von Wolfgang Schwarz
Das Sterben ist ein in der öffentlichen Debatte dieser Gesellschaft weitgehend totgeschwiegenes Thema, und dieses Phänomen zählt zu den Kehrseiten des vorherrschenden Jugend- und Schönheitswahns und der Verklärung des Älterwerdens durch Euphemismen wie etwa Best Ager. Der Hinweis darauf darf bereits ebenso als Allgemeinplatz gelten wie die Feststellung, daß das Sterben selbst immer häufiger in Pflegeheimen und Krankenhäusern stattfindet – und dort nicht selten unter inhumanen, die Gesellschaft, die dies zuläßt, zutiefst beschämenden Begleitumständen. Ein Wandel ist allenfalls in Ansätzen zu beobachten. In jüngster Zeit hat es allerdings zwei bemerkenswerte Zäsuren gegeben.
Da ist zum einen das im vergangenen September in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz. Dieses Gesetz spricht dem Willen des Patienten endlich definitiv Verbindlichkeit bis zu dessen Lebensende zu – auch und gerade im Hinblick auf die Verweigerung sterbensverzögernder medizinischer Maßnahmen durch den Patienten im Falle schwerer Krankheit oder irreversibler Persönlichkeitsveränderungen (Demenz). Das Gesetz räumt dabei dem Patientenwillen ganz klar den Vorrang vor allen anderen staatlichen, religiöse und ethischen Postulaten ein – auch gegenüber dem so genannten Primat des Lebensschutzes, auf das in Kliniken und Pflegeheimen in der Regel verwiesen wird, um Nichtbefolgungen von Patientenverfügungen in diesen Fragen zu rechtfertigen. Das neue Gesetz ist damit im Sinne des Selbstbestimmungsrechts jedes menschlichen Individuums – sein eigenes Leben betreffend – in vorbildlicher Weise konsequent.
Die andere Zäsur ist die Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofes (BHG) vom 20. Juni dieses Jahres, das die bestehende Rechtsunsicherheit, der sich Ärzte, aber auch Verwandte und Betreuer von Sterbenden in Sachen passiver Sterbehilfe seit langem ausgesetzt sahen, beseitigt hat. Kein Arzt muß nunmehr Angst haben, hinter Gittern zu landen, wenn er den Festlegungen folgt, die ein Patient für sich selbst verfügt hat – also etwa lebensverlängernde Maßnahmen im Falle eines Wachkomas gar nicht erst einzuleiten oder abzubrechen. Mehr noch – jede ärztliche Behandlung, ob künstliche Ernährung, Bluttransfusion oder Operation, bedarf nach dem Diktum des BGH der Zustimmung des Patienten oder seines eingesetzten Betreuers; anderenfalls ist der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Und schließlich bedürfen Ärzte nun ausdrücklich auch keiner richterlichen Zustimmung mehr, wenn sie in Übereinstimmung mit dem Betreuer des Kranken sinnloses, weil nur mehr physisches Weiterleben nicht länger mit Mitteln der Hochleistungsmedizin aufrechterhalten.
Beide Ereignisse dürfte Michael de Ridder mit Genugtuung aufgenommen haben, entsprechen sie doch Forderungen, wie sie der Mediziner seit längerem mit fundierten Argumenten und mit Nachdruck vertritt – so auch in seinem jüngst publizierten Buch „Wie wollen wir sterben?“.
Doch für de Ridder, der seit 1994 die Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses in Berlin Kreuzberg leitet, sind diese wie auch andere Forderungen – zum Beispiel nach einer veränderten ärztlichen Ethik, die dem Patientenwohl die oberste Priorität einräumt – zugleich nur Teilaspekte des umfassenderen Anliegens, das er im Auge hat: die Schaffung einer neuen Sterbekultur im Lande. Einer Sterbekultur, die den Tod nicht tabuisiert, sondern als Teil des Lebens annimmt, die die Auseinandersetzung mit diesem Thema bewußt und rechtzeitig führt und in deren Rahmen ein – wie de Ridder es nennt – „gutes Sterben“, ein weitgehend qual- und schmerzfreies sowie vor allem im Falle schwerer Erkrankung grundsätzlich auch selbstbestimmbares Sterben uneingeschränkt möglich ist.
Was de Ridder mit zum Teil drastischen Schilderungen am heutigen Gesundheitsbetrieb in der Bundesrepublik in erster Linie geißelt, ist die Pervertierung von Errungenschaften der Hochleistungsmedizin. Die sind ein Segen und retten heute jährlich Tausenden Patienten, Unfallopfern und anderen Betroffenen das Leben. Im Hinblick auf Sterbende aber – „oftmals gerade im hohen Alter und in aussichtsloser Krankheit“ – konstatiert de Ridder eine sich „unheilvoll auswirkende Entwicklung, die das Sterben ungezählter Patienten zur Tragödie machte und macht“, etwa wenn selbst moribunde Patienten im Falle von Herzstillstand noch wiederbelebt werden. Und im Hinblick auf Ernährungssonden, mit denen in Deutschland etwa 140.000 Pflegebedürftige versorgt werden, schätzt de Ridder ein, daß diese „in der übergroßen Anzahl der Fälle“ nicht dem Patientenwohl, sondern der Entlastung des Pflegepersonals, des zuständigen Arztes oder der Angehörigen dienten.
Die Ursache für solchen Mißbrauch medizinischer Errungenschaften sieht der Autor in einem medizinischen Machbarkeitsimperativ vor allem bei Ärzten, die sich vorrangig an den Möglichkeiten heutiger Medizintechnologie orientieren und in dieser Hinsicht alle Register ziehen, anstatt das Wohl des Patienten zum prioritären Maßstab des eigenen Handelns zu machen. Die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens, daran läßt de Ridder ebenfalls keinen Zweifel, ruft solche Tendenzen geradezu hervor oder leistet ihnen zumindest Vorschub.
Daß die ärztliche Ethik selbst dort, wo sie ernst genommen wird, fast ausschließlich auf die Aspekte des Heilens fokussiert ist und damit beim zwar nicht geheilten, aber austherapierten Patienten endet, kritisiert de Ridder ebenfalls auf eindringliche Weise: „’Wir können nichts mehr tun.’ Ein niederschmetternder Satz. Mehr Trostlosigkeit angesichts einer nicht (mehr) heilbaren Erkrankung ist nicht denkbar. Ein Satz, der den größten anzunehmenden Kunstfehler darstellt, den die Medizin in meinen Augen kennt und der ärztlicherseits deshalb niemals Angehörigen und schon gar nicht Kranken oder Sterbenden gegenüber fallen darf. Er signalisiert nicht allein den Verlust jeglicher Hoffnung, sondern er ist auch unzutreffend. Denn Hoffnung gibt es in der Medizin immer, wenn auch nicht mehr die auf Genesung oder Gesundung, so doch die auf Leidens-, Schmerz- und Symptomfreiheit. Hoffnung auf ein friedliches Sterben.“
In diesem Zusammenhang konstatiert de Ridder eine auch im internationalen Vergleich skandalöse Unterversorgung Schwerstkranker und Sterbender mit hochwirksamen Schmerzmitteln in Deutschland – im Land, „das den Entdecker des Morphiums zu seinen Bürgern zählte“. Das beträfe etwa 190.000 Patienten mit Tumorschmerzen. Auch der generelle „palliativmedizinische Nachholbedarf in Deutschland (ist) immens“ – trotz aller Fortschritte, gerade in den letzten Jahren, die der Autor nicht unterschlägt. Auch an dieser Stelle scheut de Ridder – und diese streitbare, pointierte Eindeutigkeit trägt viel zum ebenso aufklärerischen wie anregenden Charakter des Gesamttextes bei – nicht vor einem persönlichen Bekenntnis zurück: „Gemessen am Unheil, das sie zu verhindern vermag, und dem Frieden, den sie Schwerstkranken und Sterbenden geben kann, stellt die Palliativmedizin aus meiner Sicht den größten Behandlungsfortschritt dar, den die Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg aufzuweisen hat.“
Natürlich ist niemand gezwungen, sich mit den von de Ridder angesprochenen Fragen und letztlich mit seinem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Wer das nicht will, so der Autor, werde dafür seine Gründe haben und die müsse er niemandem offenbaren. Wer allerdings die neuen Möglichkeiten, die Gesetzgeber und Judikative jetzt eröffnet haben, für sich selbst nutzen will, der wird darum nicht herumkommen. „Die Freiheit“, so drückt de Ridder es aus, „auch über sein Lebensende selbst und in letzter Instanz entscheiden zu können, ist eben auch eine Aufgabe.“
P.S.: Zweifellos gehört das Thema, dessen Michael de Ridder sich in seinem Buch angenommen hat, zu jenen Facetten der menschlichen Existenz, die gern mit bedeutungsschwangerem Unterton der Metapher vom Ernst des Lebens subsummiert werden. Das muß aber augenzwinkernde Bonmots nicht ausschließen, wie zum Beispiel das folgende von George Bernhard Shaw, das de Ridder seinem Text vorangestellt hat: „Don’t try to live for ever. You will not succeed.“
Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010, 316 Seiten, 19,95 Euro
Schlagwörter: Bundesgerichtshof, Deutsche Verlagsanstalt, Michael de Ridder, Palliativmedizin, Patientenverfügungsgesetz, Sterbekultur, Sterben