14. Jahrgang | Nummer 5 | 7. März 2011

„Der kommende Aufstand“ – eine intuitive Wortmeldung

von Michael Geiger

Meine erster Eindruck nach oberflächiger Durchsicht des „kommenden Aufstandes“ war der: wieder keine besondere Idee, keine Vision, keine Analyse … eben ein Aufschrei, ebenso verständlich, wie hilflos. Beim zweiten Lesen „stolperte“ ich im Vorwort zur deutschen Ausgabe über folgende Passage: „Um unsere Situation zu erkennen und daraus aufzubrechen, braucht es keinen Masterplan, keine eine Wahrheit, die uns offenbart werden muss. Wir können an jeder Ecke loslegen, unser Leben in die eigenen Hände nehmen und uns gegen die herrschenden Verhältnisse verbünden.“
Geschrieben zu den Ereignissen in den brennenden Vororten von Paris und anderen Großstädten Frankreichs, bestätigt durch die Massendemonstrationen in Griechenland, erhalten die Worte, dass es mitunter keines „Masterplanes“ bedarf, erdrückende Aktualität angesichts des Umbruches im Nahen Osten. Nun treibt mich der Aufstand, nicht die gefundene Wahrheit, doch einige Überlegungen festzuhalten.
So, wie Intellektuelle seit jeher der praktischen Bewegung , dem Aufstand der Straße, skeptisch gegenüber stehen, so evident ist es, das alle großen Umwälzungen „auf der Straße“ ihren Anfang nahmen. Keine Überwindung der Leibeigenschaft ohne die Bauernkriege, keine bürgerlichen Menschenrechte ohne die Kommunarden der französischen Revolution, keine sozialistische Oktoberrevolution ohne den Sturm auf das Winterpalais. Im Übrigen ja auch keine Überwindung der verkrusteten Strukturen des realen Sozialismus ohne Montagsdemonstrationen. Insofern steckt in der vermeintlichen Ohnmacht der Straße gewaltige Macht.
Woher rührt also die Angst vor der vermeintlich ungerichteten Bewegung? Sie ist eine Bedrohung für den Status quo. Demgegenüber gehört es zu den beliebtesten Strategien Derjenigen, die den Status quo aufrechterhalten wollen, solange zu denken, zu bedenken, bis der Druck des Handelns vorüber gegangen ist und alles so bleiben kann, wie es ist.
Die Einwohner der Banlieues in Frankreich ähneln den Bürgern der Suburbs in Großbritannien, diese den Erwerbslosen in gesamtdeutschen Plattenbauten, diese wiederum haben mit den arbeitslosen Jugendlichen in Ägypten etwas Wichtiges gemeinsam: Sie haben nichts zu verlieren. Sie spüren das soziale Gefälle, die Chancenlosigkeit in ihrem Leben und den Zynismus in der Politik. Nebenbei bemerkt haben sie noch etwas gemeinsam – ihre Handys und die vernetzte Kommunikation. Die PC Kompetenz vieler deutscher Hartz-IV-Empfänger ist nach meinen Erfahrungen größer als die der Lehrer oder der Angestellten im öffentlichen Dienst.
Eine Zeitlang können die herrschenden Eliten diese Gruppen stigmatisieren. Die Mittelschichten (vormals Kleinbürger genannt) – vor lauter Angst dorthin abgetrieben zu werden – können die Nase verächtlich rümpfen. Vielleicht auch deshalb wird in konstanter Regelmäßigkeit historisch zu spät reagiert. Der abgesenkte Brotpreis in Ägypten, die Rücknahme der hohen Arbeitsnormen am 17.06. 1953 oder die Gewährung von Reisefreiheiten in der DDR, all das kam zu spät. Die Arroganz der Macht versperrt den Mächtigen das Sichtfeld – heute wie damals. Ihre Unfähigkeit, diese Selbstblockade zu überwinden, kann geradezu als historische Konstante betrachtet werden.
Absolute oder extreme Armut bezeichnet nach Auskunft der Weltbank eine Situation, die durch ein Einkommen von etwa einem Dollar (neuerdings 1,25 US-Dollar) pro Tag gekennzeichnet ist. Auf der Welt gibt es 1,2 Milliarden Menschen, die in diese Kategorie fallen. Hierzulande gilt als arm derjenige, dessen Einkommen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens beträgt. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Februar 2010 wies Deutschland im Jahr 2008 „eine deutlich höhere relative Einkommensarmut als noch vor zehn Jahren“ auf. Rund 11,5 Millionen Menschen lagen mit ihrem verfügbaren Einkommen unter der Armutsgrenze. Dies entspricht rund 14 Prozent der deutschen Bevölkerung. Das sind 4 Prozent mehr als noch vor 10 Jahren.
Ein weiteres Mal sind die herrschenden Eliten überrascht vom Lauf der Ereignisse. Die Dynamik der Aufstände in Nordafrika ist derart, dass binnen kürzester Zeit aus Minderheiten Mehrheiten wurden. Jedes demoskopische Gerede über selbstdefinierte Mehrheiten wurde durch die Wucht der Ereignisse über Nacht ad absurdum geführt. Überraschung setzte in diesem Fall allerdings Ignoranz voraus, denn spätestens seit den berühmten Gehsteig-Experimenten des Psychologen Stanley Milgram wissen wir um die große Macht von Minderheiten. Durch den Nachahmungseffekt konnte eine „Stimulanzgruppe“ aus nur einer Person 42 Prozent der Passanten veranlassen, zu einem Fenster hinauf zu schauen. Eine Gruppe von 15 Personen schaffte eine „Gefolgschaft“ von 86 Prozent! Den Montags-Demos in der DDR lag ein vergleichbarer Effekt zugrunde.
Ist der Druck groß genug, wachsen Minderheitsbewegungen nicht linear, sondern eher exponentiell. Fällt der erste Dominostein, stehen zwar alle anderen noch, aber der Fall wird vor allem dann unausweichlich, wenn sie in einer „globalen Welt“ miteinander vernetzt sind.
Zurück zum „kommenden Aufstand“. Warum reden die Autoren vom Aufstand und nicht von überfälligen Reformen? Jüngst las ich einmal wieder das höchst interessante Buch des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn, „Die Entstehung des Neuen“ (1978), der darin untersucht, wie sich wissenschaftliche Schulen (Paradigmen) ablösen. Er weist in überzeugender Art und Weise nach, dass sich die Schulen nicht nur erbittert bekämpfen, sondern auch, dass der Bruch mit jahrzehntelang Bewährtem nach einer evolutionären Phase eben nur durch einen revolutionären Paradigmenwechsel möglich ist. Noch spannender ist der Umstand, dass eine rationale Kommunikation zwischen den sich bekämpfenden Schulen schwerlich möglich ist, da beide Seiten von jeweils unterschiedlichen Prämissen ausgehen. Zur Logik der Geschichte gehört ganz offensichtlich die Dialektik von Reform und Revolution. Es gibt Zeiten, wo kleine Schritte die Probleme nicht mehr lösen. Eine ganz andere Frage ist, ob es quasi zwangsläufig immer soweit kommen muss. Die historische Arroganz der Herrschenden spricht dafür, diese Frage zu bejahen.
Befreiungstheologen bezeichnen Jesus, sicher nicht zu Unrecht, als einen Rebellen seiner Zeit. Unter  heutigen Bedingungen würde er vom Verfassungsschutz observiert werden müssen. Warum gehen aber gerade Politiker, die sich im besonderen Maße auf das christliche Erbe beziehen, so ängstlich mit dem Thema des „Aufstandes“ um?
Jeder Aufstand ist ein Diktat der Aufständischen. „Wir bleiben, bis Mubarak geht.“ Mir kommen drei weitere Gedanken beim Verfolgen der Ereignisse im Nahen Osten.
Erstens: Diktieren bedeutet, etwas bestimmen, vorgeben, wenn möglich unumschränkt. Das war es, was die USA ganz selbstverständlich taten, als sie mit Regierungsvertretern Ägyptens Szenarien besprachen, wie eine Machtübergabe Mubaraks aussehen könnte. Wäre andererseits vorstellbar, dass ägyptische Diplomaten sich um die Parität zwischen Republikanern und Demokraten im amerikanischen Repräsentantenhaus kümmern? Eine absurde Idee? Warum eigentlich? Weil amerikanische Sicherheitsinteressen tangiert sind? Wer diktiert die? Wird die Weltgemeinschaft gefragt?
Zweitens: Wie ein Regime seine Interessen diktiert, erkennt man, wenn es seine Interessen gefährdet sieht. Der brutale Einsatz des Machtaperates hat in verschiedenen Nah- und Mitteloststaaten inzwischen zu hunderten Toten geführt. Taucht die Frage auf, wie verhielt sich das eigentlich beim Sturz des Machtapparates in den Ländern des Warschauer Vertrages? Es ist meines Erachtens  ein historisch einzigartiger Vorgang, dass eine herrschende Klasse ihre große Machtfülle ohne Blutzoll abgegeben hat. War das Zufall? Es war ganz sicher nicht Ausdruck der Unfähigkeit der Herrschenden, handeln zu können, sondern eher des Umstandes, dass in den Staaten des Warschauer Vertrages der Machtapparat selbst kein Monolith, sondern in vielfältiger Weise von den Ursachen des Umsturzes „angekränkelt“ war – vor allem auch bei der Führungsmacht.
Drittens: Wer verursacht eigentlich den Aufstand? Sind es die Aufständischen selbst, ihre Lust an Gewalt und Anarchie, ihrer Maßlosigkeit an Forderungen? Aktuelle Bilder von der zwangsweisen Räumung von Häusern, in denen die Mieter bereit sind zu verhandeln, zu kaufen und zu zahlen, zeugen vom Diktat des Geldes der Inhaber. Die Unnachgiebigkeit der Herrschenden schürt den Aufstand.
Pünktlich zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos hatten die Analysten von Oliver Wyman, einer Beratungsfirma für Banken, Szenarien durchgespielt. Das Thema lautet: „Die Finanzkrise 2015“. Glaubt man den Autoren, so war die Krise 2008 nichts als ein Vorspiel. Und die Analysten kamen zu der apokalyptischen Prognose, dass auf dem Höhepunkt der nächsten Krise mehrere Industrienationen ihren Bankrott erklären werden. Für den  gleichen Zeitraum warnen heute die UN vor Hungerrevolten. Nie zuvor waren die Preise für Lebensmittel auf dem Weltmarkt so hoch, wie im Januar 2011. Die blutigen Aufstände in Haiti und auf den Philippinen sind nur der Beginn.
Im Nachdenken über den „kommenden Aufstand“ erkenne ich plötzlich hinter bekannten anarchistischen Formeln und ihrer zerstörerischen Energie die Unvermeidlichkeit eines Paradigmenwechsels.