13. Jahrgang | Nummer 20 | 11. Oktober 2010

Der letzte der alten Lakota

von Frank Elstner

In einer Zeit, als alle Indianer in den USA bereits auf Reservationen lebten, ihrer Freiheit und ihrer Würde beraubt, oder als Stadtindianer in Slums vegetierten, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, gab es einen Lakotajungen namens Woonka-pi-sni („Wurde nicht niedergeschossen“), dessen Familie noch immer mit dem Tipi frei durch die Weiten der kanadischen Prärie zog und ihn in der traditionellen Lebensweise unterrichtete. Dieser Junge lernte alles, was die Mitglieder seines Stammes seit Jahrhunderten gelernt hatten: die Jagd, die Herstellung von Waffen und Geräten, Tänze, Zeremonien, magische Praktiken und nicht zuletzt das Geschichtenerzählen. Er lernte auch den Weißen Mann kennen, denn während der harten Wintermonate arbeitete seine Familie bei weißen Farmern. Im Alter von sechs Jahren geschah etwas Ungewöhnliches mit ihm. Es ist nicht überliefert, was den Anstoß dazu gab, aber er wurde sich unversehens der Tatsache bewusst, dass die Welt der alten Lakota an ihrem Ende angelangt war, und dass er Zeuge von etwas war, das es bald nicht mehr geben würde. Aus diesem Grund begann er die Alten buchstäblich nach allem auszufragen, und er lauschte ihren Geschichten, begierig, nichts davon zu vergessen. Dies trug ihm selbst den Spitznamen Wica-cala, Alter Mann, ein, was als Ehrenname zu verstehen ist, da die Lakota alten Menschen größte Hochachtung entgegenzubringen pflegten.

Woonka-pi-sni wurde im August 1890 in der Region von Willow Bunch, Saskatchewan, geboren, wenige Monate, bevor Häuptling Tatánka Íyotake (Sitting Bull) in der Standing-Rock-Reservation ermordet wurde. Sitting Bull war nach der Schlacht am Little Bighorn (1876) mit 5.000 Männern, Frauen und Kindern aller sieben Stammesgruppen der Sioux nach Kanada geflohen, in die Gegend von Wood Mountain und Willow Bunch. Dort wollte er mit den Seinen weiter auf traditionelle Art leben. Doch um 1880 waren die Büffel fast ausgerottet und die Lakota so ihrer Lebensgrundlage beraubt worden. Ihnen drohte der Hungertod. 1881 ergab sich Sitting Bull mit dem Großteil seines Stammes auf Fort Randall den Vereinigten Staaten. Aber 250 Lakota waren in Kanada geblieben beziehungsweise nach kurzem Aufenthalt auf der Reservation wieder dorthin geflohen, so auch die Eltern Woonka-pi-snis. Sie zogen Not und Entbehrungen dem Leben in Unfreiheit vor.

Woonka-pi-snis bürgerlicher Name lautete John LeCaine (nach dem ersten Mann seiner Mutter, einem Weißen). Später nannte er sich John Okute Sica (nach seinem leiblichen Vater) oder auch einfach John Okute. Von 1899 bis 1906 musste er die Regina Industrial School besuchen, wo er die englische Sprache erlernte und in Landwirtschaft und Zimmermannshandwerk ausgebildet wurde. 1907 zog er mit Eltern und Geschwistern nach Wood Mountain. Er wurde unabhängiger Farmer, bis er im Alter sein Land der inzwischen entstandenen Lakota-Reservation übergab. 1954 wurde er zum Häuptling seiner Stammesgruppe berufen.

Wann immer seine Arbeit als Farmer ihm Zeit dazu ließ, schrieb John Okute Sica das kostbare Wissen auf, das er in seinem Gedächtnis und im Herzen bewahrt hatte. Er verfasste in englischer Sprache Essays, Erzählungen und Gedichte über die Welt der alten Lakota. Ein charismatischer Priester von Wood Mountain wurde sein Freund, und es gelang diesem, ihn zum Christentum zu bekehren. Doch für Okute Sica gab es keinen Zwiespalt zwischen dem Glauben der Christen und seiner ursprünglichen Religiosität, die er nie aufgegeben hat – ähnlich wie der berühmte Schamane und Autor Black Elk (Hehaka Sapa, 1863-1950). Mit großem Interesse las er die Bibel und fand darin viele Geschichten, die ihn an die Leidensgeschichte seines eigenen Volkes erinnerten. Nicht zuletzt führte das Studium der Bibel auch dazu, dass er über einen für einen Lakota seiner Zeit ungewöhnlich reichen englischen Wortschatz verfügte, was ihm dabei half, die überlieferten Geschichten seines Stammes adäquat ins Englische zu übertragen. Sein Stil ist von Klarheit und Einfachheit geprägt. Die renommierte Literaturwissenschaftlerin Christel Berger schreibt über ihn: „Dieser Mann konnte Geschichten erzählen, die die Mythen seines Stammes mit dessen Erlebnissen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf sehr eigene Weise verbanden. Es ist die Weltsicht von einem, für den Natur und Geisterglaube, Realität und überlieferte Sagen, Geschichte und Gegenwart ein Ganzes sind, bunt und geheimnisvoll. Man staunt, welche Fantasie und Weisheit in diesen Texten steckten…“

Es gab im 19. Jahrhundert einige wenige indianische Autoren, wie zum Beispiel den Arzt und Ethnologen Charles Eastman, die aufgrund eigener Erfahrungen über das traditionelle Stammesleben berichtet haben. Doch handelte es sich ausnahmslos um autobiographische Notizen oder überlieferte Legenden. Diese Werke waren außerordentlich wichtige Quellen, aus denen nicht nur Ethnologen, sondern auch Schriftsteller wie Liselotte Welskopf-Henrich schöpften. Die meisten frühen indianischen Autoren waren jedoch auf die Hilfe weißer Schriftsteller oder Ethnologen angewiesen, da sie die englische Sprache nicht ausreichend beherrschten, so zum Beispiel der Schamane Black Elk, was zwar den Wert ihrer Berichte nicht mindert, wodurch aber fast zwangsläufig Gedanken und Interpretationen der weißen Koautoren in die Texte einflossen.

Von den indianischen Autoren, die die Lebensweise der freien Indianer noch kennengelernt haben, dürfte John Okute Sica der einzige sein, der als echter Schriftsteller in Erscheinung trat, auch wenn zu seinen Lebzeiten keines seiner Werke veröffentlicht werden konnte. Sein ganzes Streben war darauf gerichtet, der Nachwelt ein authentisches Bild vom Leben der alten Lakota zu vermitteln. Er erklärte: „Man hat den Indianer nie wirklich verstanden, und dieses Unverständnis brachte Kummer und Leid über so viele seines Volkes. Alles, was der Indianer geliebt hat, hat er verloren, und so ging auch er. Nun, da der echte Indianer diese Welt verlassen hat, wird der Indianer nach dem Bild des Weißen Mannes neu erschaffen.“ Er fürchtete, dass die Wahrheit über sein Volk vollkommen verloren gehen würde: „Die Sioux besaßen keine Schrift. Somit gibt es keine schriftliche Überlieferung ihrer Siege und Niederlagen. Wir, ihre Nachkommen, kennen nur noch Bruchstücke der Tradition. Tatsächlich sind wir modernen Sioux bloß ein Schatten unserer Vorfahren. Wir haben sogar die schönsten Tugenden unserer einst so stolzen Rasse verloren, wie Aufrichtigkeit, Freigebigkeit, Tapferkeit und Gottesfurcht. – Ich selbst habe Sioux kennengelernt, die die Geschichte ihres Volkes falsch überliefert haben, um auf diese Weise zu Geld zu kommen…“

Im Alter fasste Okute Sica den Plan, eine Auswahl seiner Erzählungen als Buch herausgeben zu lassen. Er nannte das Manuskript „Reflections from the Sioux World“, und ein mit ihm befreundeter Lehrer schrieb die ausgewählten Texte mit der Schreibmaschine ab. Ein Teil der Geschichten und Essays behandelt die ursprüngliche Welt der alten Lakota, so zum Beispiel die Geschichte von der Weißen Büffelkalbfrau oder die abenteuerliche Liebesgeschichte von Hanwí-sán (Amber Moon) und Zintkála Wanblí (Eagle Bird), die auf einer wahren Begebenheit beruht, welche sich wahrscheinlich zu Anfang des 19. Jahrhunderts zugetragen hat. Ein weiterer Teil besteht aus Episoden um die Häuptlinge Tašúnke Witkó (Crazy Horse) und Tatánka Íyotake (Sitting Bull) und die Schlacht am Little Bighorn, und schließlich folgen Geschichten über die Zeit nach Little Bighorn – das Leben in Wood Mountain und in den Reservationen und Erlebnisse junger indianischer Musiker in New York.

Die „Reflections from the Sioux World“ enthielten ausschließlich auf Tatsachen beruhende Berichte und Überlieferungen. Die umfangreichste Erzählung aus dieser Sammlung, „Amber Moon“, erschien Okute Sica jedoch als geeignet, literarisch weiterentwickelt zu werden. Am Ende seines Lebens schuf er auf ihrer Grundlage die etwa um das Jahr 1870 handelnde Romanerzählung „Maiden Chief“. Darin beschreibt er auf äußerst anschauliche und fesselnde Weise die Lebensumstände der Lakota in der Endphase ihres freien Daseins, wie er sie aufgrund der oben beschriebenen Umstände in seiner Kindheit selbst noch erlebt hat. Okute Sica hatte all sein Wissen aus erster Hand. – Wie haben die Lakota der alten Zeit gesprochen, woran haben sie geglaubt, worüber haben sie gelacht, worüber geweint? – Bei Okute Sica gibt es keine hölzernen Dialoge, keine ewig ernst und würdevoll dreinblickenden Krieger, wie sie das Indianerbild vieler Bücher und Filme aus weißer Hand prägten, keine schweigsamen und unterwürfigen „Squaws“. So authentisch und lebendig wie er hat wohl niemand je beschrieben, wie diese Menschen sich verhielten, wenn sie „unter sich“ waren.

Die Tragik seines Lebens bestand darin, zu wissen, dass er der letzte der alten Lakota war: „Leb wohl, Amerika, Land der Geheimnisse, Land des eingeborenen Menschen. … Die Zeit der Lakota ist zu Ende. … Mit meinem Amerika bin ich gestorben, und ich hinterließ keine Spuren. Wie der Büffel bin ich entschwunden. Ich bin in ein anderes Land der Geheimnisse gegangen. Dort lebe ich mit meinem Gott, für immer.“