von Klaus Hart, São Paulo
Jahrzehntelang werden Brasiliens kirchliche Menschenrechtsaktivisten sogar von Europa aus belächelt, weil sie unermüdlich die Perversität von Menschenhandel und Prostitution anprangern, beim Kampf gegen die Schlepperbanden des organisierten Verbrechens ständig ihr Leben riskieren. Die Warnungen werden als überholte katholische Prüderie abgetan. Doch nun ist überraschend sogar die UNO aufgewacht, spricht von offener, brutaler Sex-Sklaverei. „Die Europäer glauben, daß die Sklaverei vor Jahrhunderten abgeschafft wurde – doch schaut euch um, die Sklaven sind mitten unter euch“, betont der zuständige UN-Exekutivdirektor Antonio Maria Costa bei der Vorstellung seiner alarmierenden Studie in Madrid. Laut Costa werden derzeit über 140.000 Frauen als „Sex-Slaves“ ausgebeutet – ein beträchtlicher Teil seien brasilianische Prostituierte, deren Gesamtzahl die UNO in Europa auf rund 75.000 beziffert. Der Jahres-Profit liege bei 2,5 Milliarden Euro. „Ein sehr altes Problem wird endlich zur Kenntnis genommen.“ Als wichtigste Empfängerländer nennt die UNO sowohl Deutschland, Österreich, die Schweiz als auch Spanien, Italien, Frankreich und Portugal. Letzterer EU-Staat mußte jetzt einräumen, daß unter den Sex-Sklavinnen des Landes immerhin 40 Prozent aus der einstigen Kolonie Brasilien stammen.
An der Mündung des mächtigen Amazonasstroms kann Bischof José Luiz Azcona auf der Flußinsel Marajó da nur abwinken – in all den Menschenhandels-Details kennt er sich inzwischen besser aus, weil die Sexsklaverei sein Bistum ganz direkt betrifft. Aber wird das über 40.000 Quadratkilometer große Marajó nicht in der europäischen Tourismusreklame immer als tropisches Inselparadies gerühmt und gerade Naturfreunden ans Herz gelegt? Bischof Azcona schaut genauer hin:“Man bedroht mich mit Mord, weil ich die sexuelle Ausbeutung von Kindern ebenso anklage wie den Frauenexport von Marajó nach Europa, zur Zwangsprostitution – und weil ich Politiker und Unternehmer als die Täter und Hintermänner nenne!“
Azconas Bistum Marajó liegt im riesigen nordbrasilianischen Teilstaat Pará von der mehrfachen Größe Deutschlands – laut UNO suchen die Menschenhändler vor allem in armen, verelendeten Dörfern des Hinterlands nach neuen Opfern. „Das ist hier wie Niemandsland“, beklagt Azcona, „der Staat ist nicht präsent, illegale Waffenhändler und die Drogenmafia haben ebenfalls freie Hand.“ Immer wieder bekommt er zu hören, das in den Menschenhandel verwickelte Rauschgiftbusiness sei gut und positiv, weil es den ärmsten Familien doch wenigstens etwas zu essen sowie Arzneimittel garantiere. „Daran sieht man, daß dieser Krieg hier schwieriger zu gewinnen sein wird als im kolumbianischen Medellin oder in Rio de Janeiro. Unsere Gesellschaft ist krank – die Mentalität der Menschen muß sich ändern.“
Was Azconas Gegner besonders aufbringt: Der Bischof klagt nicht nur an, sondern hat bereits zahlreiche polizeiliche Ermittlungen sowie einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß bewirkt, der sich viele konkrete Vorschläge gegen den Menschenhandel anhören mußte. Denn Zwangsprostitution – ob in Brasilien oder in Europa – beginnt fast immer nach dem gleichen Schema, wie auch kirchliche Sozialarbeiterinnen und Anwältinnen analysieren: Opfer des Frauenhandels entstammen zumeist dem Heer völlig zerrütteter, verwahrloster Unterschichtfamilien, in denen funktionelle Analphabeten dominieren. Destrukturierte Familien sind unfähig, den Mädchen eine Werte-Orientierung zu geben – schlimmer noch, stimulieren, zwingen sie nur zu oft zur Prostitution, um davon zu profitieren. Daß sich Mädchen an die Straße stellen und sich Autofahrern feilbieten, gilt vielerorts bereits als normale, ganz „banale“ Beschäftigung, wird von den Familien legitimiert. Wer Mädchen, jungen Frauen aus diesem Umfeld gar die Flucht aus der Misere, einen „Traum“-Flug in Länder der Ersten Welt verspricht, hat daher gewöhnlich leichtes Spiel.
Selbst in den armseligsten Hütten der von Lepra, Tuberkulose und Malaria heimgesuchten Dörfer von Pará steht gewöhnlich ein Fernseher – allabendlich hocken dort die halbnackten Kinder auf dem Lehmboden und verfolgen bewundernd jene TV-Serien mit den vielen schicken, aufgepeppten Edelhuren, die in tolle Sportwagen einsteigen, Villen der Reichen frequentieren. Monique Laroche, Leiterin der bischöflichen Pastoral für marginalisierte Frauen, weiß genau, wie das auf Heranwachsende wirkt: „Sogar im Fernsehen wird es so dargestellt, als sei Prostitution ein lukrativer Beruf der Zukunft, mit Glamour und Kick. Gerade Mädchen der Unterschicht mit sehr niedriger Bildung denken dann, wenn Prostitution weder negativ noch problematisch ist, gehe ich eben auf den Strich. Doch dann sitzen sie regelrecht in der Falle, da Prostitution die körperliche und geistige Gesundheit der Frauen gravierend zerstört.“ Huren, so beobachtet Monique Laroche, „werden gewöhnlich von einer Zuhältermafia oder brutalen Verbrecherkommandos beherrscht, erleiden viel Gewalt, sind häufig tief psychisch gestört und drogenabhängig, halten sich dann für den Müll, den Abschaum der Stadt.“
Dies gilt haargenau auch für die Sex-Sklavinnen Europas, wie der UNO-Bericht hervorhebt. Aus Spanien ist bekannt, daß Brasilianerinnen von Zuhälter zu Zuhälter verkauft werden. Vielen sei vor dem Abflug aus dem Tropenland durchaus klar, für welches Gewerbe man sie ausgesucht habe, ahnten indessen nichts von den grauenhaften Arbeitsbedingungen, sagen dortige Sozialwissenschaftler. „Diese Brasilianerinnen wechseln von einem Bordell ins andere durch ganz Spanien, verlieren schließlich den Begriff von Geographie und Zeit. Viele werden zum Drogenkonsum überredet – wissen aber nicht, daß sie süchtig sind – so unglaublich das klingt. Pro Nacht schläft jede mit acht Kunden, erhält jeweils etwa 50 Euro, bekommt indessen schwerlich davon wenigstens einen Teil – alles geht an die Mafia!“ Die UNO schätzt, daß alle zwei Jahre die Sex-Sklavinnen durch neue ersetzt werden. In Brasilien kennt fast jedermann Fälle, in denen junge Frauen der Unterschicht sich zunächst allein in Europa verdingen und später sämtliche vier bis fünf Schwestern nachholen. In den Prostitutionsstraßen von Genf sei brasilianisches Portugiesisch inzwischen die meistgesprochene Sprache. Auf der Ferieninsel Mallorca sind ebenfalls die meisten Prostituierten aus dem Tropenland. In London beklagen Brasilianerinnen, immer nur „Fette, Häßliche und Stinkende“ als Kunden zu haben.
Bischof Azcona von Marajó wird keineswegs als einziger Geistlicher Brasiliens wegen des Kampfes gegen Menschenhandel verfolgt – allein im Nord-Teilstaat Pará erhalten Bischof Flavio Giovenale in Abaetetuba und sein aus Österreich stammender Kollege Erwin Kräutler in Altamira sowie Dutzende von Priestern aus denselben Gründen ebenfalls Morddrohungen. Inzwischen protestieren auch Brasiliens Feministinnen immer energischer gegen Kinder- und Zwangsprostitution, sehen ihr Land im Frauenhandel sogar weltweit an der Spitze.
In Rio de Janeiro läßt sich beobachten, wie minderjährige Mädchen für umgerechnet 80 Cents ihren Körper verkaufen, das Geld dann in die zerstörerischste Droge Crack umsetzen. Yvonne Bezerra de Mello, Künstlerin, Slum-Sozialarbeiterin aus der Oberschicht Brasiliens, sagt illusionslos:”Nicht selten hausen in den Armenvierteln Rios auf nur neun Quadratmetern zehn Personen; Jungen und Mädchen sehen täglich homo-und heterosexuellen Verkehr, betrachten diesen Umstand gleichwohl als natürlich und nicht etwa unmoralisch oder Sünde. Auch der Umgang mit Rauschgift ist alltäglich. Für die Mädchen zählt zu den gängigen Erfahrungen, mit acht, neun oder zehn vergewaltigt zu werden. Viele träumen davon, daß 16-bis 17-jährige Banditen sie zur Frau erwählen. Im Alter von 14 Jahren sind viele schon Mütter. Die Zahl der Babies, die mit Schädigungen bzw. mit Aids zur Welt gebracht werden, ist enorm.“
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