wasweißdennich – nicht eine Spur von dem, was sich Marketingstrategen anderswo ausdenken würden.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof folgen wir lauter Musik aus einem Café. Es ist eines dieser Etablissements (wir kennen solche von „früher“), wo du lange ungestört bleiben kannst … Der Kaffee ist ausgezeichnet. Nein, leider, Kuchen führten sie nicht, den gebe es nur dort drüben, in dem Café auf der anderen Straßenseite. Soviel Nostalgie hatten wir schon lange nicht mehr.

Aus: Das Blättchen 19/2002

 

Ausflüge in Galizien (II)

Zwischen den Samstagen stand die Zeit still. Sie verlor ihre leichte, durchsichtige Gestalt. Sie trieb auf, wurde dickflüssig, machte schlapp, klammerte sich an den Leib, und mein Leben glich bald einem Marsch gegen den Wind – Andrzej Stasiuk in seinem Buch Dukla, in Deutschland unter dem wohl als marktgerechter empfundenen Titel Die Welt hinter Dukla in den Buchläden. Es ist zwölf Uhr mittags. Dreißig Grad. Der Markt war wieder leer, hitzeglühend, und nur der Staub und ein einzelner Radfahrer versuchten, mit dieser viereckigen Leere etwas anzufangen, die vom blauen Deckel des Himmels verschlossen war. Dringend erhoffte Abkühlung deutet sich vorerst nur ganz zaghaft weit hinten in harmlosen kleinen weißen Schleiern an. Niemand weiß, ob daraus etwas anständiges werden wird. Fraglich ist außerdem, ob die Regenwolken nicht schon jenseits des Passes im Slowakischen unter sich lassen würden.
Rund um den viereckigen Marktplatz mit seinen vorwiegend einstöckigen oder anderthalbstöckigen Häusern Geschäfte jener Art, die Kleinstädte nötig haben, und die heutzutage nur noch in solchen Städten ihren Betreibern ein mehr oder minder ausreichendes Auskommen ermöglichen. Eine Bierhöhle, eine – derzeit geschlossene und zur Vermietung ausgeschriebene – Pizzeria, ein überbordend bestückter Backwarenladen („Firmenverkauf“) Schreibwaren, Haushaltswaren, Lampen, Lebensmittel, Apotheke, Damenmoden. Verkäuferinnen sitzen abgeschlafft auf Hockerchen im blassen Luftzug der Türöffnungen, andere dämmern im Halbschatten des Ladeninneren. Kundschaft ist spärlich, wer wird, wenn er nicht muß oder soll, mittags zwischen zwölf und eins über einen glühenden Marktplatz gehen. Nur wir schaffen es immer wieder, Punkt zwölf – und nicht gar nicht so selten auf den Glockenschlag genau – zu High-Noon ziemlich einsam auf irgendeiner Piazza zu stehen. Am Taxistand kochen drei Taxen, ihre Chauffeure sehen zu. Auf der Suche nach einer Gaststätte umrunden wir den Marktplatz. In Deutschland wird um zwölf gegessen. Wir finden keine, die uns zusagt. Nicht mal ein sogenanntes Haus am Platze entdecken wir. Das ist eine neue Erfahrung.
Schließlich landen wir wieder in jener, die uns erst nicht zugesagt hatte. Sie besteht im Wesentlichen aus einem in starkem Dunkelbraun gehaltenen großen Raum mit Tischen, auf denen Wachstuch liegt. Das Ganze war nur spärlich ausgeleuchtet. Die Gaststätte gehört dem Tourismusverband PTTK oder wird von ihm betrieben und mußte – Reste davon waren noch auszumachen – irgendwann bessere Zeiten gesehen haben. Ch. ißt dicke Bohnen, an Flaczki, die ich mir bestelle, wagt sie sich immer noch nicht heran. Weil es ihr nach wie vor nicht gelingt, sich den Urzustand dieses Gerichtes wegzudenken. Wir sind die einzigen Gäste. Ein Angetrunkener kommt von draußen und fragt laut über den Tresen, was denn schnell gehe. Belegte Brötchen gehen am schnellsten.
Wir hatten schon in Lesko in der Verlagsbuchhandlung BOSZ nach Stasiuk-Büchern geguckt. Nicht, daß wir sie unbedingt hätten kaufen wollen (nach und nach werden sie ja vermutlich alle mal auch bei uns verlegt werden), aber wir waren – naiverweise, wie sich herausstellen sollte – der Meinung gewesen, daß die hiesigen Buchhändler mit Stasiuk als sozusagen regionaler Berühmtheit protzen würden. BOSZ ist eine moderne Buchhandlung. Was in Polen vielfach immer noch bedeutet: Es wird dir als Kunde vertraut, du darfst an den Regalen stöbern, und kein Ladentisch, der als Barriere funktioniert. Aber, wir wollten es kaum glauben, sie führten nicht einen Titel des Autors. Aber dafür andere schöne Sachen, zum Beispiel ein preiswertes Buch, in dem der Frage nachgegangen wird, ob es sich bei der SS-Division Galizien um eine Verbrecherbande oder um Freiheitskämpfer gehandelt habe. Im Angebot haben sie eine CD mit Liedern vom Warschauer Aufstand. Sie hört sich wie eine polnische Variante des Erich-Weinert-Ensembles sel. an.
Die anderen zwei Buchläden Lesko (eher Schreibwarengeschäfte) hatten Andrzej Stasiuk ebenfalls nicht im Sortiment.
Doch hier ist Dukla, und hier ist Stasiuk ganz nah. Sie haben begriffen, was sie an ihm haben. Die Frau im Schreibwarenladen stapelt alle bislang erschienenen Stasiuk-Bücher vor uns hin. Wir kaufen schließlich ein Bändchen Galizische Erzählungen, treten auf den Marktplatz und sehen, es hat sich nun doch ein Gewitter herangeschlichen. Bald wird es krachen. So bringen wir eiligst den kurzen Weg vom Markt zu der in Reiseführern aller Art empfohlenen Barockkirche Maria Magdalena hinter uns – in Dukla sind alle Wege kurz –, um dort einen Blick auf das rosamarmorne Grabmal der Maria Mniszeck zu werfen. Es befindet sich in einem Seitenschiff. Die Verblichene war eine geborene Maria Amalia Brühl. Die Tochter stand dem Vater in Intrige und Großmannssucht in nichts nach, sie interessierte sich gleichermaßen für Rubens, Theater und Meuchelmorde. In der Kirche sind Handwerker zugange. Nein, diesmal kommt der Papst nicht nach Dukla, er war schon im Juni vor fünf Jahren in der Gegend. Damals sprach er den Eremiten Jan von Dukla heilig.
Wir sitzen im Auto und haben den Staub Duklas an den Fußmatten abgestriffen. Die Landstraße dampft. Nach sechs Kilometern geht es rechter Hand zu Jan von Dukla hinauf. Doch wir hatten uns dieses Sanktuarium schon auf der Herfahrt angesehen. Wir waren von der Hütte des Einsiedlers und der Kirche daneben nur mäßig beeindruckt gewesen. Sicher, weil uns die rechte innere Verfaßtheit gefehlt hatte. Am Parkplatz vor dem Aufstieg erwarb ich bei einer Marketenderin eine kleine Tüte mit Puppengeschirr. Und einen Autoschlüssel-Anhänger: Święty Krzysztof Patron Automobilistów. Man kann ja nie wissen.
Wie weit mochte Harry Rowohlt heute gekommen sein? Wir hatten ihn auf der Herfahrt überholt, als er mit einem Klapprad aus quasi vorrevolutionärer Zeit auf der langen, leeren und an Steigungen reichen Landstraße Richtung Dukla radelte. Er sah so buschig wie Harry Rowohlt in der Lindenstraße aus, war allerdings von langer, dünner Statur. Der Mann wäre uns nicht weiter aufgefallen (denn die Gegend ist nun nicht gerade arm an Madonnenschnitzern, Dichtern, Selbstverwirklichern jedweder Art), aber wir hatten den Mann zwei Tage zuvor in Ustrzyki Górne mit seinem Rad gesehen – doch dieser Ort war mindestens über hundert Kilometer entfernt von jener Stelle gewesen, an der wir ihn heute Vormittag sahen. Wohin radelte er? Dukla also. Ein merkwürdiges Städtchen, von dem aus es nirgendwo mehr hingeht.

Aus: Das Blättchen 20/2002

 

Ausflüge in Galizien (III)

Zegocina liegt – grob gepeilt – südöstlich von Kraków. Man findet den Ort an einer im Autoatlas dick grün markierten Landstraße. Das bedeutet, daß es derjenige, der sich für diese Route entscheidet, mit besonders sehenswerter Landschaft zu tun bekommen wird. Die Saison hat noch nicht begonnen, der Kurort Zegocina ist menschenleer, weit und breit noch keine Urlauber. Kein Problem also mit dem Hotelzimmer. Wir essen etwas und trinken ein Z•ywiec dazu. Ich weiß nicht, ob mir Bierkenner fol-gen würden; aber ich halte dieses Getränk für das schmackhafteste seiner Gattung, das in Polen gebraut wird. Zywiec ist ein Ort im Karpathen-vorland und hieß zu großgalizischer Zeit auch Saybusch. In einem Reiseführer von 1914 steht, „Zywiec besaß das Privilegium, keine Juden zur Ansiedlung zuzulassen. Die dortigen Bürger halten bis jetzt mit aller Energie an diesem Privilegium fest, so daß Zywiec die einzige Stadt in Galizien ist, die keine seßhaften Juden besitzt“. Gazeta Wyborcza schreibt heute über Jedwabne. Der Abschlußbericht habe bewiesen, daß die Deutschen die Anstifter des Massakers waren. Was ändert das?
Ein weißes schmales Schild: Soldatenfriedhof. Deutsche Soldatengräber von 1914, Metallkreuze, an manchen Namen und Einheit, Infanterieregiment soundso. Andere Grabstellen haben russisch-orthodoxe Kreuze, Ukrainer, Russen. Alles leidlich gepflegt. Ob es den Anforderungen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge entspricht, weiß ich nicht. Nein, viel macht der Soldatenfriedhof nicht her. Aus, vergessen, „Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich’“.
Die Erinnerung an jenen Krieg und an diesen galizischen Sterbeplatz ist heutigem Alltagsgedächtnis so gut wie entschwunden. Kein Wunder, bei so viel Krieg noch in der Folge und Heldentoden zuhauf. Immerhin: Ab und an kommt uns Nachgeborenen doch noch einer der damaligen Heldenväter unter. Inzwischen wirken sie allerdings fast nur noch komisch. In einem jetzt in Krosno erschienenen Bildband mit Reproduktionen alter Postkarten aus dem Kreis Lesko – manche davon im Stil der Zeit koloriert – finde ich so eine zeitgenössische vaterländische Verlautbarung: Oestlicher Kriegsschauplatz: Zum Sanübergang bei Dwernik. General v. Emmich hält dem Deutschen Kaiser Vortrag. Im Angebot ist ferner: Oestlicher Kriegsschauplatz: Vom Durchbruch bei Dwernik am San. Die Reste davon liegen auch hier, hier in Zegonica, südöstlich von Kraków.
Heldenfriedhof in Baligród. Der ist jüngeren Datums. Hier sind polnische und sowjetische Soldaten bestattet. Ihr einstiger General hat einige Straßenkilometer von Baligród entfernt ein großes Denkmal. Ab und an hält dort noch ein Bus, Leute steigen aus, umrunden die Anlage, sehen bei den Ukrainern vorbei, die am Straßenrand Waren anbieten, steigen wieder ein, fahren weg. Die Gräber in Baligród sind gepflegt, auf manchem liegen frische Blumen. Die Sterbedaten gehen von 1944 bis 1947. An etlichen Grabsteinen sind nachträglich Namensschilder angebracht. Am großen Denkmal steht, daß hier polnische und sowjetische Soldaten liegen, die im Kampf gegen einheimische Faschisten gefallen sind. Gemeint ist die UPA, ukrainische Gefolgsleute Adolf Hitlers. Einiges deutet darauf hin, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch die UPA rehabilitiert werden wird – antisowjetisch gewesen zu sein, ist alles. Und katholisch waren sie sowieso, wenn auch „nur“ uniert. In Przemysl⁄ jedenfalls haben die Pfaffen vor zwei Jahren schon mal probehalber an Gräbern gefallener UPA-Nationalisten beten lassen.
In Baligród hatten die UPAs vor der Kirche ein MG aufgebaut und nach dem Gottesdienst vierzig Frauen, Kinder und Männer, die aus der Kirche kamen, niedergemacht. Ein Gedenkstein erinnert daran. Vielleicht auch darum sind sie in Baligród noch nicht so weit wie in Przemysl. In Baligród sind sie erst dabei, den General der (noch) geehrten Soldaten in die Vergessenheit zu schieben. Im Spanienkrieg „General Walter“, befehligte der polnische Kommunist Karol Swierczewski Truppen, die gegen Bandera-Leute kämpften. Dabei fiel er, darum das Denkmal – das in seiner Ungepflegtheit schon wieder beeindruckt. Keine einzige Blume, nichts, absolut nichts, nur der hohe, kahle Stein. Das große Museum, das „die Kommune“ zu Ehren Swierczewskis errichtet hatte, steht noch; aber ist natürlich keines mehr. Was es ist, weiß hier niemand so genau. „Privatgelände – Betreten verboten“ steht am übermannshohen Bretterzaun. Selbst Piotr, ein hiesiger Bescheidwisser, weiß nicht, wem das jetzt alles gehört. „Ist vielleicht einer aus Schlesien gekommen.“
Piotr spielt manchmal den bekennender Galizier. Von seinem Schwager in Wien (natürlich in Wien, wo sonst) hat er sich ein Kaiser-Franz-Josef-Bild mitbringen lassen, und als eines bösen Tages der nepalesische König von seinem besoffenen Thronfolger durchsiebt wurde, besorgte sich Piotr auch ein Bild des Nepalesen, holte den Franz-Josef aus der Kiste und stellte beide einige Tage lang nebeneinander auf den Kamin in der Pension, die er in den Bieszczady mit seiner Frau Graz·yna betreibt. Monarchien als Happening – wie erträglich.
Im Nachbarland haben sie auch sonst manchmal eine bizarre Art, mit Vergangenem umzugehen. Da könnten unsere Aufarbeiter noch etwas lernen. In einem zwölfteiligen Faltprospekt Sanok und die Umgebung (Herausgeber: Rat der Stadt Sanok), in dem zeilenlang über die ältere Vergangenheit der Stadt berichtet wird und jedes Fürstenfurzes und jedes Fürstinnenpupses hymnisch gedacht wird, werden Zweiter Weltkrieg und Okkupation mit sage und schreibe 2 (zwei) Zeilen bedacht:
„Am 9. September 1939 zogen die deutschen Truppen in Sanok ein, und die Okkupation dauerte bis zum 9. August 1944.“
Wir sind zum zweiten Mal nach Lutowiska gefahren. Beim ersten Mal hatten wir den im Reiseführer erwähnten „großen Judenfriedhof“ nicht gefunden. Auf der Wanderkarte war er nicht eingezeichnet gewesen. Nun haben wir einen neuen Reiseführer: „… hinter der neuen Schule über ein Feld auf einem Hügel …“
Die neue Schule ist schnell gefunden, ein Hinweisschild gibt es nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, daß im Lutowisker Gemeinderat jener zumindest auf Unverständnis stieße, der einen derartigen Hinweis vorschlüge. Wir gehen hinter das Schulhaus, dort ist ein Sportplatz. Den lassen wir links liegen, bücken uns unter einem Koppelzaun hindurch, gehen leicht bergan über ein Feld. Der Trampelpfad wird steiler, wir nähern uns einer Baumgruppe auf dem Hügel – verwilderte alte Bäume, brusthoher Wildwuchs, Sträucher, verfilztes Gras, und immer die Steine. Viele Steine. Und keinen sehen wir, auf dem, jüdischer Sitte gemäß, ein kleiner Stein läge, von Besucherhand, von Nachkommenhand hingelegt.
Ach, denken wir einfältig, als wir vom Judenfriedhofshügel über Feld und Rain hinunter in das Dorf und auf das neue blanke Gymnasium schauen: Was für ein spannendes Objekt könnte dieser Friedhof für geschichtsinteressierte Gymnasiasten sein, und was für eine ökumenische Großtat wäre es für des Pfarrers Schäflein, gäbe man den Toten ihre Namen. Es waren doch mal Hiesige, Nachbarn. Das Problem: Erstens interessiert es nicht mehr, und zweitens: Es hat nie interessiert. Dem, was Czeslaw Miłosz für Vilnius anmerkte (es wurde unlängst von Uwe Rada in der taz zitiert), darf man wohl getrost eine gewisse Allgemeingültigkeit zuerkennen: „Auch in seiner Blütezeit war Vilnius nicht multikulturell. Vielmehr lebten die beiden Städte, die polnische wie die jüdische, für sich, ohne Interesse aneinander und von Zeit zu Zeit heimgesucht von Paroxysmen gegenseitiger Feindseligkeit.“ Wir stolpern bergab. Es kommen uns zwei Frauen und drei Männer entgegen, Ausländer.

Aus: das Blättchen 22/2002