von Eckhard Mieder
Zu Pfingsten war ich zum Wandern im Südschwarzwald und kam auf meinem Weg nach St. Blasien. Es war ein Sonntag, mir fielen die vielen jungen Männer auf, die teils in Grüppchen, teils in Begleitung ihrer Eltern das Stadtbild beherrschten. Viele von ihnen in Anzügen mit Einstecktüchern, gutes Tuch, wo sie als Grüppchen standen, hielten einige Bierdosen in den Händen. Vielleicht waren es auch Sektdosen. Ich schaute mir den Dom an und ließ mich vom Weiß des Innern blenden. Sogar die Beichtstühle glänzten in weißem Lack. Und als ich den Dom wieder verließ, lief mir eine schwarzhäutige Nonne in grüner Tunika über den Weg. Ein Farbtupfer, der mich, recht grundlos freilich, irritierte. Ich hatte gelesen, dass der Dom die drittgrößte Kuppelkirche Europas sei und dass etwa 300 Zöglinge, die das angeschlossene Kolleg besuchten, in einem Jungs- und in einem Mädcheninternat untergebracht sind. Als ich mich nach links hielt und mir ein nächstes Mal ein wohlerzogener und feiertäglich gekleideter Familienverband begegnete, ging mir ein Licht auf. Wochenende, Pfingsten, natürlich. Die Zöglinge hatten Ausgang, zudem hatten die Ältesten unter ihnen soeben das Abitur hinter sich gebracht, es gab Grund zum Flanieren, zum standesgemäßen Auftritt .
Ich überquerte auf einer Brücke die Alb, die flach und mäßig rasch den Ort durchfließt, als ein Gegenstand im Wasser meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich blieb stehen und schaute genauer hin, es lag, kein Zweifel möglich, eine dunkelbraune, halbnackte Holzfigur zur einen Hälfte unter der Brücke, zur anderen Hälfte geklemmt zwischen den Kieseln am Fuße des gemauerten Ufers. Die Figur war schlank, hatte kleine, wohlgeformte Brüste, die Arme fehlten und von der Hüfte abwärts trug sie einen Rock, dessen Falten anmutig die Beine ahnen ließen. Ein Torso, der nur einen Fehler hatte: Er gehörte nicht ins Wasser. Von sich aus war die Schöne gewiss nicht baden gegangen, es sei denn, es geschähen in St. Blasien Zeichen und Wunder. Ich fotografierte das Geschöpf und sah mich um. Es schien, als sei ich der Einzige, der die Unregelmäßigkeit bemerkt hatte. Ich ging am Geländer oberhalb der Alb entlang – und stieß auf anderthalb Füße, die oberhalb der Knöchel fasrig endeten. Was sie einst hielten, war verschwunden, abgebrochen, es brauchte wenig Scharfsinn und keine Phantasie, sich die Dame aus dem Wasser auf diesem Sockel vorzustellen. Ein Schildchen verriet, dass es sich bei ihr um die „Venus MCMXCVIII“ und um das Kunstwerk eines litauischen Bildhauers namens Jonas Genevicius handelte. Er hatte die junge Anzüglichkeit 1998 – sic! die römischen Zahlen! – in Holz geschnitzt und der Stadt gestiftet. Ich fragte ein älteres Pärchen, das auf der Bank neben dem verlassenen Sockel saß, ob sie sich erklären könnten, wie die Venus in die Alb gelangt sei. Welche Venus? Entgeistert sahen sie ins Wasser, und der Mann tat, was ich getan hatte: Er fotografierte das wässernde Weib. Sie seien nicht von hier, sagte die Frau freundlich, das mit der Statue sei ja seltsam und geradezu unheimlich, oder?
Nun, ich wanderte weiter, hatte noch einige Tage, den Südschwarzwald kannte ich noch nicht, kam drei Tage später wieder durch St. Blasien und – fand meine Venus wieder. Sie war ans andere Ufer gelangt und lag jetzt unterhalb der geschlossenen Veranda des Dom-Hotels. Die Alb hatte sie ein paar Meter bewegt, rätselhafter Weise gegen den Lauf des Wassers. Ich machte mir Sorgen um die Schönheit. Sie würde im Wasser aufweichen, eines Tages die Figur der Cindy von Marzahn haben und nicht mehr schlank und rank wie ein lichter, sich gesund ernährender Internatszögling sein. Ich betrat „Link’s Laden“, kaufte mir eine Zeitung und sagte nebenher, dass ich schon von mancherlei Sitte in deutschen Landen gehört habe, das Wässern von Holzstatuen gehörte bisher nicht dazu. Die Frau hinterm Ladentisch, eine Dame im gepflegten Alter und womöglich Frau Link, sagte, dass es immer solchen Schabernack gebe. Jedes Jahr, wenn die Abiturfeiern des Kollegs seien, Dumme-Jungens-Streiche eben. Da fliegen so manche Dinge in die Alb, nun, sie wolle nichts gesagt haben. Aber eine Venus, sagte ich, sei keine leere Bierdose und auch kein gebrauchtes Kondom. Die Frau sah mich an und hatte mich durchschaut als jenen Fremden, der Unruhe bringt. Möglicherweise haben halbnackte Frauen keinen leichten Stand in der Öffentlichkeit, und wenn sie dreist aus Holz sind.
Es sind nur ein paar Schritte bis zum Rathaus. Zum Haupteingang geht es durch ein Tor, plötzlich steht man im Karree, das von der Klosteranlage gebildet wird und dessen weitflächiger Innenraum eine gepflegte Parkanlage ist. Das Rathaus gehört zum Gebäudeensemble. Die Bürgermeisterin sei nicht da, aber ich könne trotzdem mit jemandem sprechen, die Tür zum Büro stand ohnehin offen. Die Frau mit der blonden Betonfrisur saß am Ende eines langen Tisches, hinter ihr das Fenster in den sonnigen Maientag, gab mir den Bescheid, dass man von der Venus im Wasser wisse. Allerdings habe der verantwortliche Vorarbeiter (ich verstand Vorarbeiter, wahrscheinlich war es jener Mann, der für das öffentliche Stadtbild verantwortlich ist) –, also der habe am Wochenende einen Verkehrsunfall gehabt und habe sich noch nicht kümmern können. Auch seien die Jungs von der Feuerwehr informiert, es sei aber noch nicht zu einem Einsatz gekommen. Sie beugte sich wieder über das Papier. Ich hatte sie gestört.
Die Frage, wer denn möglicherweise eine nicht ganz leichte, überlebensgroße Holzfigur vom Sockel brechen und in die Alb expedieren könnte, beantwortet mir die Frau im Eckladen, in dem Antikes verkauft wird, beinahe. Ich hatte vier Gläser gekauft und ihr Zutrauen, ein bisschen. Sie legte mir einen kleinen Schlüsselanhänger dazu. Einen Mönch, namens Reginbert, Gründer des Benedektiner-Klosters von St. Blasien. Ich stellte mir vor, der kleine Stoffkerl schwömme in der Alb, es würde ihn binnen Sekunden aus der Stadt getrieben haben. Nachbarn, erzählte die Ladenbetreiberin mit feinem Lächeln, hätten in der Nacht vom Freitag zum Samstag ziemlichen Lärm gehört. Am Samstag dann habe die Venus im Wasser gelegen. Nun, erwiderte ich mit ebenso feinem Lächeln, nun, da wisse man schon, wer … Natürlich wisse man das, wieder ihr Lächeln, aber dies hier ist St. Blasien, und auch wenn Sie, teurer Fremder, Gläser kaufen, kaufen Sie noch nicht mein Wissen.
Ich hätte die „Venus 1998“ bergen und in meinen Garten stellen sollen. Vielleicht wäre ich, kaum im Wasser der Alb, verhaftet worden. Oder sie hätten sich am Ufer versammelt, die St. Blasiener, hätten applaudiert und uns ziehen lassen in eine sündige Welt.
P. S.: Die „Badische Zeitung“ berichtete, dass während der drei turbulenten Pfingsttage, die Schülerinnen und Schüler die Chance hatten, „Eltern und Besuchern zu zeigen, was sie sich an Können und Kompetenzen erworben haben, wobei der künstlerische Bereich eine hervorragende Rolle spielt“. Das Stabpuppentheater spielte die „Rote Zora“, „wie immer gab es auch einige lokale Bezüge“. Etwa war die Rede von einem Thunhaifischbückler, der vor vielen Jahren im Schluchsee gefangen wurde. Sachen gibt’s im Südschwarzwald.
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