von Rolf Reißig
Wie gerade die jüngere Geschichte der Moderne zeigt, können zwei Gangarten gesellschaftlicher Entwicklung unterschieden werden: Sozialer Wandel innerhalb eines sozioökonomischen, soziokulturellen Entwicklungsmodells und Übergangs- beziehungsweise Umbruchphasen, in denen sich Wirtschafts- und Lebensweisen grundlegend ändern. Soziologen sprechen deshalb von „Gesellschaft im Wandel“ als dem Normalfall sozialen Wandels und von „Gesellschaft im Umbruch“ als einer Ausnahme sozialen Wandels.
Der gegenwärtige historische und gesellschaftliche Prozess ist nun eher als „Übergang“ und „Umbruch“ zu verstehen und zu deuten. Form, Struktur und Gestalt dieses gesellschaftlichen Übergangs und Umbruchs heißen für mich heute „Transformation“. Transformation als spezifischer Typ intendierter und eigendynamischer, langfristiger und offener Wandlungsprozesse.
Lange wurde „historischer Prozess als Übergang“, „Gesellschaft im Umbruch“ und damit „Transformation“ allein mit den Umbrüchen in den ehemals staatssozialistischen Ländern identifiziert. Im Mainstream wurden diese als „nachholende Modernisierung und Modellübernahme“ (W. Zapf), als „Ende der großen Gesellschaftsalternativen“ (D. Bell), ja als „Ende der Geschichte“ (F. Fukuyama) interpretiert.
Was 1989/90 nur wenige vermuteten und aussprachen („doppelte Transformation“), beginnt seit einiger Zeit deutlicher zu werden. Zum einen: Die postsozialistische Transformation ist nicht das Ende der grundlegenden Wandlungsprozesse in Europa und der Welt, sondern nur deren markanter Auftakt. Zum anderen: Die eigentliche Zäsur dieses Übergangs und Umbruchs beginnt früher und ihre Ursachen liegen tiefer. Genau genommen beginnt diese historische Zäsur schon Anfang/Mitte der 70er Jahre mit der „einsetzenden systemübergreifenden Krise europäischer Industriegesellschaften“ (A. Steiner) und der damit verbundenen Bewältigung eines „fundamentalen gesellschaftlichen Strukturwandels“ und einer „strukturellen Transformation“ (K. Jarausch) in Ost und West. Notwendig wurde ein neuer Typ wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Teilhabe und demokratischer Bürgerbeteiligung.
Die staatssozialistischen Länder fanden darauf keine überzeugende Antwort. Die Erosion und letztlich Implosion ihres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells waren die Folge.
Im Westen setzte sich in einem längeren Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzung schließlich die „Neoliberale Antwort“ durch. Der Traum, erweiterte Kapitalverwertung könne auf Kosten von Lohnarbeit, Natur, Sozialstaat und gegen Gemeinwohl und Öffentlichkeit auf Dauer gewährleistet werden, zerplatzte jedoch – spätestens mit der 2007/2008 einsetzenden tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Der seit den siebziger Jahren notwendige Umbau des Produktions-, Sozial- und Kulturmodells wurde nun noch drängender. Der „Westen“ taugt also nicht mehr –wie 1989/90 gedeutet – als die Bezugsfolie und das Vorbild von Gesellschafts-Transformation, sondern ist nun selbst deren Objekt und Subjekt.
Auf die historische Agenda rückt nach der ersten, rund 300 Jahre währenden Großen Transformation (Herausbildung, Entwicklung und „Entbettung“ kapitalistischer Marktwirtschaften), die Karl Polanyi in seinem Werk „The Great Transformation“ (1944) grundlegend analysierte, die „Zweite Große Transformation“ (R. Reißig). Das westliche Modernisierungsmodell, das einst beachtlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt bewirkte, wird mit seinen weltweiten Folgen zu einem „Weltuntergangsmodell“ (U. Beck) – vom ungebremsten Ressourcenverbrauch über den fortschreitenden Klimawandel bis zur weltweiten Verschärfung der sozialen Ungleichheit und sozialen Spaltung. Notwendig ist daher der Übergang zu einem sozialökologischen (energie- und ressourceneffizienten sowie umweltkonsistenten) und solidarischen Entwicklungspfad. Dies sind die beiden Säulen dieser Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Für diese Große Transformation gibt es keine geltenden Gewissheiten, keinen fertigen Masterplan. Es handelt sich vielmehr um einen Such- und Lernprozess unterschiedlicher Akteure. Einige Eckpunkte dieser notwendigen Gesellschafts-Transformation können dennoch benannt werden:
– nachhaltiges, statt, destruktives und regressives Wachstum;
– gleichberechtigter Zugang und gleiche Teilhabe aller an Arbeit, Bildung, Gesundheit, Daseinsvorsorge, Kultur und öffentlichem Leben statt zunehmender sozialer Exklusion und Ausschluss großer sozialer Gruppen und Regionen;
– friedliches und kooperatives Zusammenwirken und -leben der Menschheit statt Konfrontation, marktradikaler Konkurrenz und globaler Ausbeutung.
Moderne Gestalten, die eine solche sozialökologische und solidarische Entwicklung ermöglichen können, sind: Demokratische politische Verhältnisse, Regulation der Märkte und ihre Einbindung in die gesellschaftlichen und natürlichen Kreisläufe, Soziale Demokratie, entwickelte Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. Alles hängt letztlich davon ab, ob eine demokratische Gesellschaft wieder den Primat erlangt und die allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklungsrichtung bestimmt. Gesellschafts-Transformation ist in diesem Sinne also weder Abschaffung der Basisinstitutionen moderner Gesellschaften durch einfachen Systembruch und Revolution noch Anpassung und Fortschreibung der fordistischen oder gar marktradikalen Entwicklungsmuster.
Die „Solidarische Teilhabegesellschaft“ ist mithin weder eine Neuauflage der historisch gescheiterten (realsozialistischen) „Einheitsgesellschaft“ noch eine Wiederauflebung des (fordistischen) „Teilhabekapitalismus“, aber auch kein neuer „Dritter Weg“. Sie ist eine plurale, sozialökologisch und solidarisch geprägte Gesellschaftsform modernen Typs, die nur auf demokratische Art und Weise und im Konsens breiter gesellschaftlicher und politischer Akteurskoalitionen entstehen und sich entwickeln kann.
Ob sich ein solches Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell im Transformationsprozess des 21. Jahrhunderts durchsetzen wird, ist heute keineswegs sicher. Hat sich doch selbst in der gegenwärtigen einschneidenden Finanz- und Wirtschaftskrise die Wandlungsresistenz moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften gezeigt. Zudem ist der Widerstand konservativ-restaurativer Kräfte gegen progressive Transformation enorm. Aber die Moderne enthält, wie Geschichte und Gegenwart ebenfalls zeigen, durchaus gestaltbare und auch alternative Entwicklungspfade (zum Beispiel New Deal, Deutsches Modell, Skandinavisches Modell; gegenwärtige Entwicklungsmodelle in Lateinamerika, China). Und eine aktuelle Studie von Richard Wilkinson und Kate Pickett als Vergleich von 23 entwickelten Industrieländern und den 50 amerikanischen Bundesstaaten zeigt, dass eher egalitär und gerechter strukturierte Gesellschaften besser funktionieren und die Menschen zufriedener machen als Gesellschaften mit immenser sozialer Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung. Auch belegen die Forschungen zum Wandel der Werte- und Milieustrukturen, dass es in der Tiefe der Gesellschaft sehr wohl Potenziale und Präferenzen für einen neuen, einen sozialökologischen und solidarischen Entwicklungspfad gibt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und wie diese gesellschaftlich und politisch mobilisiert und umgesetzt werden können und ob und wie ein neuer gesellschaftlicher Diskurs als Voraussetzung für eine neue kulturelle Hegemonie entsteht. Notwendig sind heute konkrete Alternativen, Bausteine, Insellösungen von unten, die bei den Beteiligten die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen erlebbar machen. Weg und Ziel fallen hier nicht länger auseinander, sondern bedingen sich wechselseitig. Das Neue entsteht zunächst im oder neben dem Alten oder gar nicht. Eine solche Transformation im 21. Jahrhundert ist also nicht nur notwendig, sondern auch möglich.
Die Transformationsforschung ist deshalb mit dem postsozialistischen Fall keineswegs abgeschlossen, sondern gerade erst eröffnet. Ein modernes, zeitgemäßes Transformationskonzept bleibt unverzichtbar.
Anm. der Red.: Ausführlicher behandelt der Autor dieses Thema in seinem kürzlich veröffentlichten Buch – Rolf Reißig, Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels, VS-Verlag,Wiesbaden 2010, 220 S., 29,90 €.
Schlagwörter: Gesellschaftsmodell, Kapitalverwertung, Rolf Reißig, sozialer Wandel, Transformation