13. Jahrgang | Nummer 20 | 11. Oktober 2010

Der Mann, den sie Seizing Bear nannten (Sitting Bulls Ende)

von John Okute Sica

Für den Tod Sitting Bulls am 15. Dezember 1890 gab es mehrere Gründe. Die Historiker berichten darüber auf unterschiedliche Weise. Kaum ein anderer Häuptling der Sioux wurde von den Weißen so sehr gehasst wie er. Seit dem Tag, an dem er sich ergeben hatte, war jeder seiner Schritte beobachtet worden. Doch so seltsam es scheinen mag: Tatsächlich töteten ihn seine Feinde ohne den geringsten Grund. Noch seltsamer ist, dass es ein Stammesgenosse war, der ihn ermordete. Den raffinierten Plan hierfür hatte der Indianerbeauftragte McLaughlin ersonnen, der später das Buch „Mein Freund, der Indianer“ schreiben sollte.

Ich glaube, dass dies das erste Mal ist, dass die wahre Geschichte von Sitting Bulls Tod erzählt wird. Das, was folgt, ist der Bericht aus Sicht der Sioux, welche in der allgemeinen Geschichtsdarstellung kaum bekannt ist.

* * *

Mató Wawóyuspa, Seizing Bear, war ein enger Freund und treuer Weggefährte Sitting Bulls. Ihre Freundschaft verband sie stärker als Blutsverwandtschaft. Wie alle Indianer hatte Seizing Bear seinen Namen auf dem Kriegspfad gewonnen. Seine bevorzugte Methode bestand darin, einem Feind aufzulauern und sich auf ihn zu stürzen wie eine Katze auf eine Maus.

Eines Tages überfiel er einen berittenen Mestizen. Mit der rechten Hand ergriff er den Zaumring des Pferdes und mit der linken packte er das Gewehr des Mannes am Lauf. Das erschrockene Pferd blieb unter dem Griff des nicht sehr großen, dafür aber kräftig gebauten Mannes, stehen. Den Mestizen, der die Sprache der Sioux beherrschte, verschonte Seizing Bear.

Bei anderer Gelegenheit hatte ein weißer Büffeljäger seine Planwagenkolonne verloren. Es war April, und eine dünne Schneedecke lag auf dem Boden. Als er eine Gruppe von Männern, die zu Fuß unterwegs waren, erblickte, folgte er ihnen in der Hoffnung, es wären Freunde. Tatsächlich aber handelte es sich um Sioux – Seizing Bear und seine Kameraden.

Seizing Bear wies seine Gefährten an, weiterzugehen, vorbei an einem großen Felsblock, der sich unmittelbar vor ihnen befand. Er selbst legte sich dahinter auf die Lauer. Als der Büffeljäger vorbeilief, sprang Seizing Bear aus dem Hinterhalt und stürzte sich auf ihn. Nachdem er ihn fest in seinem Griff hatte, nahm er ihm die Waffen ab – ein einfaches Gewehr und ein Büffelgewehr. Die anderen Indianer wollten, dass er den Weißen tötete, aber Seizing Bear verschonte auch das Leben dieses Mannes. Dieses Verhalten verwirrte Seizing Bears Kameraden.

* * *

Seizing Bear war ein stolzer Mann, aber sein Stolz verbarg sich hinter einer Maske aus Freundlichkeit und Frohsinn. Es war nicht leicht, ihn zu verärgern, aber wenn er einmal in Ärger geriet, so war sein Zorn fürchterlich. Mit Worten konnte man ihn nicht verärgern, denn Worte galten ihm nicht viel. Doch ging ihn jemand an, wenn er zornig war, so war er bereit zu töten. Zu töten, und nicht, sich zu schlagen. In der Welt der Sioux war kein Platz für Schlägereien unter Männern. Sich prügeln, das war etwas für Kinder.

Es war ein Spätnovembertag im Jahre 1890. Die Sioux hatten sich versammelt, um ihre Ration in Empfang zu nehmen (Seit 1881, als Sitting Bull sich in Fort Randall ergeben hatte, lebten die Angehörigen seines Stammes in der Standing-Rock-Reservation. – Anm. d. Übers.). Es war ein kalter und windiger Tag. Einige der Männer suchten von Zeit zu Zeit Schutz vor der Witterung in dem Haus, in dem das gefrorene Rindfleisch aufbewahrt wurde. Einer von ihnen war Seizing Bear. Er erblickte ein verlockendes fettes Stück Rinderbrustfleisch – eine Delikatesse, die er über alles liebte. Er schnitt einen schmalen Streifen davon ab und begann daran zu kauen. Außerhalb des Gebäudes rief jemand seinen Namen, und er ging hinaus, um zu antworten.

An jenem Tag war Leutnant Bull Head, der Chef der Stammespolizei, Diensthabender. Als er die frische Schnittstelle an der Rinderbrust entdeckte, schrie er: „Wer hat hier Fleisch abgeschnitten?“ Nachdem er seine Frage mehrmals wiederholt hatte und niemand antwortete, ging er nach draußen und rief: „Jemand hat ein Stück Fleisch von einem Schlachtkörper im Lagerhaus abgeschnitten. Wer war das?“

Seizing Bear, der in der Menge stand, antwortete: „Freund, das war ich. Hier ist es. Es ist nur ein kleines Stück.“ Er hielt es empor, damit jeder es sehen konnte. Mit großen Schritten eilte Bull Head zu ihm. Aller Augen waren auf den Polizeichef gerichtet. Es herrschte Stille, nur der Wind war zu hören. Nur einer rief plötzlich „Hó!“, was auf Lakota „Jetzt!“ bedeutet. Jeder ahnte, was nun kommen würde.

Als Bull Head Seizing Bear erreichte, griff er nach dem Fleisch. Doch Seizing Bear wich ihm aus und fuhr damit fort, als Bull Head immer wieder versuchte, das Fleisch zu erhaschen. Schließlich rief Seizing Bear: „Freund, du kannst das doch nicht ernst meinen, was du hier tust! Was könnte denn solch ein kleines Stück Fleisch irgend jemandem bedeuten?“ Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er das Fleisch fort. Dann stieß er den gefürchteten Herausforderungsschrei der Sioux aus, das Brummen eines Bären.

Es war Seizing Bears Art, seine Opfer festzuhalten, so dass sie sich nicht rühren konnten, bevor er sie tötete, doch Bull Head war bewaffnet. Er trug einen Dienstrevolver in seinem Gürtel. Seizing Bears Bewegung war so schnell, dass die Augen ihr nicht folgen konnten. Seine linke Hand riss Bull Heads Revolver aus dem Gürtel und warf ihn zu Boden, und ohne im Bewegungsfluss innezuhalten, umfasste er mit dem linken Arm den Gegner auf Höhe der Hüften, so dass dessen Arme sich nicht mehr bewegen konnten. Seizing Bears rechte Hand griff nach dem Messer in seinem Gürtel, und den Bruchteil einer Sekunde später zielte die Messerspitze direkt auf Bull Heads Herz.

Ein Mann aus der Menge packte Seizing Bear am Arm und ein anderer umschlang ihn von hinten. Ein dritter warf sich zwischen die Kämpfenden und versuchte, sie auseinanderzubringen. Alle drei hingen wie Strohpuppen am kraftvollen Körper Seizing Bears, aber sie flehten unaufhörlich: „Tu es nicht; so beruhige dich doch!“

Plötzlich stieß Seizing Bear ein geisterhaftes Gelächter aus. Dann vernahmen alle, wie er sagte: „Freund, du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt. Hör mir gut zu! Das nächste Mal, wenn du mir in die Quere kommst, ist einer von uns beiden dran.“

Alle, die Zeuge dieses Ereignisses wurden, verharrten wie gebannt an ihrem Ort. Nur Seizing Bear ging ruhigen Schrittes dorthin, wo er sein Pony festgebunden hatte. Er zog sein Gewehr aus der Befestigung am Sattel, kehrte zurück und gesellte sich zu seinen Stammesgenossen. Ein hochgewachsener Indianer, der von Kopf bis Fuß in eine Decke gehüllt war, trat vor und befreite seinen Kopf. Es war Bull Heads Onkel. Er stellte sich vor den Polizisten hin und sprach: „Neffe, hundert mal und mehr habe ich dir schon gesagt, dass du einen Sioux des Westens, der zornig ist, nicht angehen darfst. Sie sind nicht wie die Reservationsindianer, die du kennst, voll Furcht vor dem Gesetz. Vielleicht wirst du von nun an endlich Achtung vor den Männern deiner Rasse empfinden, die in diesen Zeiten Freunde und Respekt benötigen. Du bist heute einem schmählichen Tod entronnen. Je eher du diese Kleidung der Obrigkeit ablegst, die du trägst, desto besser wird es für deine Stammesgenossen und für dich selbst sein.“

Auf den Tadel seines Onkels hin wandte sich Bull Head um und ging hängenden Kopfes davon. Hinter ihm rief jemand her: „Du hast deinen Revolver vergessen, hier ist er!“

Der Indianerbeauftragte und sein Schreiber waren Zeuge dieses unerfreulichen Vorfalls. Alles, was gesagt wurde, wurde ihnen vom Dolmetscher, der sich bei ihnen befand, übersetzt. Im Moment hielt McLaughlin es jedoch nicht für sinnvoll, die Gesetze auf Seizing Bear anzuwenden, nicht zuletzt deswegen, weil Seizing Bear noch immer wütend war und zudem außer seinem Messer nun auch noch sein Gewehr bei sich trug. Es würde sich schon noch eine Gelegenheit für McLaughlin ergeben zu handeln. Er konnte warten.

Einige Tage darauf bestellte McLaughlin Leutnant Bull Head in sein Büro und sprach: „Bitte sagen Sie Sitting Bull, er möge zu mir ins Büro kommen. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen.“

Es war eine simple Bitte, aber für Bull Head war es alles andere als ein einfacher Botengang. Um Sitting Bull die Botschaft zu überbringen, würde er Seizing Bear entgegentreten müssen. Er wollte dem Mann, der ihn beinahe umgebracht hätte, nicht erneut begegnen. Er hatte solche Angst, dass seine Gedanken sich verwirrten. Er erinnerte sich der Worte Seizing Bears: „Wenn du mir noch einmal in die Quere kommst…“

Am 15. Dezember 1890, gegen zwei Uhr morgens, ritten Bull Head und ein Trupp Indianerpolizisten zu Sitting Bulls Haus. Der Polizeichef und zwei seiner Begleiter stürmten hinein. Sitting Bull lag in seinem Bett. Bull Head ergriff den Arm des Häuptlings und befahl: „Komm mit mir. Beeil dich.“

Der Häuptling entgegnete: „Gut, aber lass meinen Arm los, damit ich mich anziehen kann.“

„Nein, du kommst mit, so wie du bist“, sagte der Leutnant.

Die Polizisten schleppten den Häuptling, der lediglich einen Lendenschurz trug, zur Tür. Dieser protestierte: „Es ist kalt. Ich kann nicht so, wie ich bin, mitgehen.“

„Doch, du kommst mit uns mit, so wie du bist. Wir werden dir schon Kleidung besorgen“, antwortete der Leutnant.

Bevor die Männer die Tür erreichten, gelang es Crow Foot, dem Assiniboine-Indianer, den der Häuptling adoptiert hatte, in eine Decke gehüllt und mit darunter verstecktem Gewehr, aus dem Haus zu entkommen. Die beiden Häuptlingsfrauen hatten inzwischen die Lampe angezündet und seine Kleidung vorbereitet, aber alles, was sie tun konnten, war, die miteinander ringenden Männer zu beobachten.

In der Tür gelang es Sitting Bull, sich so festzuhalten und zu sperren, dass die Polizisten ihn nicht mehr bewegen konnten. Wieder sagte er: „Das könnt ihr mit mir nicht machen!“

Die Polizisten versuchten, Hilfe herbeizurufen, aber niemand kam, denn vor dem Haus hatten sich bereits die Anhänger des Häuptlings versammelt. Den Polizisten blieb nun nichts weiter, als sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich aus dem Staub machen konnten.

Plötzlich hörte Sitting Bull auf, Widerstand zu leisten und sagte: „Gut denn, wenn ihr es so wollt, dann soll es so sein.“ Kaum, dass er sein Haus verlassen hatte, rief er jedoch nach Seizing Bear: „Mató Wawóyuspa, wo bist du? – Sie haben mich verhaftet!“

Sobald er seine Frage ausgesprochen hatte, erscholl auch schon die Antwort: „Man nennt mich Mató Wawóyuspa, und hier bin ich!“

Der Leutnant zog seinen Revolver, presste ihn Sitting Bull in die Seite und betätigte den Abzug. Der Häuptling sank zu Boden. Ein zweiter Schuss fiel. Dies geschah so schnell nach dem ersten, dass beide kaum auseinanderzuhalten waren. Der Leutnant stürzte tödlich getroffen zu Boden. Daraufhin schien die Nacht zu explodieren. Gewehrschüsse, Schreie und das Geräusch stampfender Schritte erschütterten die Luft.

Es konnte niemals bewiesen werden, wer den Leutnant erschossen hatte, aber mehrere Leute, die dabeigewesen waren, sagten, dass der Schuss aus der Richtung gekommen war, aus der Seizing Bears Stimme erschollen war. Und wenn es überhaupt möglich ist, dass das Gesicht eines Toten den Ausdruck von Freude trug, dann galt dies für Seizing Bears erkaltetes Antlitz. Unmöglich hätte Seizing Bear diese Nacht überleben können, in der Sitting Bull starb. Er liebte seinen Häuptling und Freund über alles, der nach ihm gerufen hatte, um seine Ehre zu retten. Wäre der Häuptling wenigstens mit einem Messer bewaffnet gewesen, er hätte sich selbst verteidigen können gegen die bewaffneten Männer. Er kannte seine Krieger, wie kein Häuptling seine Männer je gekannt hat. Kein Feind hätte unentdeckt in sein Lager eindringen können. Er wusste also, dass seine Leute herbeieilen würden, um ihn zu schützen. Deshalb hatte er dem Polizeichef gesagt: „Wenn ihr es so wollt, dann soll es so sein.“

Es ist möglich, dass der Häuptling verwirrt war über die Abwesenheit seines Freundes in dem Moment, wo er ihn brauchte, aber er hat noch lange genug gelebt, um den Antwortruf Seizing Bears zu vernehmen, und das reichte, dass sein Herz mit Glück erfüllt war, als er starb.

Crow Foot war unterdessen zum Pferdestall geeilt. Er stand dort in völliger Dunkelheit und blickte hinüber zum Haus des Häuptlings.

Er hörte den Ruf seines Vaters, Seizing Bears Antwort und die Schüsse, die folgten. Er sah, wie die Polizisten versuchten, der Schießerei zu entkommen. Sobald einer der Polizisten in seine Nähe kam, rief er: „Komm hier herüber und versteck dich!“ Und jedesmal, wenn ein Polizist seiner Aufforderung folgte, erschoss er ihn. Es heißt, dass die meisten Polizisten, die in jener Nacht starben, von Crow Foot getötet wurden. Doch schließlich wurde er selbst durch einen Irrläufer tödlich getroffen.

Als das Gefecht zu Ende war, lehnte einer der indianischen Polizisten am Haus des Häuptlings und jammerte: „Au, au, das tut weh!“

Einer von Sitting Bulls Männern kam zu ihm und schrie ihn an: „Mensch, ich habe dir so oft gesagt, dass die Kugeln der Sioux schmerzhaft sind!“

Auf diese Weise endete das Leben Sitting Bulls, des Häuptlings der Húnkpapa. Der Häuptling war bei seinen weißen Feinden aufs äußerste verhasst, und auch viele seiner Stammesgenossen in den Reservationen hassten ihn. Viele bezeichneten ihn als »den, der nicht schlau genug war zu erkennen, daß er bereits geschlagen war, bevor er begann, Widerstand gegen die Weißen zu leisten«. Wenn Sitting Bull diesen Vorwurf vernahm, pflegte er zu antworten: „Ja, ich weiß, dass ich so eine Art Narr bin, und es gefällt mir.“

Über achtzig Jahre sind vergangen seit der letzten Schlacht Sitting Bulls gegen die Vereinigten Staaten. Sie machte Geschichte. Mehr als siebenundsiebzig Jahre sind verflossen, seit er sich ergab, und seit siebzig Jahren ruht er unter der Erde.

Manch einer beginnt nun zu verstehen, warum er „so eine Art Narr“ war.

Diese Erzählung wurde aus dem Englischen von Frank Elstner übersetzt. Sie ist wie das Vorwort von Liselotte Welskopf-Henrich auch dem Band John Okute Sica: Das Wunder vom Little Bighorn. Erzählungen aus der Welt der alten Lakota. Palisander Verlag, Chemnitz 2009, 360 Seiten, 22,90 Euro, entnommen und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags.